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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
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Vorwort an Richard Wagner.
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4.
Ueber diesen
naiven
Künstler
giebt
uns die
Traumanalogie
einige
Belehrung
Wenn wir uns den
Träumenden
vergegenwärtigen
, wie er,
mitten
in der
Illusion
der
Traumwelt
und ohne sie zu
stören
, sich
zuruft
"es ist ein
Traum
, ich will
ihn
weiter
träumen
", wenn wir
hieraus
auf eine
tiefe
innere
Lust
des
Traumanschauens
zu
schliessen
haben, wenn wir
andererseits
, um
überhaupt
mit dieser
inneren
Lust
am
Schauen
träumen
zu
können
, den
Tag
und seine
schreckliche
Zudringlichkeit
völlig
vergessen
haben
müssen
so
dürfen
wir uns alle diese
Erscheinungen
etwa in
folgender
Weise
, unter der
Leitung
des
traumdeutenden
Apollo
,
interpretiren
. So
gewiss
von den
beiden
Hälften
des
Lebens
, der
wachen
und der
träumenden
Hälfte
, uns die
erstere
als die
ungleich
bevorzugtere
,
wichtigere
,
würdigere
,
lebenswerthere
, ja allein
gelebte
dünkt
so
möchte
ich doch, bei allem
Anscheine
einer
Paradoxie
,
für
jenen
geheimnissvollen
Grund
unseres
Wesens
, dessen
Erscheinung
wir sind,
gerade
die
entgegengesetzte
Werthschätzung
des
Traumes
behaupten
.
Je
mehr ich
nämlich
hin der
Natur
jene
allgewaltigen
Kunsttriebe
und in ihnen eine
inbrünstige
Sehnsucht
zum
Schein
, zum
Erlöstwerden
durch den
Schein
gewahr
werde
, um so mehr
fühle
ich mich zu der
metaphysischen
Annahme
gedrängt
,
dass
das
Wahrhaft-Seiende
und
Ur-Eine
, als das
ewig
Leidende
und
Widerspruchsvolle
,
zugleich
die
entzückende
Vision
, den
lustvollen
Schein
, zu seiner
steten
Erlösung
braucht
:
welchen
Schein
wir,
völlig
in
ihm
befangen
und aus
ihm
bestehend
, als das
Wahrhaft-Nichtseiende
d
.
h
. als ein
fortwährendes
Werden in
Zeit
,
Raum
und
Causalität
, mit
anderen
Worten
, als
empirische
Realität
zu
empfinden
genöthigt
sind.
Sehen
wir also
einmal
von
unsrer
eignen
"
Realität
"
für
einen
Augenblick
ab,
fassen
wir unser
empirisches
Dasein
, wie das der
Welt
überhaupt
, als eine in jedem
Moment
erzeugte
Vorstellung
des
Ur-Einen
, so
muss
uns jetzt der
Traum
als der
Schein
des
Scheins
,
somit
als eine noch
höhere
Befriedigung
der
Urbegierde
nach dem
Schein
hin
gelten
. Aus diesem selben
Grunde
hat der
innerste
Kern
der
Natur
jene
unbeschreibliche
Lust
an dem
naiven
Künstler
und dem
naiven
Kunstwerke
, das
gleichlfalls
nur "
Schein
des
Scheins
" ist.
Rafael
, selbst einer
jener
unsterblichen
"
Naiven
", hat uns in einem
gleichnissartigen
Gemälde
jenes
Depotenziren
des
Scheins
zum
Schein
, den
Urprozess
des
naiven
Künstlers
und
zugleich
der
apollinischen
Cultur
,
dargestellt
. In seiner
Transfiguration
zeigt
uns die
untere
Hälfte
, mit dem
besessenen
Knaben
, den
verzweifelnden
Trägern
, den
rathlos
geängstigten
Jüngern
, die
Wiederspiegelung
des
ewigen
Urschmerzes
, des
einzigen
Grundes
der
Welt
der "
Schein
" ist hier
Widerschein
des
ewigen
Widerspruchs
, des
Vaters
der
Dinge
. Aus diesem
Schein
steigt
nun, wie ein
ambrosischer
Duft
, eine
visionsgleiche
neue
Scheinwelt
empor
, von der
jene
im
ersten
Schein
Befangenen
nichts
sehen
- ein
leuchtendes
Schweben
in
reinster
Wonne
und
schmerzlosem
, aus
weiten
Augen
strahlenden
Anschauen
. Hier haben wir, in
höchster
Kunstsymbolik
,
jene
apollinische
Schönheitswelt
und ihren
Untergrund
, die
schreckliche
Weisheit
des
Silen
,
vor
unseren
Blicken
und
begreifen
, durch
Intuition
, ihre
gegenseitige
Nothwendigkeit
Apollo
aber
tritt
uns
wiederum
als die
Vergöttlichung
des
principii
individuationis
entgegen
, in dem allein das
ewig
erreichte
Ziel
des
Ur-Einen
, seine
Erlösung
durch den
Schein
, sich
vollzieht
: er
zeigt
uns, mit
erhabenen
Gebärden
, wie die
ganze
Welt
der
Qual
nöthig
ist, damit durch sie der
Einzelne
zur
Erzeugung
der
erlösenden
Vision
gedrängt
werde
und dann,
ins
Anschauen
derselben
versunken
,
ruhig
auf seinem
schwankenden
Kahne
,
inmitten
des
Meeres
,
sitze
.
Diese
Vergöttlichung
der
Individuation
kennt
, wenn sie
überhaupt
imperativisch
und
Vorschriften
gebend
gedacht
wird, nur Ein
Gesetz
, das
Individuum
d
.
h
. die
Einhaltung
der
Grenzen
des
Individuums
, das
Maass
im
hellenischen
Sinne
.
Apollo
, als
ethische
Gottheit
,
fordert
von den
Seinigen
das
Maass
und, um es
einhalten
zu
können
,
Selbsterkenntniss
. Und so
läuft
neben der
ästhetischen
Nothwendigkeit
der
Schönheit
die
Forderung
des "
Erkenne
dich selbst" und des "Nicht zu viel!" her,
während
Selbstüberhebung
und
Uebermaass
als die
eigentlich
feindseligen
Dämonen
der
nicht-apollinischen
Sphäre
, daher als
Eigenschaften
der
vor-apollinischen
Zeit
, des
Titanenzeitalters
, und der
ausser-apollinischen
Welt
d
.
h
. der
Barbarenwelt
,
erachtet
wurden
. Wegen seiner
titanenhaften
Liebe
zu den
Menschen
musste
Prometheus
von den
Geiern
zerrissen
werden, seiner
übermässigen
Weisheit
halber
, die das
Räthsel
der
Sphinx
löste
,
musste
Oedipus
in einen
verwirrenden
Strudel
von
Unthaten
stürzen
: so
interpretirte
der
delphische
Gott
die
griechische
Vergangenheit
.
"
Titanenhaft
" und "
barbarisch
"
dünkte
dem
apollinischen
Griechen
auch die
Wirkung
, die das
Dionysische
erregte
: ohne dabei sich
verhehlen
zu
können
,
dass
er selbst doch
zugleich
auch
innerlich
mit
jenen
gestürzten
Titanen
und
Heroen
verwandt
sei
. Ja er
musste
noch mehr
empfinden
:
sein
ganzes
Dasein
mit aller
Schönheit
und
Mässigung
ruhte
auf einem
verhüllten
Untergrunde
des
Leidens
und der
Erkenntniss
, der
ihm
wieder durch
jenes
Dionysische
aufgedeckt
wurde
. Und
siehe
!
Apollo
konnte nicht ohne
Dionysus
leben
! Das "
Titanische
" und das "
Barbarische
" war
zuletzt
eine
eben
solche
Nothwendigkeit
wie das
Apollinische
! Und nun
denken
wir uns, wie in diese auf den
Schein
und die
Mässigung
gebaute
und
künstlich
gedämmte
Welt
der
ekstatische
Ton
der
Dionysusfeier
in immer
lockenderen
Zauberweisen
hineinklang
, wie in diesen das
ganze
Uebermaass
der
Natur
in
Lust
,
Leid
und
Erkenntniss
, bis zum
durchdringenden
Schrei
,
laut
wurde
:
denken
wir uns, was diesem
dämonischen
Volksgesange
gegenüber
der
psalmodirende
Künstler
des
Apollo
, mit dem
gespensterhaften
Harfenklange
,
bedeuten
konnte! Die
Musen
der
Künste
des "
Scheins
"
verblassten
vor
einer
Kunst
, die in ihrem
Rausche
die
Wahrheit
sprach
, die
Weisheit
des
Silen
rief
Wehe
!
Wehe
! aus gegen die
heiteren
Olympier
. Das
Individuum
, mit
allen
seinen
Grenzen
und
Maassen
,
ging
hier in der
Selbstvergessenheit
der
dionysischen
Zustände
unter und
vergass
die
apollinischen
Satzungen
. Das
Uebermaass
enthüllte
sich als
Wahrheit
, der
Widerspruch
, die aus
Schmerzen
geborene
Wonne
sprach
von sich aus dem
Herzen
der
Natur
heraus
. Und so war,
überall
dort, wo das
Dionysische
durchdrang
, das
Apollinische
aufgehoben
und
vernichtet
. Aber
eben
so
gewiss
ist,
dass
dort, wo der
erste
Ansturm
ausgehalten
wurde
, das
Ansehen
und die
Majestät
des
delphischen
Gottes
starrer
und
drohender
als
je
sich
äusserte
. Ich
vermag
nämlich
den
dorischen
Staat
und die
dorische
Kunst
mir nur als ein
fortgesetztes
Kriegslager
des
Apollinischen
zu
erklären
: nur in einem
unausgesetzten
Widerstreben
gegen das
titanisch-barbarische
Wesen
des
Dionysischen
konnte eine so
trotzig-spröde
, mit
Bollwerken
umschlossene
Kunst
, eine so
kriegsgemässe
und
herbe
Erziehung
, ein so
grausames
und
rücksichtsloses
Staatswesen
von
längerer
Dauer
sein
.
Bis zu diesem
Punkte
ist des
Weiteren
ausgeführt
worden
, was ich am
Eingange
dieser
Abhandlung
bemerkte
: wie das
Dionysische
und das
Apollinische
in immer
neuen
auf
einander
folgenden
Geburten
, und sich
gegenseitig
steigernd
das
hellenische
Wesen
beherrscht
haben: wie aus dem "
erzenen
"
Zeitalter
, mit seinen
Titanenkämpfen
und seiner
herben
Volksphilosophie
, sich unter dem
Walten
des
apollinischen
Schönheitstriebes
die
homerische
Welt
entwickelt
, wie diese "
naive
"
Herrlichkeit
wieder von dem
einbrechenden
Strome
des
Dionysischen
verschlungen
wird, und wie dieser
neuen
Macht
gegenüber
sich das
Apollinische
zur
starren
Majestät
der
dorischen
Kunst
und
Weltbetrachtung
erhebt
. Wenn auf diese
Weise
die
ältere
hellenische
Geschichte
, im
Kampf
jener
zwei
feindseligen
Principien
, in vier
grosse
Kunststufen
zerfällt
: so sind wir jetzt
gedrängt
, weiter nach dem
letzten
Plane
dieses
Werdens
und
Treibens
zu
fragen
,
falls
uns nicht etwa die
letzterreichte
Periode
, die der
dorischen
Kunst
, als die
Spitze
und
Absicht
jener
Kunsttriebe
gelten
sollte
: und hier
bietet
sich
unseren
Blicken
das
erhabene
und
hochgepriesene
Kunstwerk
der
attischen
Tragödie
und des
dramatischen
Dithyrambus
, als das
gemeinsame
Ziel
beider
Triebe
, deren
geheimnissvolles
Ehebündniss
, nach
langem
vorhergehenden
Kampfe
, sich in einem
solchen
Kinde
- das
zugleich
Antigone
und
Kassandra
ist -
verherrlicht
hat.
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