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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
IntraText CT - Text
Vorwort an Richard Wagner.
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15.
Im
Sinne
dieser
letzten
ahnungsvollen
Fragen
muss
nun
ausgesprochen
werden, wie der
Einfluss
des
Sokrates
, bis auf diesen
Moment
hin, ja in alle
Zukunft
hinaus, sich,
gleich
einem in der
Abendsonne
immer
grösser
werdenden
Schatten
, über die
Nachwelt
hin
ausgebreitet
hat, wie
derselbe
zur
Neuschaffung
der
Kunst
- und zwar der
Kunst
im
bereits
metaphysischen
,
weitesten
und
tiefsten
Sinne
- immer wieder
nöthigt
und, bei seiner
eignen
Unendlichkeit
, auch deren
Unendlichkeit
verbürgt
.
Bevor
dies
erkannt
werden konnte,
bevor
die
innerste
Abhängigkeit
jeder
Kunst
von den
Griechen
, den
Griechen
von
Homer
bis auf
Sokrates
,
überzeugend
dargethan
war,
musste
es uns mit diesen
Griechen
ergehen
wie den
Athenern
mit
Sokrates
. Fast jede
Zeit
und
Bildungsstufe
hat
einmal
sich mit
tiefem
Missmuthe
von den
Griechen
zu
befreien
gesucht
, weil
Angesichts
derselben
alles
Selbstgeleistete
,
scheinbar
völlig
Originelle
, und
recht
aufrichtig
Bewunderte
plötzlich
Farbe
und
Leben
zu
verlieren
schien
und zur
misslungenen
Copie
, ja zur
Caricatur
zusammenschrumpfte
. Und so
bricht
immer von
Neuem
einmal
der
herzliche
Ingrimm
gegen
jenes
anmaassliche
Völkchen
hervor
das sich
erkühnte
, alles
Nichteinheimische
für
alle
Zeiten
als "
barbarisch
" zu
bezeichnen
: wer sind
jene
,
fragt
man sich, die,
obschon
sie nur einen
ephemeren
historischen
Glanz
, nur
lächerlich
engbegrenzte
Institutionen
, nur eine
zweifelhafte
Tüchtigkeit
der
Sitte
aufzuweisen
haben und sogar mit
hässlichen
Lastern
gekennzeichnet
sind, doch die
Würde
und
Sonderstellung
unter den
Völkern
in
Anspruch
nehmen
, die dem
Genius
unter der
Masse
zukommt
?
Leider
war man nicht so
glücklich
den
Schierlingsbecher
zu
finden
, mit dem ein
solches
Wesen
einfach
abgethan
werden konnte:
denn
alles
Gift
, das
Neid
,
Verläumdung
und
Ingrimm
in sich
erzeugten
,
reichte
nicht hin,
jene
selbstgenugsame
Herrlichkeit
zu
vernichten
. Und so
schämt
und
fürchtet
man sich
vor
den
Griechen
; es
sei
denn
,
dass
Einer die
Wahrheit
über alles
achte
und so sich auch diese
Wahrheit
einzugestehn
wage
,
dass
die
Griechen
unsere
und
jegliche
Cultur
als
Wagenlenker
in den
Händen
haben,
dass
aber
fase
immer
Wagen
und
Pferde
von zu
geringem
Stoffe
und der
Glorie
ihrer
Führer
unangemessen
sind, die dann es
für
einen
Scherz
erachten
, ein
solches
Gespann
in den
Abgrund
zu
jagen
: über den sie selbst, mit dem
Sprunge
des
Achilles
,
hinwegsetzen
.
Um die
Würde
einer
solchen
Führerstellung
auch
für
Sokrates
zu
erweisen
,
genügt
es in
ihm
den
Typus
einer
vor
ihm
unerhörten
Daseinsform
zu
erkennen
, den
Typus
des
theoretischen
Menschen
, über dessen
Bedeutung
und
Ziel
zur
Einsicht
zu
kommen
,
unsere
nächste
Aufgabe
ist. Auch der
theoretische
Mensch
hat ein
unendliches
Genügen
am
Vorhandenen
, wie der
Künstler
, und ist wie
jener
vor
der
praktischen
Ethik
des
Pessimismus
und
vor
seinen nur im
Finsteren
leuchtenden
Lynkeusaugen
, durch
jenes
Genügen
geschützt
. Wenn
nämlich
der
Künstler
bei jeder
Enthüllung
der
Wahrheit
immer nur mit
verzückten
Blicken
an dem
hängen
bleibt
, was auch jetzt, nach der
Enthüllung
, noch
Hülle
bleibt
,
geniesst
und
befriedigt
sich der
theoretische
Mensch
an der
abgeworfenen
Hülle
und hat
sein
höchstes
Lustziel
in dem
Prozess
einer immer
glücklichen
, durch eigene
Kraft
gelingenden
Enthüllung
. Es
gäbe
keine
Wissenschaft
, wenn ihr nur um
jene
eine
nackte
Göttin
und um nichts
Anderes
zu
thun
wäre
.
Denn
dann
müsste
es ihren
Jüngern
zu
Muthe
sein
, wie
Solchen
, die ein
Loch
gerade
durch die
Erde
graben
wollten
: von denen ein Jeder
einsieht
,
dass
er, bei
grösster
und
lebenslänglicher
Anstrengung
, nur ein
ganz
kleines
Stück
der
ungeheuren
Tiefe
zu
durchgraben
im
Stande
sei
,
welches
vor
seinen
Augen
durch die
Arbeit
des
Nächsten
wieder
überschüttet
wird, so
dass
ein
Dritter
wohl
daran zu
thun
scheint
, wenn er auf
eigne
Faust
eine
neue
Stelle
für
seine
Bohrversuche
wählt
. Wenn jetzt nun Einer zur
Ueberzeugung
beweist
,
dass
auf diesem
directen
Wege
das
Antipodenziel
nicht zu
erreichen
sei
, wer wird noch in den
alten
Tiefen
weiterarbeiten
wollen
, es
sei
denn
,
dass
er sich nicht inzwischen
genügen
lasse
,
edles
Gestein
zu
finden
oder
Naturgesetze
zu
entdecken
. Darum hat
Lessing
, der
ehrlichste
theoretische
Mensch
, es
auszusprechen
gewagt
,
dass
ihm
mehr am
Suchen
der
Wahrheit
als an ihr selbst
gelegen
sei
: womit das
Grundgeheimniss
der
Wissenschaft
, zum
Erstaunen
, ja
Aerger
der
Wissenschaftlichen
,
aufgedeckt
worden
ist. Nun
steht
freilich
neben dieser
vereinzelten
Erkenntniss
, als einem
Excess
der
Ehrlichkeit
, wenn nicht des
Uebermuthes
, eine
tiefsinnige
Wahnvorstellung
,
welche
zuerst
in der
Person
des
Sokrates
zur
Welt
kam
,
jener
unerschütterliche
Glaube
,
dass
das
Denken
, an dem
Leitfaden
der
Causalität
, bis in die
tiefsten
Abgründe
des
Seins
reiche
, und
dass
das
Denken
das
Sein
nicht nur zu
erkennen
,
sondern
sogar zu
corrigiren
im
Stande
sei
. Dieser
erhabene
metaphysische
Wahn
ist als
Instinct
der
Wissenschaft
beigegeben
und
führt
sie immer und immer wieder zu ihren
Grenzen
, an denen sie in
Kunst
umschlagen
muss
: auf
welchees
eigentlich
, bei diesem
Mechanismus
,
abgesehn
ist.
Schauen
wir jetzt, mit der
Fackel
dieses
Gedankens
, auf
Sokrates
hin: so
erscheint
er uns als der
Erste
, der an der
Hand
jenes
Instinctes
der
Wissenschaft
nicht nur
leben
,
sondern
- was bei
weitem
mehr ist - auch
sterben
konnte: und deshalb ist das
Bild
des
sterbenden
Sokrates
als des durch
Wissen
und
Gründe
der
Todesfurcht
enthobenen
Menschen
das
Wappenschild
, das über dem
Eingangsthor
der
Wissenschaft
einen
Jeden
an deren
Bestimmung
erinnert
,
nämlich
das
Dasein
als
begreiflich
und damit als
gerechtfertigt
erscheinen
zu
machen
: wozu
freilich
wenn die
Gründe
nicht
reichen
,
schliesslich
auch der
Mythus
dienen
muss
, den ich sogar als
nothwendige
Consequenz
, ja als
Absicht
der
Wissenschaft
soeben
bezeichnete
.
Wer sich
einmal
anschaulich
macht
, wie nach
Sokrates
, dem
Mystagogen
der
Wissenschaft
, eine
Philosophenschule
nach der
anderen
, wie
Welle
auf
Welle
, sich
ablöst
, wie eine
nie
geahnte
Universalität
der
Wissensgier
in dem
weitesten
Bereich
der
gebildeten
Welt
und als
eigentliche
Aufgabe
für
jeden
höher
Befähigten
die
Wissenschaft
auf die
hohe
See
führte
, von der sie
niemals
seitdem
wieder
völlig
vertrieben
werden konnte, wie durch diese
Universalität
erst
ein
gemeinsames
Netz
des
Gedankens
über den
gesammten
Erdball
, ja mit
Ausblicken
auf die
Gesetzlichkeit
eines
ganzen
Sonnensystems
,
gespannt
wurde
; wer dies Alles,
sammt
der
erstaunlich
hohen
Wissenspyramide
der
Gegenwart
, sich
vergegenwärtigt
, der kann sich nicht
entbrechen
, in
Sokrates
den einen
Wendepunkt
und
Wirbel
der
sogenannten
Weltgeschichte
zu
sehen
.
Denn
dächte
man sich
einmal
diese
ganze
unbezifferbare
Summe
von
Kraft
, die
für
jene
Welttendenz
verbraucht
worden
ist, nicht im
Dienste
des
Erkennens
,
sondern
auf die
praktischen
d
.
h
.
egoistischen
Ziele
der
Individuen
und
Völker
verwendet
, so
wäre
wahrscheinlich
in
allgemeinen
Vernichtungskämpfen
und
fortdauernden
Völkerwanderungen
die
instinctive
Lust
zum
Leben
so
abgeschwächt
,
dass
, bei der
Gewohnheit
des
Selbstmordes
, der
Einzelne
vielleicht den
letzten
Rest
von
Pflichtgefühl
empfinden
müsste
, wenn er, wie der
Bewohner
der
Fidschiinseln
, als
Sohn
seine
Eltern
, als
Freund
seinen
Freund
erdrosselt
: ein
praktischer
Pessimismus
, der selbst eine
grausenhafte
Ethik
des
Völkermordes
aus
Mitleid
erzeugen
könnte
- der
übrigens
überall
in der
Welt
vorhanden
ist und
vorhanden
war, wo nicht die
Kunst
in
irgend
welchen
Formen
,
besonders
als
Religion
und
Wissenschaft
, zum
Heilmittel
und zur
Abwehr
jenes
Pesthauchs
erschienen
ist.
Angesichts
dieses
praktischen
Pessimismus
ist
Sokrates
das
Urbild
des
theoretischen
Optimisten
, der in dem
bezeichneten
Glauben
an die
Ergründlichkeit
der
Natur
der
Dinge
dem
Wissen
und der
Erkenntniss
die
Kraft
einer
Universalmedizin
beilegt
und im
Irrthum
das
Uebel
an sich
begreift
. In
jene
Gründe
einzudringen
und die
wahre
Erkenntniss
vom
Schein
und vom
Irrthum
zu
sondern
,
dünkte
dem
sokratischen
Menschen
der
edelste
, selbst der
einzige
wahrhaft
menschliche
Beruf
zu
sein
: so wie
jener
Mechanismus
der
Begriffe
,
Urtheile
und
Schlüsse
von
Sokrates
ab als
höchste
Bethätigung
und
bewunderungswürdigste
Gabe
der
Natur
über alle
anderen
Fähigkeiten
geschätzt
wurde
. Selbst die
erhabensten
sittlichen
Thaten
, die
Regungen
des
Mitleids
, der
Aufopferung
, des
Heroismus
und
jene
schwer
zu
erringende
Meeresstille
der
Seele
, die der
apollinische
Grieche
Sophrosyne
nannte
,
wurden
von
Sokrates
und seinen
gleichgesinnten
Nachfolgern
bis auf die
Gegenwart
hin aus der
Dialektik
des
Wissens
abgeleitet
und
demgemäss
als
lehrbar
bezeichnet
. Wer die
Lust
einer
sokratischen
Erkenntniss
an sich
erfahren
hat und
spürt
, wie diese, in immer
weiteren
Ringen
, die
ganze
Welt
der
Erscheinungen
zu
umfassen
sucht
, der wird von
da
an
keinen
Stachel
, der zum
Dasein
drängen
könnte
,
heftiger
empfinden
als die
Begierde
,
jene
Eroberung
zu
vollenden
und das
Netz
undurchdringbar
fest
zu
spinnen
. Einem so
Gestimmten
erscheint
dann der
platonische
Sokrates
als der
Lehrer
einer
ganz
neuen
Form
der "
griechischen
Heiterkeit
" und
Daseinsseligkeit
,
welche
sich in
Handlungen
zu
entladen
sucht
und diese
Entladung
zumeist
in
maeeutischen
und
erziehenden
Einwirkungen
auf
edle
Jünglinge
, zum
Zweck
der
endlichen
Erzeugung
des
Genius
,
finden
wird.
Nun aber
eilt
die
Wissenschaft
, von ihrem
kräftigen
Wahne
angespornt
,
unaufhaltsam
bis zu ihren
Grenzen
, an denen ihr im
Wesen
der
Logik
verborgener
Optimismus
scheitert
.
Denn
die
Peripherie
des
Kreises
der
Wissenschaft
hat
unendlich
viele
Punkte
, und
während
noch
gar
nicht
abzusehen
ist, wie
jemals
der
Kreis
völlig
ausgemessen
werden
könnte
, so
trifft
doch der
edle
und
begabte
Mensch
, noch
vor
der
Mitte
seines
Daseins
und
unvermeidlich
, auf solche
Grenzpunkte
der
Peripherie
, wo er in das
Unaufhellbare
starrt
. Wenn er hier zu seinem
Schrecken
sieht
, wie die
Logik
sich an diesen
Grenzen
um sich selbst
ringelt
und
endlich
sich in den
Schwanz
beisst
-
da
bricht
die
neue
Form
der
Erkenntniss
durch, die
tragische
Erkenntniss
, die, um nur
ertragen
zu werden, als
Schutz
und
Heilmittel
die
Kunst
braucht
.
Schauen
wir, mit
gestärkten
und an den
Griechen
erlabten
Augen
, auf die
höchsten
Sphären
derjenigen
Welt
, die uns
umfluthet
, so
gewahren
wir die in
Sokrates
vorbildlich
erscheinende
Gier
der
unersättlichen
optimistischen
Erkenntniss
in
tragische
Resignation
und
Kunstbedürftigkeit
umgeschlagen
:
während
allerdings
dieselbe
Gier
, auf ihren
niederen
Stufen
, sich
kunstfeindlich
äussern
und
vornehmlich
die
dionysisch-tragische
Kunst
innerlich
verabscheuen
muss
, wie dies an der
Bekämpfung
der
aeschyleischen
Tragödie
durch den
Sokratismus
beispielsweise
dargestellt
wurde
.
Hier nun
klopfen
wir,
bewegten
Gemüthes
, an die
Pforten
der
Gegenwart
und
Zukunft
: wird
jenes
"
Umschlagen
" zu immer
neuen
Configurationen
des
Genius
und
gerade
des
musiktreibenden
Sokrates
führen
? Wird das über das
Dasein
gebreitete
Netz
der
Kunst
,
sei
es auch unter dem
Namen
der
Religion
oder der
Wissenschaft
, immer
fester
und
zarter
geflochten
werden oder ist
ihm
bestimmt
, unter dem
ruhelos
barbarischen
Treiben
und
Wirbeln
, das sich jetzt "die
Gegenwart
"
nennt
, in
Fetzen
zu
reissen
? -
Besorgt
, doch nicht
trostlos
stehen
wir eine
kleine
Weile
bei
Seite
, als die
Beschaulichen
, denen es
erlaubt
ist,
Zeugen
jener
ungeheuren
Kämpfe
und
Uebergänge
zu
sein
.
Ach
! Es ist der
Zauber
dieser
Kämpfe
,
dass
, wer sie
schaut
, sie auch
kämpfen
muss
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