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Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
IntraText CT - Text
Vorwort an Richard Wagner.
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23.
Wer
recht
genau
sich
selber
prüfen
will, wie sehr er dem
wahren
aesthetischen
Zuhörer
verwandt
ist oder zur
Gemeinschaft
der
sokratisch
-
kritischen
Menschen
gehört
, der
mag
sich nur
aufrichtig
nach der
Empfindung
fragen
, mit der er das auf der
Bühne
dargestellte
Wunder
empfängt
: ob er etwa dabei seinen
historischen
, auf
strenge
psychologische
Causalität
gerichteten
Sinn
beleidigt
fühlt
, ob er mit einer
wohlwollenden
Concession
gleichsam
das
Wunder
als ein der
Kindheit
verständliches
,
ihm
entfremdetes
Phänomen
zulässt
oder ob er
irgend
etwas
Anderes
dabei
erleidet
. Daran
nämlich
wird er
messen
können
, wie
weit
er
überhaupt
befähigt
ist, den
Mythus
, das
zusammengezogene
Weltbild
, zu
verstehen
, der, als
Abbreviatur
der
Erscheinung
, das
Wunder
nicht
entbehren
kann. Das
Wahrscheinliche
ist aber,
dass
fast Jeder, bei
strenger
Prüfung
, sich so durch den
kritisch
-
historischen
Geist
unserer
Bildung
zersetzt
fühle
, um nur etwa auf
gelehrtem
Wege
, durch
vermittelnde
Abstractionen
, sich die
einstmalige
Existenz
des
Mythus
glaublich
zu
machen
. Ohne
Mythus
aber
geht
jede
Cultur
ihrer
gesunden
schöpferischen
Naturkraft
verlustig
:
erst
ein mit
Mythen
umstellter
Horizont
schliesst
eine
ganze
Culturbewegung
zur
Einheit
ab. Alle
Kräfte
der
Phantasie
und des
apollinischen
Traumes
werden
erst
durch den
Mythus
aus ihrem
wahllosen
Herumschweifen
gerettet
. Die
Bilder
des
Mythus
müssen
die
unbemerkt
allgegenwärtigen
dämonischen
Wächter
sein
, unter deren
Hut
die
junge
Seele
heranwächst
, an deren
Zeichen
der Mann sich
sein
Leben
und seine
Kämpfe
deutet
: und selbst der
Staat
kennt
keine
mächtigeren
ungeschriebnen
Gesetze
als das
mythische
Fundament
, das seinen
Zusammenhang
mit der
Religion
,
sein
Herauswachsen
aus
mythischen
Vorstellungen
verbürgt
.
Man
stelle
jetzt
daneben
den
abstracten
, ohne
Mythen
geleiteten
Menschen
, die
abstracte
Erziehung
, die
abstracte
Sitte
, das
abstracte
Recht
, den
abstracten
Staat
: man
vergegenwärtige
sich das
regellose
, von
keinem
heimischen
Mythus
gezügelte
Schweifen
der
künstlerischen
Phantasie
: man
denke
sich eine
Cultur
, die
keinen
festen
und
heiligen
Ursitz
hat,
sondern
alle
Möglichkeiten
zu
erschöpfen
und von
allen
Culturen
sich
kümmerlich
zu
nähren
verurtheilt
ist - das ist die
Gegenwart
, als das
Resultat
jenes
auf
Vernichtung
des
Mythus
gerichteten
Sokratismus
. Und nun
steht
der
mythenlose
Mensch
,
ewig
hungernd
, unter
allen
Vergangenheiten
und
sucht
grabend
und
wühlend
nach
Wurzeln
,
sei
es
dass
er auch in den
entlegensten
Alterthümern
nach ihnen
graben
müsste
.
Worauf
weist
das
ungeheure
historische
Bedürfniss
der
unbefriedigten
modernen
Cultur
, das
Umsichsammeln
zahlloser
anderer
Culturen
, das
verzehrende
Erkennenwollen
, wenn nicht auf den
Verlust
des
Mythus
, auf den
Verlust
der
mythischen
Heimat
, des
mythischen
Mutterschoosses
? Man
frage
sich, ob das
fieberhafte
und so
unheimliche
Sichregen
dieser
Cultur
etwas
Anderes
ist, als das
gierige
Zugreifen
und
Nach-Nahrung-Haschen
des
Hungernden
- und wer
möchte
einer
solchen
Cultur
noch etwas
geben
wollen
, die durch alles, was sie
verschlingt
, nicht zu
sättigen
ist und bei deren
Berührung
sich die
kräftigste
,
heilsamste
Nahrung
in "
Historie
und
Kritik
" zu
verwandeln
pflegt
?
Man
müsste
auch an unserem
deutschen
Wesen
schmerzlich
verzweifeln
, wenn es
bereits
in
gleicher
Weise
mit seiner
Cultur
unlösbar
verstrickt
, ja eins
geworden
wäre
, wie wir das an dem
civilisirten
Frankreich
zu unserem
Entsetzen
beobachten
können
; und das, was
lange
Zeit
der
grosse
Vorzug
Frankreichs
und die
Ursache
seines
ungeheuren
Uebergewichts
war,
eben
jenes
Einssein
von
Volk
und
Cultur
,
dürfte
uns, bei diesem
Anblick
,
nöthigen
, darin das
Glück
zu
preisen
,
dass
diese
unsere
so
fragwürdige
Cultur
bis jetzt mit dem
edeln
Kerne
unseres
Volkscharakters
nichts
gemein
hat. Alle
unsere
Hoffnungen
strecken
sich
vielmehr
sehnsuchtsvoll
nach
jener
Wahrnehmung
aus,
dass
unter diesem
unruhig
auf und nieder
zuckenden
Culturleben
und
Bildungskrampfe
eine
herrliche
,
innerlich
gesunde
,
uralte
Kraft
verborgen
liegt
, die
freilich
nur in
ungeheuren
Momenten
sich
gewaltig
einmal
bewegt
und dann wieder einem
zukünftigen
Erwachen
entgegenträumt
. Aus diesem
Abgrunde
ist die
deutsche
Reformation
hervorgewachsen
: in deren
Choral
die
Zukunftsweise
der
deutschen
Musik
zuerst
erklang
. So
tief
,
muthig
und
seelenvoll
, so
überschwänglich
gut
und
zart
tönte
dieser
Choral
Luther
'
s
, als der
erste
dionysische
Lockruf
, der aus
dichtverwachsenem
Gebüsch
, im
Nahen
des
Frühlings
,
hervordringt
.
Ihm
antwortete
in
wetteiferndem
Wiederhall
jener
weihevoll
übermüthige
Festzug
dionysischer
Schwärmer
, denen wir die
deutsche
Musik
danken
- und denen wir die
Wiedergeburt
des
deutschen
Mythus
danken
werden!
Ich
weiss
,
dass
ich jetzt den
theilnehmend
folgenden
Freund
auf einen
hochgelegenen
Ort
einsamer
Betrachtung
führen
muss
, wo er nur wenige
Gefährten
haben wird, und
rufe
ihm
ermuthigend
zu,
dass
wir uns an
unseren
leuchtenden
Führern
, den
Griechen
,
festzuhalten
haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur
Reinigung
unserer
aesthetischen
Erkenntniss
,
jene
beiden
Götterbilder
entlehnt
, von denen jedes ein
gesondertes
Kunstreich
für
sich
beherrscht
und über deren
gegenseitige
Berührung
und
Steigerung
wir durch die
griechische
Tragödie
zu einer
Ahnung
kamen
. Durch ein
merkwürdiges
Auseinanderreissen
beider
künstlerischen
Urtriebe
musste
uns der
Untergang
der
griechischen
Tragödie
herbeigeführt
erscheinen
: mit
welchem
Vorgange
eine
Degeneration
und
Umwandlung
des
griechischen
Volkscharakters
im
Einklang
war, uns zu
ernstem
Nachdenken
auffordernd
, wie
nothwendig
und
eng
die
Kunst
und das
Volk
,
Mythus
und
Sitte
,
Tragödie
und
Staat
, in ihren
Fundamenten
verwachsen
sind.
Jener
Untergang
der
Tragödie
war
zugleich
der
Untergang
des
Mythus
. Bis
dahin
waren
die
Griechen
unwillkürlich
genöthigt
, alles
Erlebte
sofort
an ihre
Mythen
anzuknüpfen
, ja es nur durch diese
Anknüpfung
zu
begreifen
:
wodurch
auch die
nächste
Gegenwart
ihnen
sofort
sub
specie
aeterni
und in
gewissem
Sinne
als
zeitlos
erscheinen
musste
. In diesen
Strom
des
Zeitlosen
aber
tauchte
sich
eben
so der
Staat
wie die
Kunst
, um in
ihm
vor
der
Last
und der
Gier
des
Augenblicks
Ruhe
zu
finden
. Und
gerade
nur so viel ist ein
Volk
- wie
übrigens
auch ein
Mensch
-
werth
, als es auf seine
Erlebnisse
den
Stempel
des
Ewigen
zu
drücken
vermag
:
denn
damit ist es
gleichsam
entweltlicht
und
zeigt
seine
unbewusste
innerliche
Ueberzeugung
von der
Relativität
der
Zeit
und von der
wahren
,
d
.
h
. der
metaphysischen
Bedeutung
des
Lebens
. Das
Gegentheil
davon
tritt
ein, wenn ein
Volk
anfängt
, sich
historisch
zu
begreifen
und die
mythischen
Bollwerke
um sich
herum
zu
zertrümmern
: womit
gewöhnlich
eine
entschiedene
Verweltlichung
, ein
Bruch
mit der
unbewussten
Metaphysik
seines
früheren
Daseins
, in
allen
ethischen
Consequenzen
,
verbunden
ist. Die
griechische
Kunst
und
vornehmlich
die
griechische
Tragödie
hielt
vor
Allem die
Vernichtung
des
Mythus
auf: man
musste
sie mit
vernichten
, um,
losgelöst
von dem
heimischen
Boden
,
ungezügelt
in der
Wildniss
des
Gedankens
, der
Sitte
und der
That
leben
zu
können
. Auch jetzt noch
versucht
jener
metaphysische
Trieb
, sich eine,
wenngleich
abgeschwächte
Form
der
Verklärung
zu
schaffen
, in dem zum
Leben
drängenden
Sokratismus
der
Wissenschaft
: aber auf den
niederen
Stufen
führte
derselbe
Trieb
nur zu einem
fieberhaften
Suchen
, das sich
allmählich
in ein
Pandämonium
überallher
zusammengehäufter
Mythen
und
Superstitionen
verlor
: in dessen
Mitte
der
Hellene
dennoch
ungestillten
Herzens
sass
, bis er es
verstand
, mit
griechischer
Heiterkeit
und
griechischem
Leichtsinn
, als
Graeculus
,
jenes
Fieber
zu
maskiren
oder in
irgend
einem
orientalisch
dumpfen
Aberglauben
sich
völlig
zu
betäuben
.
Diesem
Zustande
haben wir uns, seit der
Wiedererweckung
des
alexandrinisch
-
römischen
Alterthums
im
fünfzehnten
Jahrhundert
, nach einem
langen
schwer
zu
beschreibenden
Zwischenacte
, in der
auffälligsten
Weise
angenähert
. Auf den
Höhen
dieselbe
überreiche
Wissenslust
,
dasselbe
ungesättigte
Finderglück
,
dieselbe
ungeheure
Verweltlichung
,
daneben
ein
heimatloses
Herumschweifen
, ein
gieriges
Sichdrängen
an
fremde
Tische
, eine
leichtsinnige
Vergötterung
der
Gegenwart
oder
stumpf
betäubte
Abkehr
, Alles
sub
specie
saeculi
, der "
Jetztzeit
":
welche
gleichen
Symptome
auf einen
gleichen
Mangel
im
Herzen
dieser
Cultur
zu
rathen
geben
, auf die
Vernichtung
des
Mythus
. Es
scheint
kaum
möglich
zu
sein
, mit
dauerndem
Erfolge
einen
fremden
Mythus
überzupflanzen
, ohne den
Baum
durch dieses
Ueberpflanzen
heillos
zu
beschädigen
:
welcher
vielleicht
einmal
stark
und
gesund
genug ist,
jenes
fremde
Element
mit
furchtbarem
Kampfe
wieder
auszuscheiden
,
für
gewöhnlich
aber
siech
und
verkümmert
oder in
krankhaftem
Wuchern
sich
verzehren
muss
. Wir
halten
so viel von dem
reinen
und
kräftigen
Kerne
des
deutschen
Wesens
,
dass
wir
gerade
von
ihm
jene
Ausscheidung
gewaltsam
eingepflanzter
fremder
Elemente
zu
erwarten
wagen
und es
für
möglich
erachten
,
dass
der
deutsche
Geist
sich auf sich selbst
zurückbesinnt
. Vielleicht wird
Mancher
meinen,
jener
Geist
müsse
seinen
Kampf
mit der
Ausscheidung
des
Romanischen
beginnen
: wozu er eine
äusserliche
Vorbereitung
und
Ermuthigung
in der
siegreichen
Tapferkeit
und
blutigen
Glorie
des
letzten
Krieges
erkennen
dürfte
, die
innerliche
Nöthigung
aber in dem
Wetteifer
suchen
muss
, der
erhabenen
Vorkämpfer
auf dieser
Bahn
,
Luther
'
s
ebensowohl
als unserer
grossen
Künstler
und
Dichter
,
stets
werth
zu
sein
. Aber
nie
möge
er
glauben
,
ähnliche
Kämpfe
ohne seine
Hausgötter
, ohne seine
mythische
Heimat
, ohne ein "
Wiederbringen
" aller
deutschen
Dinge
,
kämpfen
zu
können
! Und wenn der
Deutsche
zagend
sich nach einem
Führer
umblicken
sollte
, der
ihn
wieder in die
längst
verlorne
Heimat
zurückbringe
, deren
Wege
und
Stege
er
kaum
mehr
kennt
- so
mag
er nur dem
wonnig
lockenden
Rufe
des
dionysischen
Vogels
lauschen
, der über
ihm
sich
wiegt
und
ihm
den
Weg
dahin
deuten
will.
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