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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
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Vorwort an Richard Wagner.
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1.
Wir werden viel
für
die
aesthetische
Wissenschaft
gewonnen
haben, wenn wir nicht nur zur
logischen
Einsicht
,
sondern
zur
unmittelbaren
Sicherheit
der
Anschauung
gekommen
sind,
dass
die
Fortentwickelung
der
Kunst
an die
Duplicität
des
Apollinischen
und des
Dionysischen
gebunden
ist: in
ähnlicher
Weise
, wie die
Generation
von der
Zweiheit
der
Geschlechter
, bei
fortwährendem
Kampfe
und nur
periodisch
eintretender
Versöhnung
,
abhängt
. Diese
Namen
entlehnen
wir von den
Griechen
,
welche
die
tiefsinnigen
Geheimlehren
ihrer
Kunstanschauung
zwar nicht in
Begriffen
, aber in den
eindringlich
deutlichen
Gestalten
ihrer
Götterwelt
dem
Einsichtigen
vernehmbar
machen
. An ihre
beiden
Kunstgottheiten
,
Apollo
und
Dionysus
,
knüpft
sich
unsere
Erkenntniss
,
dass
in der
griechischen
Welt
ein
ungeheurer
Gegensatz
, nach
Ursprung
und
Zielen
, zwischen der
Kunst
des
Bildners
, der
apollinischen
, und der
unbildlichen
Kunst
der
Musik
, als der des
Dionysus
,
besteht
:
beide
so
verschiedne
Triebe
gehen
neben
einander
her,
zumeist
im
offnen
Zwiespalt
mit
einander
und sich
gegenseitig
zu immer
neuen
kräftigeren
Geburten
reizend
, um in ihnen den
Kampf
jenes
Gegensatzes
zu
perpetuiren
, den das
gemeinsame
Wort
"
Kunst
" nur
scheinbar
überbrückt
; bis sie
endlich
, durch einen
metaphysischen
Wunderakt
des
hellenischen
"
Willens
", mit
einander
gepaart
erscheinen
und in dieser
Paarung
zuletzt
das
ebenso
dionysische
als
apollinische
Kunstwerk
der
attischen
Tragödie
erzeugen
.
Um uns
jene
beiden
Triebe
näher
zu
bringen
,
denken
wir sie uns
zunächst
als die
getrennten
Kunstwelten
des
Traumes
und des
Rausches
; zwischen
welchen
physiologischen
Erscheinungen
ein
entsprechender
Gegensatz
, wie zwischen dem
Apollinischen
und dem
Dionysischen
zu
bemerken
ist. Im
Traume
traten
zuerst
, nach der
Vorstellung
des
Lucretius
, die
herrlichen
Göttergestalten
vor
die
Seelen
der
Menschen
, im
Traume
sah
der
grosse
Bildner
den
entzückenden
Gliederbau
übermenschlicher
Wesen
, und der
hellenische
Dichter
, um die
Geheimnisse
der
poetischen
Zeugung
befragt
,
würde
ebenfalls
an den
Traum
erinnert
und eine
ähnliche
Belehrung
gegeben
haben, wie sie
Hans
Sachs
in den
Meistersingern
giebt
:
Mein
Freund
, das
grad
' ist
Dichters
Werk
,
dass
er
sein
Träumen
deut
' und
merk
'.
Glaubt
mir, des
Menschen
wahrster
Wahn
wird
ihm
im
Traume
aufgethan
:
all'
Dichtkunst
und
Poëterei
ist nichts als
Wahrtraum-Deuterei
.
Der
schöne
Schein
der
Traumwelten
, in deren
Erzeugung
jeder
Mensch
voller
Künstler
ist, ist die
Voraussetzung
aller
bildenden
Kunst
, ja auch, wie wir
sehen
werden, einer
wichtigen
Hälfte
der
Poesie
. Wir
geniessen
im
unmittelbaren
Verständnisse
der
Gestalt
, alle
Formen
sprechen
zu uns, es
giebt
nichts
Gleichgültiges
und
Unnöthiges
. Bei dem
höchsten
Leben
dieser
Traumwirklichkeit
haben wir doch noch die
durchschimmernde
Empfindung
ihres
Scheins
:
wenigstens
ist dies meine
Erfahrung
,
für
deren
Häufigkeit
, ja
Normalität
, ich
manches
Zeugniss
und die
Aussprüche
der
Dichter
beizubringen
hätte. Der
philosophische
Mensch
hat sogar das
Vorgefühl
,
dass
auch unter dieser
Wirklichkeit
, in der wir
leben
und sind, eine
zweite
ganz
andre
verborgen
liege
,
dass
also auch sie ein
Schein
sei
; und
Schopenhauer
bezeichnet
geradezu
die
Gabe
,
dass
Einem zu
Zeiten
die
Menschen
und alle
Dinge
als
blosse
Phantome
oder
Traumbilder
vorkommen
, als das
Kennzeichen
philosophischer
Befähigung
. Wie nun der
Philosoph
zur
Wirklichkeit
des
Daseins
, so
verhält
sich der
künstlerisch
erregbare
Mensch
zur
Wirklichkeit
des
Traumes
; er
sieht
genau
und
gern
zu:
denn
aus diesen
Bildern
deutet
er sich das
Leben
, an diesen
Vorgängen
übt
er sich
für
das
Leben
. Nicht etwa nur die
angenehmen
und
freundlichen
Bilder
sind es, die er mit
jener
Allverständigkeit
an sich
erfährt
: auch das
Ernste
,
Trübe
,
Traurige
,
Finstere
, die
plötzlichen
Hemmungen
, die
Neckereien
des
Zufalls
, die
bänglichen
Erwartungen
,
kurz
die
ganze
"
göttliche
Komödie
" des
Lebens
, mit dem
Inferno
,
zieht
an
ihm
vorbei
, nicht nur wie ein
Schattenspiel
-
denn
er
lebt
und
leidet
mit in diesen
Scenen
- und doch auch nicht ohne
jene
flüchtige
Empfindung
des
Scheins
; und vielleicht
erinnert
sich
Mancher
,
gleich
mir, in den
Gefährlichkeiten
und
Schrecken
des
Traumes
sich
mitunter
ermuthigend
und mit
Erfolg
zugerufen
zu haben: "Es ist ein
Traum
! Ich will
ihn
weiter
träumen
!" Wie man mir auch von
Personen
erzählt
hat, die die
Causalität
eines und
desselben
Traumes
über drei und mehr
aufeinanderfolgende
Nächte
hin
fortzusetzen
im
Stande
waren
:
Thatsachen
,
welche
deutlich
Zeugniss
dafür
abgeben
,
dass
unser
innerstes
Wesen
, der
gemeinsame
Untergrund
von uns
allen
, mit
tiefer
Lust
und
freudiger
Nothwendigkeit
den
Traum
an sich
erfährt
.
Diese
freudige
Nothwendigkeit
der
Traumerfahrung
ist
gleichfalls
von den
Griechen
in ihrem
Apollo
ausgedrückt
worden
:
Apollo
, als der
Gott
aller
bildnerischen
Kräfte
, ist
zugleich
der
wahrsagende
Gott
. Er, der seiner
Wurzel
nach der "
Scheinende
", die
Lichtgottheit
ist,
beherrscht
auch den
schönen
Schein
der
inneren
Phantasie-Welt
. Die
höhere
Wahrheit
, die
Vollkommenheit
dieser
Zustände
im
Gegensatz
zu der
lückenhaft
verständlichen
Tageswirklichkeit
,
sodann
das
tiefe
Bewusstsein
von der in
Schlaf
und
Traum
heilenden
und
helfenden
Natur
ist
zugleich
das
symbolische
Analogon
der
wahrsagenden
Fähigkeit
und
überhaupt
der
Künste
, durch die das
Leben
möglich
und
lebenswerth
gemacht
wird. Aber auch
jene
zarte
Linie
, die das
Traumbild
nicht
überschreiten
darf
, um nicht
pathologisch
zu
wirken
,
widrigenfalls
der
Schein
als
plumpe
Wirklichkeit
uns
betrügen
würde
-
darf
nicht im
Bilde
des
Apollo
fehlen
:
jene
maassvolle
Begrenzung
,
jene
Freiheit
von den
wilderen
Regungen
,
jene
weisheitsvolle
Ruhe
des
Bildnergottes
.
Sein
Auge
muss
"
sonnenhaft
",
gemäss
seinem
Ursprunge
,
sein
; auch wenn es
zürnt
und
unmuthig
blickt
,
liegt
die
Weihe
des
schönen
Scheines
auf
ihm
. Und so
möchte
von
Apollo
in einem
excentrischen
Sinne
das
gelten
, was
Schopenhauer
von dem im
Schleier
der
Maja
befangenen
Menschen
sagt
.
Welt
als
Wille
und
Vorstellung
I
,
S
.
416
"Wie auf dem
tobenden
Meere
, das, nach
allen
Seiten
unbegränzt
,
heulend
Wellenberge
erhebt
und
senkt
, auf einem
Kahn
ein
Schiffer
sitzt
, dem
schwachen
Fahrzeug
vertrauend
; so
sitzt
,
mitten
in einer
Welt
von
Qualen
,
ruhig
der
einzelne
Mensch
,
gestützt
und
vertrauend
auf das
principium
individuationis
". Ja es
wäre
von
Apollo
zu
sagen
,
dass
in
ihm
das
unerschütterte
Vertrauen
auf
jenes
principium
und das
ruhige
Dasitzen
des in
ihm
Befangenen
seinen
erhabensten
Ausdruck
bekommen
habe, und man
möchte
selbst
Apollo
als das
herrliche
Götterbild
des
principii
individuationis
bezeichnen
, aus dessen
Gebärden
und
Blicken
die
ganze
Lust
und
Weisheit
des "
Scheines
",
sammt
seiner
Schönheit
, zu uns
spräche
.
An
derselben
Stelle
hat uns
Schopenhauer
das
ungeheure
Grausen
geschildert
,
welches
den
Menschen
ergreift
, wenn er
plötzlich
an den
Erkenntnissformen
der
Erscheinung
irre
wird,
indem
der
Satz
vom
Grunde
, in
irgend
einer seiner
Gestaltungen
, eine
Ausnahme
zu
erleiden
scheint
. Wenn wir zu diesem
Grausen
die
wonnevolle
Verzückung
hinzunehmen
, die bei demselben
Zerbrechen
des
principii
individuationis
aus dem
innersten
Grunde
des
Menschen
, ja der
Natur
emporsteigt
, so
thun
wir einen
Blick
in das
Wesen
des
Dionysischen
, das uns am
nächsten
noch durch die
Analogie
des
Rausches
gebracht
wird. Entweder durch den
Einfluss
des
narkotischen
Getränkes
, von dem alle
ursprünglichen
Menschen
und
Völker
in
Hymnen
sprechen
, oder bei dem
gewaltigen
, die
ganze
Natur
lustvoll
durchdringenden
Nahen
des
Frühlings
erwachen
jene
dionysischen
Regungen
, in deren
Steigerung
das
Subjective
zu
völliger
Selbstvergessenheit
hinschwindet
. Auch im
deutschen
Mittelalter
wälzten
sich unter der
gleichen
dionysischen
Gewalt
immer
wachsende
Schaaren
,
singend
und
tanzend
, von
Ort
zu
Ort
: in diesen
Sanct-Johann-
und
Sanct-Veittänzern
erkennen
wir die
bacchischen
Chöre
der
Griechen
wieder, mit ihrer
Vorgeschichte
in
Kleinasien
, bis hin zu
Babylon
und den
orgiastischen
Sakäen
. Es
giebt
Menschen
, die, aus
Mangel
an
Erfahrung
oder aus
Stumpfsinn
, sich von
solchen
Erscheinungen
wie von "
Volkskrankheiten
",
spöttisch
oder
bedauernd
im
Gefühl
der
eigenen
Gesundheit
abwenden
: die
Armen
ahnen
freilich
nicht, wie
leichenfarbig
und
gespenstisch
eben
diese ihre "
Gesundheit
" sich
ausnimmt
, wenn an ihnen das
glühende
Leben
dionysischer
Schwärmer
vorüberbraust
.
Unter dem
Zauber
des
Dionysischen
schließt
sich nicht nur der
Bund
zwischen
Mensch
und
Mensch
wieder
zusammen
: auch die
entfremdete
,
feindliche
oder
unterjochte
Natur
feiert
wieder ihr
Versöhnungsfest
mit ihrem
verlorenen
Sohne
, dem
Menschen
.
Freiwillig
beut
die
Erde
ihre
Gaben
, und
friedfertig
nahen
die
Raubthiere
der
Felsen
und der
Wüste
. Mit
Blumen
und
Kränzen
ist der
Wagen
des
Dionysus
überschüttet
: unter seinem
Joche
schreiten
Panther
und
Tiger
. Man
verwandele
das
Beethoven
'
sche
Jubellied
der "
Freude
" in ein
Gemälde
und
bleibe
mit seiner
Einbildungskraft
nicht
zurück
, wenn die
Millionen
schauervoll
in den
Staub
sinken
: so kann man sich dem
Dionysischen
nähern
. Jetzt ist der
Sclave
freier
Mann, jetzt
zerbrechen
alle die
starren
,
feindseligen
Abgrenzungen
, die
Noth
,
Willkür
oder "
freche
Mode
" zwischen den
Menschen
festgesetzt
haben. Jetzt, bei dem
Evangelium
der
Weltenharmonie
,
fühlt
sich Jeder mit seinem
Nächsten
nicht nur
vereinigt
,
versöhnt
,
verschmolzen
,
sondern
eins, als ob der
Schleier
der
Maja
zerrissen
wäre
und nur noch in
Fetzen
vor
dem
geheimnissvollen
Ur-Einen
herumflattere
.
Singend
und
tanzend
äussert
sich der
Mensch
als
Mitglied
einer
höheren
Gemeinsamkeit
: er hat das
Gehen
und das
Sprechen
verlernt
und ist auf dem
Wege
,
tanzend
in die
Lüfte
emporzufliegen
. Aus seinen
Gebärden
spricht
die
Verzauberung
. Wie jetzt die
Thiere
reden
, und die
Erde
Milch
und
Honig
giebt
, so
tönt
auch aus
ihm
etwas
Uebernatürliches
: als
Gott
fühlt
er sich, er selbst
wandelt
jetzt so
verzückt
und
erhoben
, wie er die
Götter
im
Traume
wandeln
sah
. Der
Mensch
ist nicht mehr
Künstler
, er ist
Kunstwerk
geworden
: die
Kunstgewalt
der
ganzen
Natur
, zur
höchsten
Wonnebefriedigung
des
Ur-Einen
,
offenbart
sich hier unter den
Schauern
des
Rausches
. Der
edelste
Thon
, der
kostbarste
Marmor
wird hier
geknetet
und
behauen
, der
Mensch
, und zu den
Meisselschlägen
des
dionysischen
Weltenkünstlers
tönt
der
eleusinische
Mysterienruf
: "Ihr
stürzt
nieder,
Millionen
?
Ahnest
du den
Schöpfer
,
Welt
?" -
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