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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
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Vorwort an Richard Wagner.
10.
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10.
Es ist eine
unanfechtbare
Ueberlieferung
,
dass
die
griechische
Tragödie
in ihrer
ältesten
Gestalt
nur die
Leiden
des
Dionysus
zum
Gegenstand
hatte und
dass
der
längere
Zeit
hindurch
einzig
vorhandene
Bühnenheld
eben
Dionysus
war. Aber mit der
gleichen
Sicherheit
darf
behauptet
werden,
dass
niemals
bis auf
Euripides
Dionysus
aufgehört
hat, der
tragische
Held
zu
sein
,
sondern
dass
alle die
berühmten
Figuren
der
griechischen
Bühne
Prometheus
,
Oedipus
u
.
s
.
w
. nur
Masken
jenes
ursprünglichen
Helden
Dionysus
sind.
Dass
hinter
allen
diesen
Masken
eine
Gottheit
steckt
, das ist der eine
wesentliche
Grund
für
die so
oft
angestaunte
typische
"
Idealität
"
jener
berühmten
Figuren
. Es hat ich
weiss
nicht wer
behauptet
,
dass
alle
Individuen
als
Individuen
komisch
und damit
untragisch
seien
:
woraus
zu
entnehmen
wäre
,
dass
die
Griechen
überhaupt
Individuen
auf der
tragischen
Bühne
nicht
ertragen
konnten
. In der
That
scheinen
sie so
empfunden
zu haben: wie
überhaupt
jene
platonische
Unterscheidung
und
Werthabschätzung
der "
Idee
" im
Gegensatze
zum "
Idol
", zum
Abbild
tief
im
hellenischen
Wesen
begründet
liegt
. Um uns aber der
Terminologie
Plato
'
s
zu
bedienen
, so
wäre
von den
tragischen
Gestalten
der
hellenischen
Bühne
etwa so zu
reden
: der eine
wahrhaft
reale
Dionysus
erscheint
in einer
Vielheit
der
Gestalten
, in der
Maske
eines
kämpfenden
Helden
und
gleichsam
in das
Netz
des
Einzelwillens
verstrickt
. So wie jetzt der
erscheinende
Gott
redet
und
handelt
,
ähnelt
er einem
irrenden
strebenden
leidenden
Individuum
: und
dass
er
überhaupt
mit dieser
epischen
Bestimmtheit
und
Deutlichkeit
erscheint
, ist die
Wirkung
des
Traumdeuters
Apollo
, der dem
Chore
seinen
dionysischen
Zustand
durch
jene
gleichnissartige
Erscheinung
deutet
. In
Wahrheit
aber ist
jener
Held
der
leidende
Dionysus
der
Mysterien
,
jener
die
Leiden
der
Individuation
an sich
erfahrende
Gott
, von dem
wundervolle
Mythen
erzählen
, wie er als
Knabe
von den
Titanen
zerstückelt
worden
sei
und nun in diesem
Zustande
als
Zagreus
verehrt
werde
:
wobei
angedeutet
wird,
dass
diese
Zerstückelung
, das
eigentlich
dionysische
Leiden
,
gleich
einer
Umwandlung
in
Luft
,
Wasser
,
Erde
und
Feuer
sei
,
dass
wir also den
Zustand
der
Individuation
als den
Quell
und
Urgrund
alles
Leidens
, als etwas an sich
Verwerfliches
, zu
betrachten
hätten
. Aus dem
Lächeln
dieses
Dionysus
sind die
olympischen
Götter
, aus seinen
Thränen
die
Menschen
entstanden
. In
jener
Existenz
als
zerstückelter
Gott
hat
Dionysus
die
Doppelnatur
eines
grausamen
verwilderten
Dämons
und eines
milden
sanftmüthigen
Herrschers
. Die
Hoffnung
der
Epopten
ging
aber auf eine
Wiedergeburt
des
Dionysus
, die wir jetzt als das
Ende
der
Individuation
ahnungsvoll
zu
begreifen
haben: diesem
kommenden
dritten
Dionysus
erscholl
der
brausende
Jubelgesang
der
Epopten
. Und nur in dieser
Hoffnung
giebt
es einen
Strahl
von
Freude
auf dem
Antlitze
der
zerrissenen
, in
Individuen
zertrümmerten
Welt
: wie es der
Mythus
durch die in
ewige
Trauer
versenkte
Demeter
verbildlicht
,
welche
zum
ersten
Male
wieder sich
freut
, als man ihr
sagt
, sie
könne
den
Dionysus
nocheinmal
gebären
. In den
angeführten
Anschauungen
haben wir
bereits
alle
Bestandtheile
einer
tiefsinnigen
und
pessimistischen
Weltbetrachtung
und
zugleich
damit die
Mysterienlehre
der
Tragödie
zusammen
: die
Grunderkenntniss
von der
Einheit
alles
Vorhandenen
, die
Betrachtung
der
Individuation
als des
Urgrundes
des
Uebels
, die
Kunst
als die
freudige
Hoffnung
,
dass
der
Bann
der
Individuation
zu
zerbrechen
sei
, als die
Ahnung
einer
wiederhergestellten
Einheit
. -
Es ist
früher
angedeutet
worden
,
dass
das
homerische
Epos
die
Dichtung
der
olympischen
Cultur
ist, mit der sie ihr
eignes
Siegeslied
über die
Schrecken
des
Titanenkampfes
gesungen
hat. Jetzt, unter dem
übermächtigen
Einflusse
der
tragischen
Dichtung
, werden die
homerischen
Mythen
von
Neuem
umgeboren
und
zeigen
in dieser
Metempsychose
,
dass
inzwischen auch die
olympische
Cultur
von einer noch
tieferen
Weltbetrachtung
besiegt
worden
ist. Der
trotzige
Titan
Prometheus
hat es seinem
olympischen
Peiniger
angekündigt
,
dass
einst seiner
Herrschaft
die
höchste
Gefahr
drohe
,
falls
er nicht zur
rechten
Zeit
sich mit
ihm
verbinden
werde
. In
Aeschylus
erkennen
wir das
Bündniss
des
erschreckten
,
vor
seinem
Ende
bangenden
Zeus
mit dem
Titanen
. So wird das
frühere
Titanenzeitalter
nachträglich
wieder aus dem
Tartarus
ans
Licht
geholt
. Die
Philosophie
der
wilden
und
nackten
Natur
schaut
die
vorübertanzenden
Mythen
der
homerischen
Welt
mit der
unverhüllten
Miene
der
Wahrheit
an: sie
erbleichen
, sie
zittern
vor
dem
blitzartigen
Auge
dieser
Göttin
- bis sie die
mächtige
Faust
des
dionysischen
Künstlers
in den
Dienst
der
neuen
Gottheit
zwingt
. Die
dionysische
Wahrheit
übernimmt
das
gesammte
Bereich
des
Mythus
als
Symbolik
ihrer
Erkenntnisse
und
spricht
diese
theils
in dem
öffentlichen
Cultus
der
Tragödie
,
theils
in den
geheimen
Begehungen
dramatischer
Mysterienfeste
, aber immer unter der
alten
mythischen
Hülle
aus.
Welche
Kraft
war dies, die den
Prometheus
von seinen
Geiern
befreite
und den
Mythus
zum
Vehikel
dionysischer
Weisheit
umwandelte
? Dies ist die
heraklesmässige
Kraft
der
Musik
: als
welche
, in der
Tragödie
zu ihrer
höchsten
Erscheinung
gekommen
, den
Mythus
mit
neuer
tiefsinnigster
Bedeutsamkeit
zu
interpretiren
weiss
; wie wir dies als das
mächtigste
Vermögen
der
Musik
früher
schon zu
charakterisiren
hatten.
Denn
es ist das
Loos
jedes
Mythus
,
allmählich
in die
Enge
einer
angeblich
historischen
Wirklichkeit
hineinzukriechen
und von
irgend
einer
späteren
Zeit
als
einmaliges
Factum
mit
historischen
Ansprüchen
behandelt
zu werden: und die
Griechen
waren
bereits
völlig
auf dem
Wege
, ihren
ganzen
mythischen
Jugendtraum
mit
Scharfsinn
und
Willkür
in eine
historisch-pragmatische
Jugendgeschichte
umzustempeln
.
Denn
dies ist die
Art
, wie
Religionen
abzusterben
pflegen
: wenn
nämlich
die
mythischen
Voraussetzungen
einer
Religion
unter den
strengen
,
verstandesmässigen
Augen
eines
rechtgläubigen
Dogmatismus
als eine
fertige
Summe
von
historischen
Ereignissen
systematisirt
werden und man
anfängt
,
ängstlich
die
Glaubwürdigkeit
der
Mythen
zu
vertheidigen
, aber gegen jedes
natürliche
Weiterleben
und
Weiterwuchern
derselben
sich zu
sträuben
, wenn also das
Gefühl
für
den
Mythus
abstirbt
und an seine
Stelle
der
Anspruch
der
Religion
auf
historische
Grundlagen
tritt
. Diesen
absterbenden
Mythus
ergriff
jetzt der
neugeborne
Genius
der
dionysischen
Musik
: und in seiner
Hand
blühte
er noch
einmal
, mit
Farben
, wie er sie noch
nie
gezeigt
, mit einem
Duft
, der eine
sehnsüchtige
Ahnung
einer
metaphysischen
Welt
erregte
. Nach diesem
letzten
Aufglänzen
fällt
er
zusammen
, seine
Blätter
werden
welk
, und
bald
haschen
die
spöttischen
Luciane
des
Alterthums
nach den von
allen
Winden
fortgetragnen
,
entfärbten
und
verwüsteten
Blumen
. Durch die
Tragödie
kommt
der
Mythus
zu seinem
tiefsten
Inhalt
, seiner
ausdrucksvollsten
Form
; noch
einmal
erhebt
er sich, wie ein
verwundeter
Held
, und der
ganze
Ueberschuss
von
Kraft
,
sammt
der
weisheitsvollen
Ruhe
des
Sterbenden
,
brennt
in seinem
Auge
mit
letztem
,
mächtigem
Leuchten
.
Was
wolltest
du,
frevelnder
Euripides
, als du diesen
Sterbenden
noch
einmal
zu deinem
Frohndienste
zu
zwingen
suchtest
? Er
starb
unter deinen
gewaltsamen
Händen
: und jetzt
brauchtest
du einen
nachgemachten
,
maskirten
Mythus
, der sich wie der
Affe
des
Herakles
mit dem
alten
Prunke
nur noch
aufzuputzen
wußte
. Und wie dir der
Mythus
starb
, so
starb
dir auch der
Genius
der
Musik
:
mochtest
du auch mit
gierigem
Zugreifen
alle
Gärten
der
Musik
plündern
, auch so
brachtest
du es nur zu einer
nachgemachten
maskirten
Musik
. Und weil du
Dionysus
verlassen
, so
verliess
dich auch
Apollo
;
jage
alle
Leidenschaften
von ihrem
Lager
auf und
banne
sie in deinen
Kreis
,
spitze
und
feile
dir
für
die
Reden
deiner
Helden
eine
sophistische
Dialektik
zurecht
- auch deine
Helden
haben nur
nachgeahmte
maskirte
Leidenschaften
und
sprechen
nur
nachgeahmte
maskirte
Reden
.
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