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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
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Vorwort an Richard Wagner.
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5.
Wir
nahen
uns jetzt dem
eigentlichen
Ziele
unsrer
Untersuchung
, die auf die
Erkenntniss
des
dionysisch-apollinischen
Genius
und seines
Kunstwerkes
,
wenigstens
auf das
ahnungsvolle
Verständniss
jenes
Einheitsmysteriums
gerichtet
ist. Hier
fragen
wir nun
zunächst
, wo
jener
neue
Keim
sich
zuerst
in der
hellenischen
Welt
bemerkbar
macht
, der sich nachher bis zur
Tragödie
und zum
dramatischen
Dithyrambus
entwickelt
.
Hierüber
giebt
uns das
Alterthum
selbst
bildlich
Aufschluss
, wenn es als die
Urväter
und
Fackelträger
der
griechischen
Dichtung
Homer
und
Archilochus
auf
Bildwerken
,
Gemmen
u
.
s
.
w
. neben
einander
stellt
, in der
sicheren
Empfindung
,
dass
nur diese
Beiden
gleich
völlig
originalen
Naturen
, von denen aus ein
Feuerstrom
auf die
gesammte
griechische
Nachwelt
fortfliesse
, zu
erachten
seien
.
Homer
, der in sich
versunkene
greise
Träumer
, der
Typus
des
apollinischen
,
naiven
Künstlers
,
sieht
nun
staunend
den
leidenschaftlichen
Kopf
des
wild
durch'
s
Dasein
getriebenen
kriegerischen
Musendieners
Archilochus
: und die
neuere
Aesthetik
wusste
nur
deutend
hinzuzufügen
,
dass
hier dem "
objectiven
"
Künstler
der
erste
"
subjective
"
entgegen
gestellt
sei
. Uns ist mit dieser
Deutung
wenig
gedient
, weil wir den
subjectiven
Künstler
nur als
schlechten
Künstler
kennen
und in jeder
Art
und
Höhe
der
Kunst
vor
allem und
zuerst
Besiegung
des
Subjectiven
,
Erlösung
vom "Ich" und
Stillschweigen
jedes
individuellen
Willens
und
Gelüstens
fordern
, ja ohne
Objectivität
, ohne
reines
interesseloses
Anschauen
nie
an die
geringste
wahrhaft
künstlerische
Erzeugung
glauben
können
. Darum
muss
unsre
Aesthetik
erst
jenes
Problem
lösen
, wie der "
Lyriker
" als
Künstler
möglich
ist: er, der, nach der
Erfahrung
aller
Zeiten
, immer "ich"
sagt
und die
ganze
chromatische
Tonleiter
seiner
Leidenschaften
und
Begehrungen
vor
uns
absingt
.
Gerade
dieser
Archilochus
erschreckt
uns, neben
Homer
, durch den
Schrei
seines
Hasses
und
Hohnes
, durch die
trunknen
Ausbrüche
seiner
Begierde
; ist er, der
erste
subjectiv
genannte
Künstler
, nicht damit der
eigentliche
Nichtkünstler
? Woher aber dann die
Verehrung
, die
ihm
, dem
Dichter
,
gerade
auch das
delphische
Orakel
, der
Herd
der "
objectiven
"
Kunst
, in sehr
merkwürdigen
Aussprüchen
erwiesen
hat?
Ueber den
Prozess
seines
Dichtens
hat uns
Schiller
durch eine
ihm
selbst
unerklärliche
, doch nicht
bedenklich
scheinende
psychologische
Beobachtung
Licht
gebracht
; er
gesteht
nämlich
als den
vorbereitenden
Zustand
vor
dem
Actus
des
Dichtens
nicht etwa eine
Reihe
von
Bildern
, mit
geordneter
Causalität
der
Gedanken
,
vor
sich und in sich
gehabt
zu haben,
sondern
vielmehr
eine
musikalische
Stimmung
("Die
Empfindung
ist bei mir
anfangs
ohne
bestimmten
und
klaren
Gegenstand
; dieser
bildet
sich
erst
später
. Eine
gewisse
musikalische
Gemüthsstimmung
geht
vorher
, und auf diese
folgt
bei mir
erst
die
poetische
Idee
").
Nehmen
wir jetzt das
wichtigste
Phänomen
der
ganzen
antiken
Lyrik
hinzu, die
überall
als
natürlich
geltende
Vereinigung
, ja
Identität
des
Lyrikers
mit dem
Musiker
- der
gegenüber
unsre
neuere
Lyrik
wie ein
Götterbild
ohne
Kopf
erscheint
- so
können
wir jetzt, auf
Grund
unsrer
früher
dargestellten
aesthetischen
Metaphysik
, uns in
folgender
Weise
den
Lyriker
erklären
. Er ist
zuerst
, als
dionysischer
Künstler
,
gänzlich
mit dem
Ur-Einen
, seinem
Schmerz
und
Widerspruch
, eins
geworden
und
producirt
das
Abbild
dieses
Ur-Einen
als
Musik
, wenn anders diese mit
Recht
eine
Wiederholung
der
Welt
und ein
zweiter
Abguss
derselben
genannt
worden
ist; jetzt aber wird diese
Musik
ihm
wieder wie in einem
gleichnissartige
Traumbilde
, unter der
apollinischen
Traumeinwirkung
sichtbar
.
Jener
bild-
und
begrifflose
Wiederschein
des
Urschmerzes
in der
Musik
, mit seiner
Erlösung
im
Scheine
,
erzeugt
jetzt eine
zweite
Spiegelung
, als
einzelnes
Gleichniss
oder
Exempel
. Seine
Subjectivität
hat der
Künstler
bereits
in dem
dionysischen
Prozess
aufgegeben
: das
Bild
, das
ihm
jetzt seine
Einheit
mit dem
Herzen
der
Welt
zeigt
, ist eine
Traumscene
, die
jenen
Urwiderspruch
und
Urschmerz
,
sammt
der
Urlust
des
Scheines
,
versinnlicht
. Das "Ich" des
Lyrikers
tönt
also aus dem
Abgrunde
des
Seins
: seine "
Subjectivität
" im
Sinne
der
neueren
Aesthetiker
ist eine
Einbildung
. Wenn
Archilochus
, der
erste
Lyriker
der
Griechen
, seine
rasende
Liebe
und
zugleich
seine
Verachtung
den
Töchtern
des
Lykambes
kundgiebt
, so ist es nicht seine
Leidenschaft
, die
vor
uns in
orgiastischem
Taumel
tanzt
: wir
sehen
Dionysus
und die
Mänaden
, wir
sehen
den
berauschten
Schwärmer
Archilochus
zum
Schlafe
niedergesunken
- wie
ihn
uns
Euripides
in den
Bacchen
beschreibt
, den
Schlaf
auf
hoher
Alpentrift
, in der
Mittagssonne
- : und jetzt
tritt
Apollo
an
ihn
heran und
berührt
ihn
mit dem
Lorbeer
. Die
dionysisch-musikalische
Verzauberung
des
Schläfers
sprüht
jetzt
gleichsam
Bilderfunken
um sich,
lyrische
Gedichte
, die in ihrer
höchsten
Entfaltung
Tragödien
und
dramatische
Dithyramben
heissen
.
Der
Plastiker
und
zugleich
der
ihm
verwandte
Epiker
ist in das
reine
Anschauen
der
Bilder
versunken
. Der
dionysische
Musiker
ist ohne jedes
Bild
völlig
nur selbst
Urschmerz
und
Urwiederklang
desselben
. Der
lyrische
Genius
fühlt
aus dem
mystischen
Selbstentäusserungs-
und
Einheitszustande
eine
Bilder-
und
Gleichnisswelt
hervorwachsen
, die eine
ganz
andere
Färbung
,
Causalität
und
Schnelligkeit
hat als
jene
Welt
des
Plastikers
und
Epikers
.
Während
der
Letztgenannte
in diesen
Bildern
und nur in ihnen mit
freudigem
Behagen
lebt
und nicht
müde
wird, sie bis auf die
kleinsten
Züge
hin
liebevoll
anzuschauen
,
während
selbst das
Bild
des
zürnenden
Achilles
für
ihn
nur ein
Bild
ist, dessen
zürnenden
Ausdruck
er mit
jener
Traumlust
am
Scheine
geniesst
- so
dass
er, durch diesen
Spiegel
des
Scheines
, gegen das
Einswerden
und
Zusammenschmelzen
mit seinen
Gestalten
geschützt
ist -, so sind
dagegen
die
Bilder
des
Lyrikers
nichts als er selbst und
gleichsam
nur
verschiedene
Objectivationen
von
ihm
,
weshalb
er als
bewegender
Mittelpunkt
jener
Welt
"ich"
sagen
darf
: nur ist diese
Ichheit
nicht
dieselbe
, wie die des
wachen
,
empirisch-realen
Menschen
,
sondern
die
einzige
überhaupt
wahrhaft
seiende
und
ewige
, im
Grunde
der
Dinge
ruhende
Ichheit
, durch deren
Abbilder
der
lyrische
Genius
bis auf
jenen
Grund
der
Dinge
hindurchsieht
. Nun
denken
wir uns
einmal
, wie er unter diesen
Abbildern
auch sich selbst als
Nichtgenius
erblickt
d
.
h
.
sein
"
Subject
", das
ganze
Gewühl
subjectiver
, auf ein
bestimmtes
,
ihm
real
dünkendes
Ding
gerichteter
Leidenschaften
und
Willensregungen
; wenn es jetzt
scheint
als ob der
lyrische
Genius
und der mit
ihm
verbundene
Nichtgenius
eins
wäre
und als ob der
Erstere
von sich selbst
jenes
Wörtchen
"ich"
spräche
, so wird uns jetzt dieser
Schein
nicht mehr
verführen
können
, wie er
allerdings
diejenigen
verführt
hat, die den
Lyriker
als den
subjectiven
Dichter
bezeichnet
haben. In
Wahrheit
ist
Archilochus
, der
leidenschaftlich
entbrannte
liebende
und
hassende
Mensch
nur eine
Vision
des
Genius
, der
bereits
nicht mehr
Archilochus
,
sondern
Weltgenius
ist und der seinen
Urschmerz
in jenem
Gleichnisse
vom
Menschen
Archilochus
symbolisch
ausspricht
:
während
jener
subjectiv
wollende
und
begehrende
Mensch
Archilochus
überhaupt
nie
und
nimmer
Dichter
sein
kann. Es ist aber
gar
nicht
nöthig
,
dass
der
Lyriker
gerade
nur das
Phänomen
des
Menschen
Archilochus
vor
sich
sieht
als
Wiederschein
des
ewigen
Seins
; und die
Tragödie
beweist
, wie
weit
sich die
Visionswelt
des
Lyrikers
von jenem
allerdings
zunächst
stehenden
Phänomen
entfernen
kann.
Schopenhauer
, der sich die
Schwierigkeit
, die der
Lyriker
für
die
philosophische
Kunstbetrachtung
macht
, nicht
verhehlt
hat,
glaubt
einen
Ausweg
gefunden
zu haben, den ich nicht mit
ihm
gehen
kann,
während
ihm
allein, in seiner
tiefsinnigen
Metaphysik
der
Musik
, das
Mittel
in die
Hand
gegeben
war, mit dem
jene
Schwierigkeit
entscheidend
beseitigt
werden konnte: wie ich dies, in seinem
Geiste
und zu seiner
Ehre
, hier
gethan
zu haben
glaube
.
Dagegen
bezeichnet
er als das
eigenthümliche
Wesen
des
Liedes
Folgendes
(
Welt
als
Wille
und
Vorstellung
I
,
S
.
295
): "Es ist das
Subject
des
Willens
,
d
.
h
. das eigene
Wollen
, was das
Bewusstsein
des
Singenden
füllt
,
oft
als ein
entbundenes
,
befriedigtes
Wollen
(
Freude
),
wohl
noch
öfter
aber als ein
gehemmtes
(
Trauer
), immer als
Affect
,
Leidenschaft
,
bewegter
Gemüthszustand
. Neben diesem
jedoch
und
zugleich
damit wird durch den
Anblick
der
umgebenden
Natur
der
Singende
sich seiner
bewusst
als
Subjects
des
reinen
,
willenlosen
Erkennens
, dessen
unerschütterliche
,
selige
Ruhe
nunmehr
in
Contrast
tritt
mit dem
Drange
des immer
beschränkten
, immer noch
dürftigen
Wollens
: die
Empfindung
dieses
Contrastes
, dieses
Wechselspieles
ist
eigentlich
, was sich im
Ganzen
des
Liedes
ausspricht
und was
überhaupt
den
lyrischen
Zustand
ausmacht
. In diesem
tritt
gleichsam
das
reine
Erkennen
zu uns heran, um uns vom
Wollen
und seinem
Drange
zu
erlösen
: wir
folgen
; doch nur auf
Augenblicke
: immer von
Neuem
entreisst
das
Wollen
, die
Erinnerung
an
unsere
persönlichen
Zwecke
, uns der
ruhigen
Beschauung
; aber auch immer wieder
entlockt
uns dem
Wollen
die
nächste
schöne
Umgebung
, in
welcher
sich die
reine
willenlose
Erkenntniss
uns
darbietet
. Darum
geht
im
Liede
und der
lyrischen
Stimmung
das
Wollen
(das
persönliche
Interesse
des
Zwecks
) und das
reine
Anschauen
der sich
darbietenden
Umgebung
wundersam
gemischt
durch
einander
: es werden
Beziehungen
zwischen
beiden
gesucht
und
imaginirt
; die
subjective
Stimmung
, die
Affection
des
Willens
,
theilt
der
angeschauten
Umgebung
und diese
wiederum
jener
ihre
Farbe
im
Reflex
mit: von diesem
ganzen
so
gemischten
und
getheilten
Gemüthszustande
ist das
ächte
Lied
der
Abdruck
".
Wer
vermöchte
in dieser
Schilderung
zu
verkennen
,
dass
hier die
Lyrik
als eine
unvollkommen
erreichte
,
gleichsam
im
Sprunge
und
selten
zum
Ziele
kommende
Kunst
charakterisirt
wird, ja als eine
Halbkunst
, deren
Wesen
darin
bestehen
solle
,
dass
das
Wollen
und das
reine
Anschauen
d
.
h
. der
unaesthetische
und der
aesthetische
Zustand
wundersam
durch
einander
gemischt
seien
? Wir
behaupten
vielmehr
,
dass
der
ganze
Gegensatz
, nach dem wie nach einem
Werthmesser
auch noch
Schopenhauer
die
Künste
eintheilt
, der des
Subjectiven
und des
Objectiven
,
überhaupt
in der
Aesthetik
ungehörig
ist,
da
das
Subject
, das
wollende
und seine
egoistischen
Zwecke
fördernde
Individuum
nur als
Gegner
, nicht als
Ursprung
der
Kunst
gedacht
werden kann.
Insofern
aber das
Subject
Künstler
ist, ist es
bereits
von seinem
individuellen
Willen
erlöst
und
gleichsam
Medium
geworden
, durch das
hindurch
das eine
wahrhaft
seiende
Subject
seine
Erlösung
im
Scheine
feiert
.
Denn
dies
muss
uns
vor
allem, zu unserer
Erniedrigung
und
Erhöhung
,
deutlich
sein
,
dass
die
ganze
Kunstkomödie
durchaus
nicht
für
uns, etwa
unsrer
Besserung
und
Bildung
wegen,
aufgeführt
wird, ja
dass
wir
ebensowenig
die
eigentlichen
Schöpfer
jener
Kunstwelt
sind:
wohl
aber
dürfen
wir von uns selbst
annehmen
,
dass
wir
für
den
wahren
Schöpfer
derselben
schon
Bilder
und
künstlerische
Projectionen
sind und in der
Bedeutung
von
Kunstwerken
unsre
höchste
Würde
haben -
denn
nur als
aesthetisches
Phänomen
ist das
Dasein
und die
Welt
ewig
gerechtfertigt
: -
während
freilich
unser
Bewusstsein
über diese unsre
Bedeutung
kaum
ein
andres
ist als es die auf
Leinwand
gemalten
Krieger
von der auf ihr
dargestellten
Schlacht
haben.
Somit
ist unser
ganzes
Kunstwissen
im
Grunde
ein
völlig
illusorisches
, weil wir als
Wissende
mit jenem
Wesen
nicht eins und
identisch
sind, das sich, als
einziger
Schöpfer
und
Zuschauer
jener
Kunstkomödie
, einen
ewigen
Genuss
bereitet
. Nur
soweit
der
Genius
im
Actus
der
künstlerischen
Zeugung
mit jenem
Urkünstler
der
Welt
verschmilzt
,
weiss
er etwas über das
ewige
Wesen
der
Kunst
;
denn
in jenem
Zustande
ist er,
wunderbarer
Weise
, dem
unheimlichen
Bild
des
Mährchens
gleich
, das die
Augen
drehn
und sich
selber
anschaun
kann; jetzt ist er
zugleich
Subject
und
Object
,
zugleich
Dichter
,
Schauspieler
und
Zuschauer
.
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