Index
|
Wörter
:
alphabetisch
-
Frequenz
-
rückläufig
-
Länge
-
Statistik
|
Hilfe
|
IntraText-Bibliothek
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Geburt der Tragödie
IntraText CT - Text
Vorwort an Richard Wagner.
24.
zurück
-
vor
Hier klicken um die Links zu den Konkordanzen auszublenden
24.
Wir hatten unter den
eigenthümlichen
Kunstwirkungen
der
musikalischen
Tragödie
eine
apollinische
Täuschung
hervorzuheben
, durch die wir
vor
dem
unmittelbaren
Einssein
mit der
dionysischen
Musik
gerettet
werden
sollen
,
während
unsre
musikalische
Erregung
sich auf einem
apollinischen
Gebiete
und an einer
dazwischengeschobenen
sichtbaren
Mittelwelt
entladen
kann. Dabei
glaubten
wir
beobachtet
zu haben, wie
eben
durch diese
Entladung
jene
Mittelwelt
des
scenischen
Vorgangs
,
überhaupt
das
Drama
, in einem
Grade
von
innen
heraus
sichtbar
und
verständlich
wurde
, der in aller
sonstigen
apollinischen
Kunst
unerreichbar
ist: so
dass
wir hier, wo diese
gleichsam
durch den
Geist
der
Musik
beschwingt
und
emporgetragen
war, die
höchste
Steigerung
ihrer
Kräfte
und
somit
in jenem
Bruderbunde
des
Apollo
und des
Dionysus
die
Spitze
ebensowohl
der
apollinischen
als der
dionysischen
Kunstabsichten
anerkennen
mussten
.
Freilich
erreichte
das
apollinische
Lichtbild
gerade
bei der
inneren
Beleuchtung
durch die
Musik
nicht die
eigenthümliche
Wirkung
der
schwächeren
Grade
apollinischer
Kunst
; was das
Epos
oder der
beseelte
Stein
vermögen
, das
anschauende
Auge
zu jenem
ruhigen
Entzücken
an der
Welt
der
individuatio
zu
zwingen
, das
wollte
sich hier,
trotz
einer
höheren
Beseeltheit
und
Deutlichkeit
, nicht
erreichen
lassen
. Wir
schauten
das
Drama
an und
drangen
mit
bohrendem
Blick
in seine
innere
bewegte
Welt
der
Motive
- und doch war uns, als ob nur ein
Gleichnissbild
an uns
vorüberzöge
, dessen
tiefsten
Sinn
wir fast zu
errathen
glaubten
und das wir, wie einen
Vorhang
,
fortzuziehen
wünschten
, um hinter
ihm
das
Urbild
zu
erblicken
. Die
hellste
Deutlichkeit
des
Bildes
genügte
uns nicht:
denn
dieses
schien
eben
sowohl Etwas zu
offenbaren
als zu
verhüllen
; und
während
es mit seiner
gleichnissartigen
Offenbarung
zum
Zerreissen
des
Schleiers
, zur
Enthüllung
des
geheimnissvollen
Hintergrundes
aufzufordern
schien
,
hielt
wiederum
gerade
jene
durchleuchtete
Allsichtbarkeit
das
Auge
gebannt
und
wehrte
ihm
,
tiefer
zu
dringen
.
Wer dies nicht
erlebt
hat,
zugleich
schauen
zu
müssen
und
zugleich
über das
Schauen
hinaus sich zu
sehnen
, wird sich
schwerlich
vorstellen
, wie
bestimmt
und
klar
diese
beiden
Prozesse
bei der
Betrachtung
des
tragischen
Mythus
nebeneinander
bestehen
und
nebeneinander
empfunden
werden:
während
die
wahrhaft
aesthetischen
Zuschauer
mir
bestätigen
werden,
dass
unter den
eigenthümlichen
Wirkungen
der
Tragödie
jenes
Nebeneinander
die
merkwürdigste
sei
. Man
übertrage
sich nun dieses
Phänomen
des
aesthetischen
Zuschauers
in einen
analogen
Prozess
im
tragischen
Künstler
, und man wird die
Genesis
des
tragischen
Mythus
verstanden
haben. Er
theilt
mit der
apollinischen
Kunstsphäre
die
volle
Lust
am
Schein
und am
Schauen
und
zugleich
verneint
er diese
Lust
und hat eine noch
höhere
Befriedigung
an der
Vernichtung
der
sichtbaren
Scheinwelt
. Der
Inhalt
des
tragischen
Mythus
ist
zunächst
ein
episches
Ereigniss
mit der
Verherrlichung
des
kämpfenden
Helden
: woher
stammt
aber
jener
an sich
räthselhafte
Zug
,
dass
das
Leiden
im
Schicksale
des
Helden
, die
schmerzlichsten
Ueberwindungen
, die
qualvollsten
Gegensätze
der
Motive
,
kurz
die
Exemplification
jener
Weisheit
des
Silen
, oder,
aesehetisch
ausgedrückt
, das
Hässliche
und
Disharmonische
, in so
zahllosen
Formen
, mit
solcher
Vorliebe
immer von
Neuem
dargestellt
wird und
gerade
in dem
üppigsten
und
jugendlichsten
Alter
eines
Volkes
, wenn nicht
gerade
an diesem
Allen
eine
höhere
Lust
percipirt
wird?
Denn
dass
es im
Leben
wirklich
so
tragisch
zugeht
,
würde
am
wenigsten
die
Entstehung
einer
Kunstform
erklären
; wenn anders die
Kunst
nicht nur
Nachahmung
der
Naturwirklichkeit
,
sondern
gerade
ein
metaphysisches
Supplement
der
Naturwirklichkeit
ist, zu deren
Ueberwindung
neben sie
gestellt
. Der
tragische
Mythus
,
sofern
er
überhaupt
zur
Kunst
gehört
,
nimmt
auch
vollen
Antheil
an dieser
metaphysischen
Verklärungsabsicht
der
Kunst
überhaupt
: was
verklärt
er aber, wenn er die
Erscheinungswelt
unter dem
Bilde
des
leidenden
Helden
vorführt
? Die "
Realität
". dieser
Erscheinungswelt
am
wenigsten
,
denn
er
sagt
uns
gerade
: "
Seht
hin!
Seht
genau
hin! Dies ist euer
Leben
! Dies ist der
Stundenzeiger
an eurer
Daseinsuhr
!"
Und dieses
Leben
zeigte
der
Mythus
, um es
vor
uns damit zu
verklären
? Wenn aber nicht,
worin
liegt
dann die
aesthetische
Lust
, mit der wir auch
jene
Bilder
an uns
vorüberziehen
lassen
? Ich
frage
nach der
aesthetischen
Lust
und
weiss
recht
wohl
,
dass
viele dieser
Bilder
ausserdem
mitunter
noch eine
moralische
Ergetzung
, etwa unter der
Form
des
Mitleides
oder eines
sittlichen
Triumphes
,
erzeugen
können
. Wer die
Wirkung
des
Tragischen
aber allein aus diesen
moralischen
Quellen
ableiten
wollte
, wie es
freilich
in der
Aesthetik
nur
allzu
lange
üblich
war, der
mag
nur nicht
glauben
, etwas
für
die
Kunst
damit
gethan
zu haben: die
vor
Allem
Reinheit
in ihrem
Bereiche
verlangen
muss
.
Für
die
Erklärung
des
tragischen
Mythus
ist es
gerade
die
erste
Forderung
, die
ihm
eigenthümliche
Lust
in der
rein
aesthetischen
Sphäre
zu
suchen
, ohne in das
Gebiet
des
Mitleids
, der
Furcht
, des
Sittlich
-
Erhabenen
überzugreifen
. Wie kann das
Hässliche
und das
Disharmonische
, der
Inhalt
des
tragischen
Mythus
, eine
aesthetische
Lust
erregen
?
Hier nun wird es
nöthig
, uns mit einem
kühnen
Anlauf
in eine
Metaphysik
der
Kunst
hinein zu
schwingen
,
indem
ich den
früheren
Satz
wiederhole
,
dass
nur als ein
aesthetisches
Phänomen
das
Dasein
und die
Welt
gerechtfertigt
erscheint
: in
welchem
Sinne
uns
gerade
der
tragische
Mythus
zu
überzeugen
hat,
dass
selbst das
Hässliche
und
Disharmonische
ein
künstlerisches
Spiel
ist,
welches
der
Wille
, in der
ewigen
Fülle
seiner
Lust
, mit sich selbst
spielt
. Dieses
schwer
zu
fassende
Urphänomen
der
dionysischen
Kunst
wird aber auf
directem
Wege
einzig
verständlich
und
unmittelbar
erfasst
in der
wunderbaren
Bedeutung
der
musikalischen
Dissonanz
: wie
überhaupt
die
Musik
, neben die
Welt
hingestellt
, allein einen
Begriff
davon
geben
kann, was unter der
Rechtfertigung
der
Welt
als eines
aesthetischen
Phänomens
zu
verstehen
ist. Die
Lust
, die der
tragische
Mythus
erzeugt
, hat eine
gleiche
Heimat
, wie die
lustvolle
Empfindung
der
Dissonanz
in der
Musik
. Das
Dionysische
, mit seiner selbst am
Schmerz
percipirten
Urlust
, ist der
gemeinsame
Geburtsschooss
der
Musik
und des
tragischen
Mythus
.
Sollte
sich nicht inzwischen
dadurch
,
dass
wir die
Musikrelation
der
Dissonanz
zu
Hülfe
nahmen
,
jenes
schwierige
Problem
der
tragischen
Wirkung
wesentlich
erleichtert
haben?
Verstehen
wir doch jetzt, was es
heissen
will, in der
Tragödie
zugleich
schauen
zu
wollen
und sich über das
Schauen
hinaus zu
sehnen
:
welchen
Zustand
wir in
Betreff
der
künstlerisch
verwendeten
Dissonanz
eben
so zu
charakterisiren
hätten
,
dass
wir
hören
wollen
und über das
Hören
uns
zugleich
hinaussehnen
.
Jenes
Streben
in'
s
Unendliche
, der
Flügelschlag
der
Sehnsucht
, bei der
höchsten
Lust
an der
deutlich
percipirten
Wirklichkeit
,
erinnern
daran,
dass
wir in
beiden
Zuständen
ein
dionysisches
Phänomen
zu
erkennen
haben, das uns immer von
Neuem
wieder das
spielende
Aufhauen
und
Zertrümmern
der
Individualwelt
als den
Ausfluss
einer
Urlust
offenbart
, in einer
ähnlichen
Weise
, wie wenn von
Heraklit
dem
Dunklen
die
weltbildende
Kraft
einem
Kinde
verglichen
wird, das
spielend
Steine
hin und her
setzt
und
Sandhaufen
aufbaut
und wieder
einwirft
.
Um also die
dionysische
Befähigung
eines
Volkes
richtig
abzuschätzen
,
dürften
wir nicht nur an die
Musik
des
Volkes
,
sondern
eben
so
nothwendig
an den
tragischen
Mythus
dieses
Volkes
als den
zweiten
Zeugen
jener
Befähigung
zu
denken
haben. Es ist nun, bei dieser
engsten
Verwandtschaft
zwischen
Musik
und
Mythus
, in
gleicher
Weise
zu
vermuthen
,
dass
mit einer
Entartung
und
Depravation
des Einen eine
Verkümmerung
der
Anderen
verbunden
sein
wird: wenn anders in der
Schwächung
des
Mythus
überhaupt
eine
Abschwächung
des
dionysischen
Vermögens
zum
Ausdruck
kommt
. Ueber
Beides
dürfte
uns aber ein
Blick
auf die
Entwicklung
des
deutschen
Wesens
nicht in
Zweifel
lassen
: in der
Oper
wie in dem
abstracten
Charakter
unseres
mythenlosen
Daseins
, in einer zur
Ergetzlichkeit
herabgesunkenen
Kunst
, wie in einem vom
Begriff
geleiteten
Leben
, hatte sich uns
jene
gleich
unkünstlerische
, als am
Leben
zehrende
Natur
des
sokratischen
Optimismus
enthüllt
. Zu unserem
Troste
aber
gab
es
Anzeichen
dafür,
dass
trotzdem der
deutsche
Geist
in
herrlicher
Gesundheit
,
Tiefe
und
dionysischer
Kraft
unzerstört
,
gleich
einem zum
Schlummer
niedergesunknen
Ritter
, in einem
unzugänglichen
Abgrunde
ruhe
und
träume
: aus
welchem
Abgrunde
zu uns das
dionysische
Lied
emporsteigt
, um uns zu
verstehen
zu
geben
,
dass
dieser
deutsche
Ritter
auch jetzt noch seinen
uralten
dionysischen
Mythus
in
selig
-
ernsten
Visionen
träumt
.
Glaube
Niemand,
dass
der
deutsche
Geist
seine
mythische
Heimat
auf
ewig
verloren
habe, wenn er so
deutlich
noch die
Vogelstimmen
versteht
, die von
jener
Heimat
erzählen
. Eines
Tages
wird er sich
wach
finden
, in aller
Morgenfrische
eines
ungeheuren
Schlafes
: dann wird er
Drachen
tödten
, die
tückischen
Zwerge
vernichten
und
Brünnhilde
erwecken
- und
Wotan
'
s
Speer
selbst wird seinen
Weg
nicht
hemmen
können
!
Meine
Freunde
, ihr, die ihr an die
dionysische
Musik
glaubt
, ihr
wisst
auch, was
für
uns die
Tragödie
bedeutet
. In ihr haben wir,
wiedergeboren
aus der
Musik
, den
tragischen
Mythus
- und in
ihm
dürft
ihr Alles
hoffen
und das
Schmerzlichste
vergessen
! Das
Schmerzlichste
aber ist
für
uns alle - die
lange
Entwürdigung
, unter der der
deutsche
Genius
,
entfremdet
von
Haus
und
Heimat
, im
Dienst
tückischer
Zwerge
lebte
. Ihr
versteht
das
Wort
- wie ihr auch, zum
Schluss
, meine
Hoffnungen
verstehen
werdet
.
zurück
-
vor
Index
|
Wörter
:
alphabetisch
-
Frequenz
-
rückläufig
-
Länge
-
Statistik
|
Hilfe
|
IntraText-Bibliothek
Best viewed with any browser at 800x600 or 768x1024 on Tablet PC
IntraText®
(V89) - Some rights reserved by
EuloTech SRL
- 1996-2007. Content in this page is licensed under a
Creative Commons License