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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
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Vorwort an Richard Wagner.
18.
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18.
Es ist ein
ewiges
Phänomen
: immer
findet
der
gierige
Wille
ein
Mittel
, durch eine über die
Dinge
gebreitete
Illusion
seine
Geschöpfe
im
Leben
festzuhalten
und zum
Weiterleben
zu
zwingen
. Diesen
fesselt
die
sokratische
Lust
des
Erkennens
und der
Wahn
, durch
dasselbe
die
ewige
Wunde
des
Daseins
heilen
zu
können
,
jenen
umstrickt
der
vor
seinen
Augen
wehende
verführerische
Schönheitsschleier
der
Kunst
,
jenen
wiederum
der
metaphysische
Trost
,
dass
unter dem
Wirbel
der
Erscheinungen
das
ewige
Leben
unzerstörbar
weiterfliesst
: um von den
gemeineren
und fast noch
kräftigeren
Illusionen
, die der
Wille
in jedem
Augenblick
bereithält
, zu
schweigen
.
Jene
drei
Illusionsstufen
sind
überhaupt
nur
für
die
edler
ausgestatteten
Naturen
, von denen die
Last
und
Schwere
des
Daseins
überhaupt
mit
tieferer
Unlust
empfunden
wird und die durch
ausgesuchte
Reizmittel
über diese
Unlust
hinwegzutäuschen
sind. Aus diesen
Reizmitteln
besteht
alles, was wir
Cultur
nennen
:
je
nach der
Proportion
der
Mischungen
haben wir eine
vorzugsweise
sokratische
oder
künstlerische
oder
tragische
Cultur
: oder wenn man
historische
Exemplificationen
erlauben
will: es
giebt
entweder eine
alexandrinische
oder eine
hellenische
oder eine
buddhaistische
Cultur
.
Unsere
ganze
moderne
Welt
ist in dem
Netz
der
alexandrinischen
Cultur
befangen
und
kennt
als
Ideal
den mit
höchsten
Erkenntnisskräften
ausgerüsteten
, im
Dienste
der
Wissenschaft
arbeitenden
theoretischen
Menschen
, dessen
Urbild
und
Stammvater
Sokrates
ist. Alle
unsere
Erziehungsmittel
haben
ursprünglich
dieses
Ideal
im
Auge
: jede
andere
Existenz
hat sich
mühsam
nebenbei
emporzuringen
, als
erlaubte
, nicht als
beabsichtigte
Existenz
. In einem fast
erschreckenden
Sinne
ist hier eine
lange
Zeit
der
Gebildete
allein in der
Form
des
Gelehrten
gefunden
worden
; selbst
unsere
dichterischen
Künste
haben sich aus
gelehrten
Imitationen
entwickeln
müssen
, und in dem
Haupteffect
des
Reimes
erkennen
wir noch die
Entstehung
unserer
poetischen
Form
aus
künstlichen
Experimenten
mit einer nicht
heimischen
,
recht
eigentlich
gelehrten
Sprache
. Wie
unverständlich
müsste
einem
ächten
Griechen
der an sich
verständliche
moderne
Culturmensch
Faust
erscheinen
, der durch alle
Facultäten
unbefriedigt
stürmende
, aus
Wissenstrieb
der
Magie
und dem
Teufel
ergebene
Faust
, den wir nur zur
Vergleichung
neben
Sokrates
zu
stellen
haben, um zu
erkennen
,
dass
der
moderne
Mensch
die
Grenzen
jener
sokratischen
Erkenntnisslust
zu
ahnen
beginnt
und aus dem
weiten
wüsten
Wissensmeere
nach einer
Küste
verlangt
. Wenn
Goethe
einmal
zu
Eckermann
, mit
Bezug
auf
Napoleon
,
äussert
: "Ja mein
Guter
, es
giebt
auch eine
Productivität
der
Thaten
", so hat er, in
anmuthig
naiver
Weise
, daran
erinnert
,
dass
der nicht
theoretische
Mensch
für
den
modernen
Menschen
etwas
Unglaubwürdiges
und
Staunenerregendes
ist, so
dass
es wieder der
Weisheit
eines
Goethe
bedarf
, um auch eine so
befremdende
Existenzform
begreiflich
, ja
verzeihlich
zu
finden
.
Und nun
soll
man sich nicht
verbergen
, was im
Schoosse
dieser
sokratischen
Cultur
verborgen
liegt
! Der
unumschränkt
sich
wähnende
Optimismus
! Nun
soll
man nicht
erschrecken
, wenn die
Früchte
dieses
Optimismus
reifen
, wenn die von einer
derartigen
Cultur
bis in die
niedrigsten
Schichten
hinein
durchsäuerte
Gesellschaft
allmählich
unter
üppigen
Wallungen
und
Begehrungen
erzittert
, wenn der
Glaube
an das
Erdenglück
Aller, wenn der
Glaube
an die
Möglichkeit
einer
solchen
allgemeinen
Wissenscultur
allmählich
in die
drohende
Forderung
eines
solchen
alexandrinischen
Erdenglückes
, in die
Beschwörung
eines
Euripideischen
deus
ex
machina
umschlägt
! Man
soll
es
merken
: die
alexandrinische
Cultur
braucht
einen
Sclavenstand
, um auf die
Dauer
existieren
zu
können
: aber sie
leugnet
, in ihrer
optimistischen
Betrachtung
des
Daseins
, die
Nothwendigkeit
eines
solchen
Standes
und
geht
deshalb, wenn der
Effect
ihrer
schönen
Verführungs
und
Beruhigungsworte
von der "
Würde
des
Menschen
" und der "
Würde
der
Arbeit
"
verbraucht
ist,
allmählich
einer
grauenvollen
Vernichtung
entgegen
. Es
giebt
nichts
Furchtbareres
als einen
barbarischen
Sclavenstand
, der seine
Existenz
als ein
Unrecht
zu
betrachten
gelernt
hat und sich
anschickt
, nicht nur
für
sich,
sondern
für
alle
Generationen
Rache
zu
nehmen
. Wer
wagt
es,
solchen
drohenden
Stürmen
entgegen
,
sicheren
Muthes
an
unsere
blassen
und
ermüdeten
Religionen
zu
appelliren
, die selbst in ihren
Fundamenten
zu
Gelehrtenreligionen
entartet
sind: so
dass
der
Mythus
, die
nothwendige
Voraussetzung
jeder
Religion
,
bereits
überall
gelähmt
ist, und selbst auf diesem
Bereich
jener
optimistische
Geist
zur
Herrschaft
gekommen
ist, den wir als den
Vernichtungskeim
unserer
Gesellschaft
eben
bezeichnet
haben.
Während
das im
Schoosse
der
theoretischen
Cultur
schlummernde
Unheil
allmählich
den
modernen
Menschen
zu
ängstigen
beginnt
, und er,
unruhig
, aus dem
Schatze
seiner
Erfahrungen
nach
Mitteln
greift
, um die
Gefahr
abzuwenden
, ohne selbst an diese
Mittel
recht
zu
glauben
;
während
er also seine
eigenen
Consequenzen
zu
ahnen
beginnt
: haben
grosse
allgemein
angelegte
Naturen
, mit einer
unglaublichen
Besonnenheit
, das
Rüstzeug
der
Wissenschaft
selbst zu
benützen
gewusst
, um die
Grenzen
und die
Bedingtheit
des
Erkennens
überhaupt
darzulegen
und damit den
Anspruch
der
Wissenschaft
auf
universale
Geltung
und
universale
Zwecke
entscheidend
zu
leugnen
: bei
welchem
Nachweise
zum
ersten
Male
jene
Wahnvorstellung
als solche
erkannt
wurde
,
welche
, an der
Hand
der
Causalität
, sich
anmaasst
, das
innerste
Wesen
der
Dinge
ergründen
zu
können
. Der
ungeheuren
Tapferkeit
und
Weisheit
Kant
'
s
und
Schopenhauer
'
s
ist der
schwerste
Sieg
gelungen
, der
Sieg
über den im
Wesen
der
Logik
verborgen
liegenden
Optimismus
, der
wiederum
der
Untergrund
unserer
Cultur
ist. Wenn dieser an die
Erkennbarkeit
und
Ergründlichkeit
aller
Welträthsel
,
gestützt
auf die
ihm
unbedenklichen
aeternae
veritates
,
geglaubt
und
Raum
,
Zeit
und
Causalität
als
gänzlich
unbedingte
Gesetze
von
allgemeinster
Gültigkeit
behandelt
hatte,
offenbarte
Kant
, wie diese
eigentlich
nur dazu
dienten
, die
blosse
Erscheinung
, das
Werk
der
Maja
, zur
einzigen
und
höchsten
Realität
zu
erheben
und sie an die
Stelle
des
innersten
und
wahren
Wesens
der
Dinge
zu
setzen
und die
wirkliche
Erkenntniss
von diesem
dadurch
unmöglich
zu
machen
,
d
.
h
., nach einem
Schopenhauer
'
schen
Ausspruche
, den
Träumer
noch
fester
einzuschläfern
(
W
.
a
.
W
.
u
.
V
.
I
,
p
.
498
). Mit dieser
Erkenntniss
ist eine
Cultur
eingeleitet
,
welche
ich als eine
tragische
zu
bezeichnen
wage
: deren
wichtigstes
Merkmal
ist,
dass
an die
Stelle
der
Wissenschaft
als
höchstes
Ziel
die
Weisheit
gerückt
wird, die sich,
ungetäuscht
durch die
verführerischen
Ablenkungen
der
Wissenschaften
, mit
unbewegtem
Blicke
dem
Gesammtbilde
der
Welt
zuwendet
und in diesem das
ewige
Leiden
mit
sympathischer
Liebesempfindung
als das
eigne
Leiden
zu
ergreifen
sucht
.
Denken
wir uns eine
heranwachsende
Generation
mit dieser
Unerschrockenheit
des
Blicks
, mit diesem
heroischen
Zug
ins
Ungeheure
,
denken
wir uns den
kühnen
Schritt
dieser
Drachentödter
, die
stolze
Verwegenheit
, mit der sie
allen
den
Schwächlichkeitsdoctrinen
jenes
Optimismus
den
Rücken
kehren
, um im
Ganzen
und
Vollen
"
resolut
zu
leben
":
sollte
es nicht
nöthig
sein
,
dass
der
tragische
Mensch
dieser
Cultur
, bei seiner
Selbsterziehung
zum
Ernst
und zum
Schrecken
, eine
neue
Kunst
, die
Kunst
des
metaphysischen
Trostes
, die
Tragödie
als die
ihm
zugehörige
Helena
begehren
und mit
Faust
ausrufen
muss
:
Und
sollt
' ich nicht,
sehnsüchtigster
Gewalt
,
In'
s
Leben
ziehn
die
einzigste
Gestalt
?
Nachdem aber die
sokratische
Cultur
von zwei
Seiten
aus
erschüttert
ist und das
Scepter
ihrer
Unfehlbarkeit
nur noch mit
zitternden
Händen
zu
halten
vermag
,
einmal
aus
Furcht
vor
ihren
eigenen
Consequenzen
, die sie
nachgerade
zu
ahnen
beginnt
,
sodann
weil sie selbst von der
ewigen
Gültigkeit
ihres
Fundamentes
nicht mehr mit dem
früheren
naiven
Zutrauen
überzeugt
ist: so ist es ein
trauriges
Schauspiel
, wie sich der
Tanz
ihres
Denkens
sehnsüchtig
immer auf
neue
Gestalten
stürzt
, um sie zu
umarmen
, und sie dann
plötzlich
wieder, wie
Mephistopheles
die
verführerischen
Lamien
,
schaudernd
fahren
lässt
. Das ist ja das
Merkmal
jenes
"
Bruches
", von dem
Jedermann
als von dem
Urleiden
der
modernen
Cultur
zu
reden
pflegt
,
dass
der
theoretische
Mensch
vor
seinen
Consequenzen
erschrickt
und
unbefriedigt
es nicht mehr
wagt
sich dem
furchtbaren
Eisstrome
des
Daseins
anzuvertrauen
:
ängstlich
läuft
er am
Ufer
auf und ab. Er will nichts mehr
ganz
haben,
ganz
auch mit aller der
natürlichen
Grausamkeit
der
Dinge
.
Soweit
hat
ihn
das
optimistische
Betrachten
verzärtelt
. Dazu
fühlt
er, wie eine
Cultur
, die auf dem
Princip
der
Wissenschaft
aufgebaut
ist, zu
Grunde
gehen
muss
, wenn sie
anfängt
,
unlogisch
zu werden
d
.
h
.
vor
ihren
Consequenzen
zurück
zu
fliehen
.
Unsere
Kunst
offenbart
diese
allgemeine
Noth
:
umsonst
dass
man sich an alle
grossen
productiven
Perioden
und
Naturen
imitatorisch
anlehnt
,
umsonst
dass
man die
ganze
"
Weltlitteratur
" zum
Troste
des
modernen
Menschen
um
ihn
versammelt
und
ihn
mitten
unter die
Kunststile
und
Künstler
aller
Zeiten
hinstellt
, damit er ihnen, wie
Adam
den
Thieren
, einen
Namen
gebe
: er
bleibt
doch der
ewig
Hungernde
, der "
Kritiker
" ohne
Lust
und
Kraft
, der
alexandrinische
Mensch
, der im
Grunde
Bibliothekar
und
Corrector
ist und an
Bücherstaub
und
Druckfehlern
elend
erblindet
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