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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
IntraText CT - Text
Vorwort an Richard Wagner.
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14.
Denken
wir uns jetzt das eine
grosse
Cyklopenauge
des
Sokrates
auf die
Tragödie
gewandt
,
jenes
Auge
, in dem
nie
der
holde
Wahnsinn
künstlerischer
Begeisterung
geglüht
hat -
denken
wir uns, wie es jenem
Auge
versagt
war, in die
dionysischen
Abgründe
mit
Wohlgefallen
zu
schauen
- was
eigentlich
musste
es in der "
erhabenen
und
hochgepriesenen
"
tragischen
Kunst
, wie sie
Plato
nennt
,
erblicken
? Etwas
recht
Unvernünftiges
, mit
Ursachen
, die ohne
Wirkungen
, und mit
Wirkungen
, die ohne
Ursachen
zu
sein
schienen
, dazu das
Ganze
so
bunt
und
mannichfaltig
,
dass
es einer
besonnenen
Gemüthsart
widerstreben
müsse
,
für
reizbare
und
empfindliche
Seelen
aber ein
gefährlicher
Zunder
sei
. Wir
wissen
,
welche
einzige
Gattung
der
Dichtkunst
von
ihm
begriffen
wurde
, die
aesopische
Fabel
: und dies
geschah
gewiss
mit
jener
lächelnden
Anbequemung
, mit
welcher
der
ehrliche
gute
Gellert
in der
Fabel
von der
Biene
und der
Henne
das
Lob
der
Poesie
singt
:
"Du
siehst
an mir, wozu sie
nützt
,
Dem, der nicht viel
Verstand
besitzt
Die
Wahrheit
durch ein
Bild
zu
sagen
".
Nun aber
schien
Sokrates
die
tragische
Kunst
nicht
einmal
"die
Wahrheit
zu
sagen
":
abgesehen
davon,
dass
sie sich an den
wendet
, der "nicht viel
Verstand
besitzt
", also nicht an den
Philosophen
: ein
zweifacher
Grund
, von ihr
fern
zu
bleiben
. Wie
Plato
,
rechnete
er sie zu den
schmeichlerischen
Künsten
, die nur das
Angenehme
, nicht das
Nützliche
darstellen
und
verlangte
deshalb bei seinen
Jüngern
Enthaltsamkeit
und
strenge
Absonderung
von
solchen
unphilosophischen
Reizungen
; mit
solchem
Erfolge
,
dass
der
jugendliche
Tragödiendichter
Plato
zu
allererst
seine
Dichtungen
verbrannte
, um
Schüler
des
Sokrates
werden zu
können
. Wo aber
unbesiegbare
Anlagen
gegen die
sokratischen
Maximen
ankämpften
, war die
Kraft
derselben
,
sammt
der
Wucht
jenes
ungeheuren
Charakters
, immer noch
gross
genug, um die
Poesie
selbst in
neue
und bis
dahin
unbekannte
Stellungen
zu
drängen
.
Ein
Beispiel
dafür ist der
eben
genannte
Plato
: er, der in der
Verurtheilung
der
Tragödie
und der
Kunst
überhaupt
gewiss
nicht hinter dem
naiven
Cynismus
seines
Meisters
zurückgeblieben
ist, hat doch aus
voller
künstlerischer
Nothwendigkeit
eine
Kunstform
schaffen
müssen
, die
gerade
mit den
vorhandenen
und von
ihm
abgewiesenen
Kunstformen
innerlich
verwandt
ist. Der
Hauptvorwurf
, den
Plato
der
älteren
Kunst
zu
machen
hatte, -
dass
sie
Nachahmung
eines
Scheinbildes
sei
, also noch einer
niedrigeren
Sphäre
als die
empirische
Welt
ist,
angehöre
-
durfte
vor
allem nicht gegen das
neue
Kunstwerk
gerichtet
werden: und so
sehen
wir
denn
Plato
bestrebt
über die
Wirklichkeit
hinaus zu
gehn
und die
jener
Pseudo-Wirklichkeit
zu
Grunde
liegende
Idee
darzustellen
. Damit aber war der
Denker
Plato
auf einem
Umwege
ebendahin
gelangt
, wo er als
Dichter
stets
heimisch
gewesen
war und von wo aus
Sophokles
und die
ganze
ältere
Kunst
feierlich
gegen
jenen
Vorwurf
protestirten
. Wenn die
Tragödie
alle
früheren
Kunstgattungen
in sich
aufgesaugt
hatte, so
darf
dasselbe
wiederum
in einem
excentrischen
Sinne
vom
platonischen
Dialoge
gelten
, der, durch
Mischung
aller
vorhandenen
Stile
und
Formen
erzeugt
, zwischen
Erzählung
,
Lyrik
,
Drama
, zwischen
Prosa
und
Poesie
in der
Mitte
schwebt
und damit auch das
strenge
ältere
Gesetz
der
einheitlichen
sprachlichen
Form
durchbrochen
hat; auf
welchem
Wege
die
cynischen
Schriftsteller
noch weiter
gegangen
sind, die in der
grössten
Buntscheckigkeit
des
Stils
, im
Hin-
und
Herschwanken
zwischen
prosaischen
und
metrischen
Formen
auch das
litterarische
Bild
des "
rasenden
Sokrates
", den sie im
Leben
darzustellen
pflegten
,
erreicht
haben. Der
platonische
Dialog
war
gleichsam
der
Kahn
, auf dem sich die
schiffbrüchige
ältere
Poesie
sammt
allen
ihren
Kindern
rettete
: auf einen
engen
Raum
zusammengedrängt
und dem einen
Steuermann
Sokrates
ängstlich
unterthänig
fuhren
sie jetzt in eine
neue
Welt
hinein, die an dem
phantastischen
Bilde
dieses
Aufzugs
sich
nie
satt
sehen
konnte.
Wirklich
hat
für
die
ganze
Nachwelt
Plato
das
Vorbild
einer
neuen
Kunstform
gegeben
, das
Vorbild
des
Roman
'
s
: der als die
unendlich
gesteigerte
aesopische
Fabel
zu
bezeichnen
ist, in der die
Poesie
in einer
ähnlichen
Rangordnung
zur
dialektischen
Philosophie
lebt
, wie viele
Jahrhunderte
hindurch
dieselbe
Philosophie
zur
Theologie
:
nämlich
als
ancilla
. Dies war die
neue
Stellung
der
Poesie
, in die sie
Plato
unter dem
Drucke
des
dämonischen
Sokrates
drängte
.
Hier
überwächst
der
philosophische
Gedanke
die
Kunst
und
zwingt
sie zu einem
engen
Sich-
Anklammern
an den
Stamm
der
Dialektik
. In dem
logischen
Schematismus
hat sich die
apollinische
Tendenz
verpuppt
: wie wir bei
Euripides
etwas
Entsprechendes
und ausserdem eine
Uebersetzung
des
Dionysischen
in den
naturalistischen
Affect
wahrzunehmen
hatten.
Sokrates
, der
dialektische
Held
im
platonischen
Drama
,
erinnert
uns an die
verwandte
Natur
des
euripideischen
Helden
, der durch
Grund
und
Gegengrund
seine
Handlungen
vertheidigen
muss
und
dadurch
so
oft
in
Gefahr
geräth
, unser
tragisches
Mitleiden
einzubüssen
:
denn
wer
vermöchte
das
optimistische
Element
im
Wesen
der
Dialektik
zu
verkennen
, das in jedem
Schlusse
sein
Jubelfest
feiert
und allein in
kühler
Helle
und
Bewusstheit
athmen
kann: das
optimistische
Element
, das,
einmal
in die
Tragödie
eingedrungen
, ihre
dionysischen
Regionen
allmählich
überwuchern
und sie
nothwendig
zur
Selbstvernichtung
treiben
muss
- bis zum
Todessprunge
in'
s
bürgerliche
Schauspiel
. Man
vergegenwärtige
sich nur die
Consequenzen
der
sokratischen
Sätze
: "
Tugend
ist
Wissen
; es wird nur
gesündigt
aus
Unwissenheit
; der
Tugendhafte
ist der
Glückliche
": in diesen drei
Grundformen
des
Optimismus
liegt
der
Tod
der
Tragödie
.
Denn
jetzt
muss
der
tugendhafte
Held
Dialektiker
sein
, jetzt
muss
zwischen
Tugend
und
Wissen
,
Glaube
und
Moral
ein
nothwendiger
sichtbarer
Verband
sein
, jetzt ist die
transscendentale
Gerechtigkeitslösung
des
Aeschylus
zu dem
flachen
und
frechen
Princip
der "
poetischen
Gerechtigkeit
" mit seinem
üblichen
deus
ex
machina
erniedrigt
.
Wie
erscheint
dieser
neuen
sokratisch-optimistischen
Bühnenwelt
gegenüber
jetzt der
Chor
und
überhaupt
der
ganze
musikalisch-dionysische
Untergrund
der
Tragödie
? Als etwas
Zufälliges
, als eine auch
wohl
zu
missende
Reminiscenz
an den
Ursprung
der
Tragödie
;
während
wir doch
eingesehen
haben,
dass
der
Chor
nur als
Ursache
der
Tragödie
und des
Tragischen
überhaupt
verstanden
werden kann. Schon bei
Sophokles
zeigt
sich
jene
Verlegenheit
in
Betreff
des
Chors
- ein
wichtiges
Zeichen
,
dass
schon bei
ihm
der
dionysische
Boden
der
Tragödie
zu
zerbröckeln
beginnt
. Er
wagt
es nicht mehr, dem
Chor
den
Hauptantheil
der
Wirkung
anzuvertrauen
,
sondern
schränkt
sein
Bereich
dermaassen
ein,
dass
er jetzt fast den
Schauspielern
coordinirt
erscheint
,
gleich
als ob er aus der
Orchestra
in die
Scene
hineingehoben
würde
: womit
freilich
sein
Wesen
völlig
zerstört
ist,
mag
auch
Aristoteles
gerade
dieser
Auffassung
des
Chors
seine
Beistimmung
geben
.
Jene
Verrückung
der
Chorposition
,
welche
Sophokles
jedenfalls
durch seine
Praxis
und, der
Ueberlieferung
nach, sogar durch eine
Schrift
anempfohlen
hat, ist der
erste
Schritt
zur
Vernichtung
des
Chors
, deren
Phasen
in
Euripides
,
Agathon
und der
neueren
Komödie
mit
erschreckender
Schnelligkeit
auf
einander
folgen
. Die
optimistische
Dialektik
treibt
mit der
Geissel
ihrer
Syllogismen
die
Musik
aus der
Tragödie
:
d
.
h
. sie
zerstört
das
Wesen
der
Tragödie
,
welches
sich
einzig
als eine
Manifestation
und
Verbildlichung
dionysischer
Zustände
, als
sichtbare
Symbolisirung
der
Musik
, als die
Traumwelt
eines
dionysischen
Rausches
interpretiren
lässt
.
Haben wir also sogar eine schon
vor
Sokrates
wirkende
antidionysische
Tendenz
anzunehmen
, die nur in
ihm
einen
unerhört
grossartigen
Ausdruck
gewinnt
: so
müssen
wir nicht
vor
der
Frage
zurückschrecken
,
wohin
denn
eine solche
Erscheinung
wie die des
Sokrates
deute
: die wir doch nicht im
Stande
sind,
Angesichts
der
platonischen
Dialoge
, als eine nur
auflösende
negative
Macht
zu
begreifen
. Und so
gewiss
die
allernächste
Wirkung
des
sokratischen
Triebes
auf eine
Zersetzung
der
dionysischen
Tragödie
ausging
, so
zwingt
uns eine
tiefsinnige
Lebenserfahrung
des
Sokrates
selbst zu der
Frage
, ob
denn
zwischen dem
Sokratismus
und der
Kunst
nothwendig
nur ein
antipodisches
Verhältniss
bestehe
und ob die
Geburt
eines "
künstlerischen
Sokrates
"
überhaupt
etwas in sich
Widerspruchsvolles
sei
.
Jener
despotische
Logiker
hatte
nämlich
hier und
da
der
Kunst
gegenüber
das
Gefühl
einer
Lücke
, einer
Leere
, eines
halben
Vorwurfs
, einer vielleicht
versäumten
Pflicht
.
Oefters
kam
ihm
, wie er im
Gefängniss
seinen
Freunden
erzählt
, ein und
dieselbe
Traumerscheinung
, die immer
dasselbe
sagte
: "
Sokrates
,
treibe
Musik
!" Er
beruhigt
sich bis zu seinen
letzten
Tagen
mit der
Meinung
,
sein
Philosophieren
sei
die
höchste
Musenkunst
, und
glaubt
nicht
recht
,
dass
eine
Gottheit
ihn
an
jene
"
gemeine
,
populäre
Musik
"
erinnern
werde
.
Endlich
im
Gefängniss
versteht
er sich, um
sein
Gewissen
gänzlich
zu
entlasten
, auch dazu,
jene
von
ihm
gering
geachtete
Musik
zu
treiben
. Und in dieser
Gesinnung
dichtet
er ein
Proömium
auf
Apollo
und
bringt
einige
aesopische
Fabeln
in
Verse
. Das war etwas der
dämonischen
warnenden
Stimme
Aehnliches
, was
ihn
zu diesen
Uebungen
drängte
, es war seine
apollinische
Einsicht
,
dass
er wie ein
Barbarenkönig
ein
edles
Götterbild
nicht
verstehe
und in der
Gefahr
sei
, sich an einer
Gottheit
zu
versündigen
- durch
sein
Nichtsverstehn
.
Jenes
Wort
der
sokratischen
Traumerscheinung
ist das
einzige
Zeichen
einer
Bedenklichkeit
über die
Grenzen
der
logischen
Natur
: vielleicht - so
musste
er sich
fragen
- ist das mir
Nichtverständliche
doch nicht auch
sofort
das
Unverständige
? Vielleicht
giebt
es ein
Reich
der
Weisheit
, aus dem der
Logiker
verbannt
ist? Vielleicht ist die
Kunst
sogar ein
nothwendiges
Correlativum
und
Supplement
der
Wissenschaft
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