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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
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Vorwort an Richard Wagner.
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3.
Um dies zu
begreifen
,
müssen
wir
jenes
kunstvolle
Gebäude
der
apollinischen
Cultur
gleichsam
Stein
um
Stein
abtragen
, bis wir die
Fundamente
erblicken
, auf die es
begründet
ist. Hier
gewahren
wir nun
zuerst
die
herrlichen
olympischen
Göttergestalten
, die auf den
Giebeln
dieses
Gebäudes
stehen
, und deren
Thaten
in
weithin
leuchtenden
Reliefs
dargestellt
seine
Friese
zieren
. Wenn unter ihnen auch
Apollo
steht
, als eine
einzelne
Gottheit
neben
anderen
und ohne den
Anspruch
einer
ersten
Stellung
, so
dürfen
wir uns
dadurch
nicht
beirren
lassen
.
Derselbe
Trieb
, der sich in
Apollo
versinnlichte
, hat
überhaupt
jene
ganze
olympische
Welt
geboren
, und in diesem
Sinne
darf
uns
Apollo
als
Vater
derselben
gelten
.
Welches
war das
ungeheure
Bedürfniss
, aus dem eine so
leuchtende
Gesellschaft
olympischer
Wesen
entsprang
?
Wer, mit einer
anderen
Religion
im
Herzen
, an diese
Olympier
herantritt
und nun nach
sittlicher
Höhe
, ja
Heiligkeit
, nach
unleiblicher
Vergeistigung
, nach
erbarmungsvollen
Liebesblicken
bei ihnen
sucht
, der wird
unmuthig
und
enttäuscht
ihnen
bald
den
Rücken
kehren
müssen
. Hier
erinnert
nichts an
Askese
,
Geistigkeit
und
Pflicht
: hier
redet
nur ein
üppiges
, ja
triumphirendes
Dasein
zu uns, in dem alles
Vorhandene
vergöttlicht
ist,
gleichviel
ob es
gut
oder
böse
ist. Und so
mag
der
Beschauer
recht
betroffen
vor
diesem
phantastischen
Ueberschwang
des
Lebens
stehn
, um sich zu
fragen
, mit
welchem
Zaubertrank
im
Leibe
diese
übermüthigen
Menschen
das
Leben
genossen
haben
mögen
,
dass
,
wohin
sie
sehen
,
Helena
, das "in
süsser
Sinnlichkeit
schwebende
"
Idealbild
ihrer
eignen
Existenz
, ihnen
entgegenlacht
. Diesem
bereits
rückwärts
gewandten
Beschauer
müssen
wir aber
zurufen
: "Geh' nicht von
dannen
,
sondern
höre
erst
, was die
griechische
Volksweisheit
von diesem selben
Leben
aussagt
, das sich hier mit so
unerklärlicher
Heiterkeit
vor
dir
ausbreitet
. Es
geht
die
alte
Sage
,
dass
König
Midas
lange
Zeit
nach dem
weisen
Silen
, dem
Begleiter
des
Dionysus
, im
Walde
gejagt
habe, ohne
ihn
zu
fangen
. Als er
ihm
endlich
in die
Hände
gefallen
ist,
fragt
der
König
, was
für
den
Menschen
das
Allerbeste
und
Allervorzüglichste
sei
.
Starr
und
unbeweglich
schweigt
der
Dämon
; bis er, durch den
König
gezwungen
,
endlich
unter
gellem
Lachen
in diese
Worte
ausbricht
: "
Elendes
Eintagsgeschlecht
, des
Zufalls
Kinder
und der
Mühsal
, was
zwingst
du mich dir zu
sagen
, was nicht zu
hören
für
dich das
Erspriesslichste
ist? Das
Allerbeste
ist
für
dich
gänzlich
unerreichbar
: nicht
geboren
zu
sein
, nicht zu
sein
, nichts zu
sein
. Das
Zweitbeste
aber ist
für
dich -
bald
zu
sterben
".
Wie
verhält
sich zu dieser
Volksweisheit
die
olympische
Götterwelt
? Wie die
entzückungsreiche
Vision
des
gefolterten
Märtyrers
zu seinen
Peinigungen
.
Jetzt
öffnet
sich uns
gleichsam
der
olympische
Zauberberg
und
zeigt
uns seine
Wurzeln
. Der
Grieche
kannte
und
empfand
die
Schrecken
und
Entsetzlichkeiten
des
Daseins
: um
überhaupt
leben
zu
können
,
musste
er
vor
sie hin die
glänzende
Traumgeburt
der
Olympischen
stellen
.
Jenes
ungeheure
Misstrauen
gegen die
titanischen
Mächte
der
Natur
,
jene
über
allen
Erkenntnissen
erbarmungslos
thronende
Moira
jener
Geier
des
grossen
Menschenfreundes
Prometheus
,
jenes
Schreckensloos
des
weisen
Oedipus
,
jener
Geschlechtsfluch
der
Atriden
, der
Orest
zum
Muttermorde
zwingt
,
kurz
jene
ganze
Philosophie
des
Waldgottes
,
sammt
ihren
mythischen
Exempeln
, an der die
schwermüthigen
Etrurier
zu
Grunde
gegangen
sind -
wurde
von den
Griechen
durch
jene
künstlerische
Mittelwelt
der
Olympier
fortwährend
von
Neuem
überwunden
,
jedenfalls
verhüllt
und dem
Anblick
entzogen
. Um
leben
zu
können
,
mussten
die
Griechen
diese
Götter
, aus
tiefster
Nöthigung
,
schaffen
:
welchen
Hergang
wir uns
wohl
so
vorzustellen
haben,
dass
aus der
ursprünglichen
titanischen
Götterordnung
des
Schreckens
durch
jenen
apollinischen
Schönheitstrieb
in
langsamen
Uebergängen
die
olympische
Götterordnung
der
Freude
entwickelt
wurde
: wie
Rosen
aus
dornigem
Gebüsch
hervorbrechen
. Wie anders hätte
jenes
so
reizbar
empfindende
, so
ungestüm
begehrende
, zum
Leiden
so
einzig
befähigte
Volk
das
Dasein
ertragen
können
, wenn
ihm
nicht
dasselbe
, von einer
höheren
Glorie
umflossen
, in seinen
Göttern
gezeigt
worden
wäre
.
Derselbe
Trieb
, der die
Kunst
in'
s
Leben
ruft
, als die zum
Weiterleben
verführende
Ergänzung
und
Vollendung
des
Daseins
,
liess
auch die
olympische
Welt
entstehn
, in der sich der
hellenische
"
Wille
" einen
verklärenden
Spiegel
vorhielt
. So
rechtfertigen
die
Götter
das
Menschenleben
,
indem
sie es selbst
leben
- die allein
genügende
Theodicee
! Das
Dasein
unter dem
hellen
Sonnenscheine
solcher
Götter
wird als das an sich
Erstrebenswerthe
empfunden
, und der
eigentliche
Schmerz
der
homerischen
Menschen
bezieht
sich auf das
Abscheiden
aus
ihm
,
vor
allem auf das
baldige
Abscheiden
: so
dass
man jetzt von ihnen, mit
Umkehrung
der
silenischen
Weisheit
,
sagen
könnte
, "das
Allerschlimmste
sei
für
sie,
bald
zu
sterben
, das
Zweitschlimmste
,
überhaupt
einmal
zu
sterben
". Wenn die
Klage
einmal
ertönt
, so
klingt
sie wieder vom
kurzlebenden
Achilles
, von dem
blättergleichen
Wechsel
und
Wandel
des
Menschengeschlechts
, von dem
Untergang
der
Heroenzeit
. Es ist des
grössten
Helden
nicht
unwürdig
, sich nach dem
Weiterleben
zu
sehnen
,
sei
es selbst als
Tagelöhner
. So
ungestüm
verlangt
, auf der
apollinischen
Stufe
, der "
Wille
" nach diesem
Dasein
, so eins
fühlt
sich der
homerische
Mensch
mit
ihm
,
dass
selbst die
Klage
zu seinem
Preisliede
wird.
Hier
muss
nun
ausgesprochen
werden,
dass
diese von den
neueren
Menschen
so
sehnsüchtig
angeschaute
Harmonie
, ja
Einheit
des
Menschen
mit der
Natur
,
für
die
Schiller
das
Kunstwort
"
naiv
" in
Geltung
gebracht
hat,
keinesfalls
ein so
einfacher
, sich von selbst
ergebender
,
gleichsam
unvermeidlicher
Zustand
ist, dem wir an der
Pforte
jeder
Cultur
, als einem
Paradies
der
Menschheit
begegnen
müssten
: dies konnte nur eine
Zeit
glauben
, die den
Emil
Rousseau
'
s
sich auch als
Künstler
zu
denken
suchte
und in
Homer
einen
solchen
am
Herzen
der
Natur
erzogenen
Künstler
Emil
gefunden
zu haben
wähnte
. Wo uns das "
Naive
" in der
Kunst
begegnet
, haben wir die
höchste
Wirkung
der
apollinischen
Cultur
zu
erkennen
:
welche
immer
erst
ein
Titanenreich
zu
stürzen
und
Ungethüme
zu
tödten
hat und durch
kräftige
Wahnvorspiegelungen
und
lustvolle
Illusionen
über eine
schreckliche
Tiefe
der
Weltbetrachtung
und
reizbarste
Leidensfähigkeit
Sieger
geworden
sein
muss
. Aber wie
selten
wird das
Naive
,
jenes
völlige
Verschlungensein
in der
Schönheit
des
Scheines
,
erreicht
! Wie
unaussprechbar
erhaben
ist deshalb
Homer
, der sich, als
Einzelner
, zu
jener
apollinischen
Volkscultur
verhält
, wie der
einzelne
Traumkünstler
zur
Traumbefähigung
des
Volks
und der
Natur
überhaupt
. Die
homerische
"
Naivetät
" ist nur als der
vollkommene
Sieg
der
apollinischen
Illusion
zu
begreifen
: es ist dies eine solche
Illusion
, wie sie die
Natur
, zur
Erreichung
ihrer
Absichten
, so
häufig
verwendet
. Das
wahre
Ziel
wird durch ein
Wahnbild
verdeckt
: nach diesem
strecken
wir die
Hände
aus, und
jenes
erreicht
die
Natur
durch unsre
Täuschung
. In den
Griechen
wollte
der "
Wille
" sich selbst, in der
Verklärung
des
Genius
und der
Kunstwelt
,
anschauen
; um sich zu
verherrlichen
,
mussten
seine
Geschöpfe
sich selbst als
verherrlichenwerth
empfinden
sie
mussten
sich in einer
höheren
Sphäre
wiedersehn
, ohne
dass
diese
vollendete
Welt
der
Anschauung
als
Imperativ
oder als
Vorwurf
wirkte
Dies ist die
Sphäre
der
Schönheit
, in der sie ihre
Spiegelbilder
, die
Olympischen
,
sahen
. Mit dieser
Schönheitsspiegelung
kämpfte
der
hellenische
"
Wille
" gegen das dem
künstlerischen
correlative
Talent
zum
Leiden
und zur
Weisheit
des
Leidens
und als
Denkmal
seines
Sieges
steht
Homer
vor
uns, der
naive
Künstler
.
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