Index
|
Wörter
:
alphabetisch
-
Frequenz
-
rückläufig
-
Länge
-
Statistik
|
Hilfe
|
IntraText-Bibliothek
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
IntraText CT - Text
Vorwort an Richard Wagner.
7.
zurück
-
vor
Hier klicken um die Links zu den Konkordanzen auszublenden
7.
Alle die
bisher
erörterten
Kunstprincipien
müssen
wir jetzt zu
Hülfe
nehmen
, um uns in dem
Labyrinth
zurecht
zu
finden
, als
welches
wir den
Ursprung
der
griechischen
Tragödie
bezeichnen
müssen
. Ich
denke
nichts
Ungereimtes
zu
behaupten
, wenn ich
sage
,
dass
das
Problem
dieses
Ursprungs
bis jetzt noch nicht
einmal
ernsthaft
aufgestellt
,
geschweige
denn
gelöst
ist, so
oft
auch die
zerflatternden
Fetzen
der
antiken
Ueberlieferung
schon
combinatorisch
an
einander
genäht
und wieder aus
einander
gerissen
sind. Diese
Ueberlieferung
sagt
uns mit
voller
Entschiedenheit
,
dass
die
Tragödie
aus dem
tragischen
Chore
entstanden
ist und
ursprünglich
nur
Chor
und nichts als
Chor
war: woher wir die
Verpflichtung
nehmen
, diesem
tragischen
Chore
als dem
eigentlichen
Urdrama
in'
s
Herz
zu
sehen
, ohne uns an den
geläufigen
Kunstredensarten
-
dass
er der
idealische
Zuschauer
sei
oder das
Volk
gegenüber
der
fürstlichen
Region
der
Scene
zu
vertreten
habe - irgendwie
genügen
zu
lassen
.
Jener
zuletzt
erwähnte
,
für
manchen
Politiker
erhaben
klingende
Erläuterungsgedanke
- als ob das
unwandelbare
Sittengesetz
von den
demokratischen
Athenern
in dem
Volkschore
dargestellt
sei
, der über die
leidenschaftlichen
Ausschreitungen
und
Ausschweifungen
der
Könige
hinaus immer
Recht
behalte
-
mag
noch so sehr durch ein
Wort
des
Aristoteles
nahegelegt
sein
: auf die
ursprüngliche
Formation
der
Tragödie
ist er ohne
Einfluss
,
da
von
jenen
rein
religiösen
Ursprüngen
der
ganze
Gegensatz
von
Volk
und
Fürst
,
überhaupt
jegliche
politisch-sociale
Sphäre
ausgeschlossen
ist; aber wir
möchten
es auch in
Hinsicht
auf die uns
bekannte
classische
Form
des
Chors
bei
Aeschylus
und
Sophokles
für
Blasphemie
erachten
, hier von der
Ahnung
einer "
constitutionellen
Volksvertretung
" zu
reden
,
vor
welcher
Blasphemie
Andere
nicht
zurückgeschrocken
sind. Eine
constitutionelle
Volksvertretung
kennen
die
antiken
Staatsverfassungen
in
praxi
nicht und haben sie
hoffentlich
auch in ihrer
Tragödie
nicht
einmal
"
geahnt
".
Viel
berühmter
als diese
politische
Erklärung
des
Chors
ist der
Gedanke
A
.
W
.
Schlegel
'
s
, der uns den
Chor
gewissermaassen
als den
Inbegriff
und
Extract
der
Zuschauermenge
, als den "
idealischen
Zuschauer
" zu
betrachten
anempfiehlt
. Diese
Ansicht
,
zusammengehalten
mit
jener
historischen
Ueberlieferung
,
dass
ursprünglich
die
Tragödie
nur
Chor
war,
erweist
sich als das was sie ist, als eine
rohe
,
unwissenschaftliche
, doch
glänzende
Behauptung
, die ihren
Glanz
aber nur durch ihre
concentrirte
Form
des
Ausdrucks
, durch die
echt
germanische
Voreingenommenheit
für
Alles, was "
idealisch
"
genannt
wird und durch unser
momentanes
Erstauntsein
erhalten
hat. Wir sind
nämlich
erstaunt
,
sobald
wir das uns
gut
bekannte
Theaterpublicum
mit jenem
Chore
vergleichen
und uns
fragen
, ob es
wohl
möglich
sei
, aus diesem
Publicum
je
etwas dem
tragischen
Chore
Analoges
herauszuidealisiren
. Wir
leugnen
dies im
Stillen
und
wundern
uns jetzt
eben
so über die
Kühnheit
der
Schlegel
'
schen
Behauptung
wie über die
total
verschiedene
Natur
des
griechischen
Publicums
. Wir hatten
nämlich
doch immer
gemeint
,
dass
der
rechte
Zuschauer
, er
sei
wer er
wolle
, sich immer
bewusst
bleiben
müsse
, ein
Kunstwerk
vor
sich zu haben, nicht eine
empirische
Realität
:
während
der
tragische
Chor
der
Griechen
in den
Gestalten
der
Bühne
leibhafte
Existenzen
zu
erkennen
genöthigt
ist. Der
Okeanidenchor
glaubt
wirklich
den
Titan
Prometheus
vor
sich zu
sehen
und
hält
sich selbst
für
eben
so
real
wie den
Gott
der
Scene
. Und das
sollte
die
höchste
und
reinste
Art
des
Zuschauers
sein
,
gleich
den
Okeaniden
den
Prometheus
für
leiblich
vorhanden
und
real
zu
halten
? Und es
wäre
das
Zeichen
des
idealischen
Zuschauers
, auf die
Bühne
zu
laufen
und den
Gott
von seinen
Martern
zu
befreien
? Wir hatten an ein
aesthetisches
Publicum
geglaubt
und den
einzelnen
Zuschauer
für
um so
befähigter
gehalten
,
je
mehr er im
Stande
war, das
Kunstwerk
als
Kunst
d
.
h
.
aesthetisch
zu
nehmen
; und jetzt
deutete
uns der
Schlegel
'
sche
Ausdruck
an,
dass
der
vollkommne
idealische
Zuschauer
die
Welt
der
Scene
gar
nicht
aesthetisch
,
sondern
leibhaft
empirisch
auf sich
wirken
lasse
.
O
über diese
Griechen
!
seufzen
wir; sie
werfen
uns unsre
Aesthetik
um! Daran aber
gewöhnt
,
wiederholten
wir den
Sdllegel
'
schen
Spruch
, so
oft
der
Chor
zur
Sprache
kam
.
Aber
jene
so
ausdrückliche
Ueberlieferung
redet
hier gegen
Schlegel
: der
Chor
an sich, ohne
Bühne
, also die
primitive
Gestalt
der
Tragödie
und
jener
Chor
idealischer
Zuschauer
vertragen
sich nicht mit
einander
. Was
wäre
das
für
eine
Kunstgattung
, die aus dem
Begriff
des
Zuschauers
herausgezogen
wäre
, als deren
eigentliche
Form
der "
Zuschauer
an sich" zu
gelten
hätte. Der
Zuschauer
ohne
Schauspiel
ist ein
widersinniger
Begriff
. Wir
fürchten
,
dass
die
Geburt
der
Tragödie
weder aus der
Hochachtung
vor
der
sittlichen
Intelligenz
der
Masse
, noch aus dem
Begriff
des
schauspiellosen
Zuschauers
zu
erklären
sei
und
halten
dies
Problem
für
zu
tief
, um von so
flachen
Betrachtungsarten
auch nur
berührt
zu werden.
Eine
unendlich
werthvollere
Einsicht
über die
Bedeutung
des
Chors
hatte
bereits
Schiller
in der
berühmten
Vorrede
zur
Braut
von
Messina
verrathen
, der den
Chor
als eine
lebendige
Mauer
betrachtete
, die die
Tragödie
um sich
herum
zieht
, um sich von der
wirklichen
Welt
rein
abzuschliessen
und sich ihren
idealen
Boden
und ihre
poetische
Freiheit
zu
bewahren
.
Schiller
kämpft
mit dieser seiner
Hauptwaffe
gegen den
gemeinen
Begriff
des
Natürlichen
, gegen die bei der
dramatischen
Poesie
gemeinhin
geheischte
Illusion
.
Während
der
Tag
selbst auf dem
Theater
nur ein
künstlicher
, die
Architektur
nur eine
symbolische
sei
und die
metrische
Sprache
einen
idealen
Charakter
trage
,
herrsche
immer noch der
Irrthum
im
Ganzen
: es
sei
nicht genug,
dass
man das nur als eine
poetische
Freiheit
dulde
, was doch das
Wesen
aller
Poesie
sei
. Die
Einführung
des
Chores
sei
der
entscheidende
Schritt
, mit dem jedem
Naturalismus
in der
Kunst
offen
und
ehrlich
der
Krieg
erklärt
werde
. - Eine solche
Betrachtungsart
ist es,
scheint
mir,
für
die unser sich
überlegen
wähnendes
Zeitalter
das
wegwerfende
Schlagwort
"
Pseudoidealismus
"
gebraucht
. Ich
fürchte
, wir sind
dagegen
mit unserer
jetzigen
Verehrung
des
Natürlichen
und
Wirklichen
am
Gegenpol
alles
Idealismus
angelangt
,
nämlich
in der
Region
der
Wachsfigurencabinette
. Auch in ihnen
giebt
es eine
Kunst
, wie bei
gewissen
beliebten
Romanen
der
Gegenwart
: nur
quäle
man uns nicht mit dem
Anspruch
,
dass
mit dieser
Kunst
der
Schiller-Goethesche
"
Pseudoidealismus
"
überwunden
sei
.
Freilich
ist es ein "
idealer
"
Boden
, auf dem, nach der
richtigen
Einsicht
Schillers
, der
griechische
Satyrchor
, der
Chor
der
ursprünglichen
Tragödie
, zu
wandeln
pflegt
, ein
Boden
hoch
emporgehoben
über die
wirkliche
Wandelbahn
der
Sterblichen
. Der
Grieche
hat sich
für
diesen
Chor
die
Schwebegerüste
eines
fingirten
Naturzustandes
gezimmert
und auf sie hin
fingirte
Naturwesen
gestellt
. Die
Tragödie
ist auf diesem
Fundamente
emporgewachsen
und
freilich
schon deshalb von
Anbeginn
an einem
peinlichen
Abkonterfeien
der
Wirklichkeit
enthoben
gewesen
. Dabei ist es doch keine
willkürlich
zwischen
Himmel
und
Erde
hineinphantasirte
Welt
;
vielmehr
eine
Welt
von
gleicher
Realität
und
Glaubwürdigkeit
wie sie der
Olymp
sammt
seinen
Insassen
für
den
gläubigen
Hellenen
besass
. Der
Satyr
als der
dionysische
Choreut
lebt
in einer
religiös
zugestandenen
Wirklichkeit
unter der
Sanction
des
Mythus
und des
Cultus
.
Dass
mit
ihm
die
Tragödie
beginnt
,
dass
aus
ihm
die
dionysische
Weisheit
der
Tragödie
spricht
, ist ein hier uns
eben
so
befremdendes
Phänomen
wie
überhaupt
die
Entstehung
der
Tragödie
aus dem
Chore
. Vielleicht
gewinnen
wir einen
Ausgangspunkt
der
Betrachtung
, wenn ich die
Behauptung
hinstelle
,
dass
sich der
Satyr
, das
fingirte
Naturwesen
, zu dem
Culturmenschen
in
gleicher
Weise
verhält
, wie die
dionysische
Musik
zur
Civilisation
. Von
letzterer
sagt
Richard
Wagner
,
dass
sie von der
Musik
aufgehoben
werde
wie der
Lampenschein
vom
Tageslicht
. In
gleicher
Weise
,
glaube
ich,
fühlte
sich der
griechische
Culturmensch
im
Angesicht
des
Satyrchors
aufgehoben
: und dies ist die
nächste
Wirkung
der
dionysischen
Tragödie
,
dass
der
Staat
und die
Gesellschaft
,
überhaupt
die
Klüfte
zwischen
Mensch
und
Mensch
einem
übermächtigen
Einheitsgefühle
weichen
,
welches
an das
Herz
der
Natur
zurückführt
. Der
metaphysische
Trost
, - mit
welchem
, wie ich schon hier
andeute
, uns jede
wahre
Tragödie
entlässt
-
dass
das
Leben
im
Grunde
der
Dinge
,
trotz
allem
Wechsel
der
Erscheinungen
unzerstörbar
mächtig
und
lustvoll
sei
, dieser
Trost
erscheint
in
leibhafter
Deutlichkeit
als
Satyrchor
, als
Chor
von
Naturwesen
, die
gleichsam
hinter aller
Civilisation
unvertilgbar
leben
und
trotz
allem
Wechsel
der
Generationen
und der
Völkergeschichte
ewig
dieselben
bleiben
.
Mit diesem
Chore
tröstet
sich der
tiefsinnige
und zum
zartesten
und
schwersten
Leiden
einzig
befähigte
Hellene
, der mit
schneidigem
Blicke
mitten
in das
furchtbare
Vernidhtungstreiben
der
sogenannten
Weltgeschichte
,
eben
so wie in die
Grausamkeit
der
Natur
geschaut
hat und in
Gefahr
ist, sich nach einer
buddhaistischen
Verneinung
des
Willens
zu
sehnen
.
Ihn
rettet
die
Kunst
, und durch die
Kunst
rettet
ihn
sich - das
Leben
.
Die
Verzückung
des
dionysischen
Zustandes
mit seiner
Vernichtung
der
gewöhnlichen
Schranken
und
Grenzen
des
Daseins
enthält
nämlich
während
seiner
Dauer
ein
lethargisches
Element
, in das sich alles
persönlich
in der
Vergangenheit
Erlebte
eintaucht
. So
scheidet
sich durch diese
Kluft
der
Vergessenheit
die
Welt
der
alltäglichen
und der
dionysischen
Wirklichkeit
von
einander
ab.
Sobald
aber
jene
alltägliche
Wirklichkeit
wieder
ins
Bewusstsein
tritt
, wird sie mit
Ekel
als solche
empfunden
; eine
asketische
,
willenverneinende
Stimmung
ist die
Frucht
jener
Zustände
. In diesem
Sinne
hat der
dionysische
Mensch
Aehnlichkeit
mit
Hamlet
:
beide
haben
einmal
einen
wahren
Blick
in das
Wesen
der
Dinge
gethan
, sie haben
erkannt
, und es
ekelt
sie zu
handeln
;
denn
ihre
Handlung
kann nichts am
ewigen
Wesen
der
Dinge
ändern
, sie
empfinden
es als
lächerlich
oder
schmachvoll
,
dass
ihnen
zugemuthet
wird, die
Welt
, die aus den
Fugen
ist, wieder
einzurichten
. Die
Erkenntniss
tödtet
das
Handeln
, zum
Handeln
gehört
das
Umschleiertsein
durch die
Illusion
- das ist die
Hamletlehre
, nicht
jene
wohlfeile
Weisheit
von
Hans
dem
Träumer
, der aus zu viel
Reflexion
,
gleichsam
aus einem
Ueberschuss
von
Möglichkeiten
nicht zum
Handeln
kommt
; nicht das
Reflectiren
, nein! - die
wahre
Erkenntniss
, der
Einblick
in die
grauenhafte
Wahrheit
überwiegt
jedes zum
Handeln
antreibende
Motiv
, bei
Hamlet
sowohl als bei dem
dionysischen
Menschen
. Jetzt
verfängt
kein
Trost
mehr, die
Sehnsucht
geht
über eine
Welt
nach dem
Tode
, über die
Götter
selbst hinaus, das
Dasein
wird,
sammt
seiner
gleissenden
Wiederspiegelung
in den
Göttern
oder in einem
unsterblichen
Jenseits
,
verneint
. In der
Bewusstheit
der
einmal
geschauten
Wahrheit
sieht
jetzt der
Mensch
überall
nur das
Entsetzliche
oder
Absurde
des
Seins
, jetzt
versteht
er das
Symbolische
im
Schicksal
der
Ophelia
, jetzt
erkennt
er die
Weisheit
des
Waldgottes
Silen
: es
ekelt
ihn
.
Hier, in dieser
höchsten
Gefahr
des
Willens
,
naht
sich, als
rettende
,
heilkundige
Zauberin
, die
Kunst
; sie allein
vermag
jene
Ekelgedanken
über das
Entsetzliche
oder
Absurde
des
Daseins
in
Vorstellungen
umzubiegen
, mit denen sich
leben
lässt
: diese sind das
Erhabene
als die
künstlerische
Bändigung
des
Entsetzlichen
und das
Komische
als die
künstlerische
Entladung
vom
Ekel
des
Absurden
. Der
Satyrchor
des
Dithyrambus
ist die
rettende
That
der
griechischen
Kunst
; an der
Mittelwelt
dieser
dionysischen
Begleiter
erschöpften
sich
jene
vorhin
beschriebenen
Anwandlungen
.
zurück
-
vor
Index
|
Wörter
:
alphabetisch
-
Frequenz
-
rückläufig
-
Länge
-
Statistik
|
Hilfe
|
IntraText-Bibliothek
Best viewed with any browser at 800x600 or 768x1024 on Tablet PC
IntraText®
(V89) - Some rights reserved by
EuloTech SRL
- 1996-2007. Content in this page is licensed under a
Creative Commons License