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Immanuel Kant
Kritik der reinen Vernunft

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Dritter Abschnitt
Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite
Da haben wir nun das ganze dialektische Spiel der kosmologischen Ideen, die es gar nicht verstatten, daß ihnen ein kongruierender Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werde, ja nicht einmal, daß die Vernunft sie einstimmig mit allgemeinen Erfahrungsgesetzen denke, die gleichwohl doch nicht willkürlich erdacht sind, sondern auf welche die Vernunft im kontinuierlichen Fortgange der empirischen Synthesis notwendig geführt wird, wenn sie das, was nach Regeln der Erfahrung jederzeit nur bedingt bestimmt werden kann, von aller Bedingung befreien und in seiner unbedingten Totalität fassen will. Diese vernünftelnden Behauptungen sind so viele Versuche, vier natürliche und unvermeidliche Probleme der Vernunft aufzulösen, deren es also nur gerade so viel, nicht mehr, auch nicht weniger, geben kann, weil es nicht mehr Reihen synthetischer Voraussetzungen gibt, welche die empirische Synthesis a priori begrenzen.
Wir haben die glänzenden Anmaßungen der ihr Gebiet über alle Grenzen der Erfahrung erweiternden Vernunft nur in trockenen Formeln, welche bloß den Grund ihrer rechtlichen Ansprüche enthalten, vorgestellt, und, wie es einer Transzendentalphilosophie geziemt, diese von allem Empirischen entkleidet, obgleich die ganze Pracht der Vernunftbehauptungen nur in Verbindung mit demselben hervorleuchten kann. In dieser Anwendung aber, und der fortschreitenden Erweiterung des Vernunftgebrauchs, indem sie von dem Felde der Erfahrungen anhebt, und sich bis zu diesen erhabenen Ideen allmählich hinaufschwingt, zeigt die Philosophie eine Würde, welche, wenn sie ihre Anmaßungen nur behaupten könnte, den Wert aller anderen menschlichen Wissenschaft weit unter sich lassen würde, indem sie die Grundlage zu unseren größesten Erwartungen und Aussichten auf die letzten Zwecke, in welchen alle Vernunftbemühungen sich endlich vereinigen müssen, verheißt. Die Fragen: ob die Welt einen Anfang und irgendeine Grenze ihrer Ausdehnung im Raume habe, ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben müssen: das sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahingäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegentsten Zwecke der Menschheit keine Befriedigung verschaffen. Selbst die eigentliche Würde der Mathematik (dieses Stolzes der menschlichen Vernunft) beruht darauf, daß, da sie der Vernunft die Leitung gibt, die Natur im Großen sowohl als im Kleinen in ihrer Ordnung und Regelmäßigkeit, imgleichen in der bewunderungswürdigen Einheit der sie bewegenden Kräfte, weit über alle Erwartung der auf gemeine Erfahrung bauenden Philosophie einzusehen, sie dadurch selbst zu dem über alle Erfahrung erweiterten Gebrauch der Vernunft, Anlaß und Aufmunterung gibt, imgleichen die damit beschäftigte Weltweisheit mit den vortrefflichsten Materialien versorgt, ihre Nachforschung, so viel deren Beschaffenheit es erlaubt, durch angemessene Anschauungen zu unterstützen.
Unglücklicherweise für die Spekulation (vielleicht aber zum Glück für die praktische Bestimmung des Menschen) sieht sich die Vernunft, mitten unter ihren größesten Erwartungen, in einem Gedränge von Gründen und Gegengründen so befangen, daß, da es sowohl ihrer Ehre, als auch sogar ihrer Sicherheit wegen nicht tunlich ist, sich zurückzuziehen, und diesem Zwist als einem bloßen Spielgefechte gleichgültig zuzusehen, noch weniger schlechthin Friede zu gebieten, weil der Gegenstand des Streits sehr interessiert, ihr nichts weiter übrigbleibt, als über den Ursprung dieser Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst nachzusinnen, ob nicht etwa ein bloßer Mißverstand daran schuld sei, nach dessen Erörterung zwar beiderseits stolze Ansprüche vielleicht wegfallen, aber dafür ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne seinen Anfang nehmen würde.
Wir wollen vorjetzt diese gründliche Erörterung noch etwas aussetzen, und zuvor in Erwägung ziehen: auf welche Seite wir uns wohl am liebsten schlagen möchten, wenn wir etwa genötigt würden, Partei zu nehmen. Da wir in diesem Falle, nicht den logischen Probierstein der Wahrheit, sondern bloß unser Interesse befragen, so wird eine solche Untersuchung, ob sie gleich in Ansehung des streitigen Rechts beider Teile nichts ausmacht, dennoch den Nutzen haben, es begreiflich zu machen, warum die Teilnehmer an diesem Streite sich lieber auf die eine Seite, als auf die andere geschlagen haben, ohne daß eben eine vorzügliche Einsicht des Gegenstandes daran Ursache gewesen, angleichen noch andere Nebendinge zu erklären, z.B. die zelotische Hitze des einen und die kalte Behauptung des anderen Teils, warum sie gerne der einen Partei freudigen Beifall zujauchzen, und wider die andere zum voraus, unversöhnlich eingenommen sind.
Es ist aber etwas, das bei dieser vorläufigen Beurteilung den Gesichtspunkt bestimmt, aus dem sie allein mit gehöriger Gründlichkeit angestellt werden kann, und dieses ist die Vergleichung der Prinzipien, von denen beide Teile ausgehen. Man bemerkt unter den Behauptungen der Antithesis, eine vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige Einheit der Maxime, nämlich ein Prinzipium des reinen Empirismus, nicht allein in Erklärung der Erscheinungen in der Welt, sondern auch in Auflösung der transzendentalen Ideen, vom Weltall selbst. Dagegen legen die Behauptungen der Thesis, außer der empirischen Erklärungsart innerhalb der Reihe der Erscheinungen, noch intellektuelle Anfänge zum Grunde, und die Maxime ist sofern nicht einfach. Ich will sie aber, von ihrem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal, den Dogmatism der reinen Vernunft nennen.
Auf der Seite also des Dogmatismus, in Bestimmung der kosmologischen Vernunftideen, oder der Thesis, zeigt sich
Zuerst ein gewisses praktisches Interesse, woran jeder Wohlgesinnter, wenn er sich auf seinen wahren Vorteil versteht, herzlich teilnimmt. Daß die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei, und daß endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige Verknüpfung entlehnt, das sind so viel Grundsteine der Moral und Religion. Die Antithesis raubt uns alle diese Stützen, oder scheint wenigstens sie uns zu rauben.
Zweitens äußert sich auch ein spekulatives Interesse der Vernunft auf dieser Seite. Denn, wenn man die transzendentalen Ideen auf solche Art annimmt und gebraucht, so kann man völlig a priori die ganze Kette der Bedingungen fassen, und die Ableitung des Bedingten begreifen, indem man vom Unbedingten anfängt, welches die Antithesis nicht leistet, die dadurch sich sehr übel empfiehlt, daß sie auf die Frage, wegen der Bedingungen ihrer Synthesis, keine Antwort geben kann, die nicht ohne Ende immer weiter zu fragen übrig ließe. Nach ihr muß man von einem gegebenen Anfange zu einem noch höheren aufsteigen, jeder Teil führt auf einen noch kleineren Teil, jede Begebenheit hat immer noch eine andere Begebenheit als Ursache über sich, und die Bedingungen des Daseins überhaupt stützen sich immer wiederum auf andere, ohne jemals in einem selbständigen Dinge als Urwesen unbedingte Haltung und Stütze zu bekommen.
Drittens hat diese Seite auch den Vorzug der Popularität, der gewiß nicht den kleinsten Teil seiner Empfehlung ausmacht. Der gemeine Verstand findet in den Ideen des unbedingten Anfangs aller Synthesis nicht die mindeste Schwierigkeit, da er ohnedem mehr gewohnt ist, zu den Folgen abwärts zu gehen, als zu den Gründen hinaufzusteigen, und hat in den Begriffen des absolut Ersten (über dessen Möglichkeit er nicht grübelt) eine Gemächlichkeit und zugleich einen festen Punkt, um die Leitschnur seiner Schritte daran zu knüpfen, da er hingegen an dem rastlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, jederzeit mit einem Fuße in der Luft, gar keinen Wohlgefallen finden kann.
Auf der Seite des Empirismus in Bestimmung der kosmologischen Ideen, oder der Antithesis, findet sich erstlich kein solches praktisches Interesse aus reinen Prinzipien der Vernunft, als Moral und Religion bei sich führen. Vielmehr scheint der bloße Empirism beiden alle Kraft und Einfluß zu benehmen. Wenn es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen gibt, wenn die Welt ohne Anfang und also auch ohne Urheber, unser Wille nicht frei und die Seele von gleicher Teilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist, so verlieren auch die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit, und fallen mit den transzendentalen Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachten.
Dagegen bietet aber der Empirism dem spekulativen Interesse der Vernunft Vorteile an, die sehr anlockend sind und diejenigen weit übertreffen, die der dogmatische Lehrer der Vernunftideen versprechen mag. Nach jenem ist der Verstand jederzeit auf seinem eigentümlichen Boden, nämlich dem Felde von lauter möglichen Erfahrungen, deren Gesetzen er nachspüren, und vermittelst derselben er seine sichere und faßliche Erkenntnis ohne Ende erweitern kann. Hier kann und soll er den Gegenstand, sowohl an sich selbst, als in seinen Verhältnissen, der Anschauung darstellen, oder doch in Begriffen, deren Bild in gegebenen ähnlichen Anschauungen klar und deutlich vorgelegt werden kann. Nicht allein, daß er nicht nötig hat, diese Kette der Naturordnung zu verlassen, um sich an Ideen zu hängen, deren Gegenstände er nicht kennt, weil sie als Gedankendinge niemals gegeben werden können; sondern es ist ihm nicht einmal erlaubt, sein Geschäft zu verlassen, und unter dem Vorwande, es sei nunmehr zu Ende gebracht, in das Gebiet der idealisierenden Vernunft und zu transzendenten Begriffe überzugehen, wo er nicht weiter nötig hat zu beobachten und den Naturgesetzen gemäß zu forschen, sondern nur zu denken und zu dichten, sicher, daß er nicht durch Tatsachen der Natur widerlegt werden könne, weil er an ihr Zeugnis eben nicht gebunden ist, sondern sie vorbeigehen, oder sie sogar selbst einem höheren Ansehen, nämlich dem der reinen Vernunft, unterordnen darf.
Der Empirist wird es daher niemals erlauben, irgendeine Epoche der Natur für die schlechthin erste anzunehmen, oder irgendeine Grenze seiner Aussicht in den Umfang derselben als die äußerste anzusehen, oder von den Gegenständen der Natur, die er durch Beobachtung und Mathematik auflösen und in der Anschauung synthetisch bestimmen kann, (dem Ausgedehnten,) zu denen überzugehen, die weder Sinn, noch Einbildungskraft jemals in concreto darstellen kann (dem Einfachen); noch einräumen, daß man selbst in der Natur ein Vermögen, unabhängig von Gesetzen der Natur zu wirken, (Freiheit,) zum Grunde lege, und dadurch dem Verstande sein Geschäft schmälere, an dem Leitfaden notwendiger Regeln dem Entstehen der Erscheinungen nachzuspüren; noch endlich zugeben, daß man irgend wozu die Ursache außerhalb der Natur suche, (Urwesen,) weil wir nichts weiter, als diese kennen, indem sie es allein ist, welche uns Gegenstände darbietet, und von ihren Gesetzen unterrichten kann.
Zwar, wenn der empirische Philosoph mit seiner Antithese keine andere Absicht hat, als, den Vorwitz und die Vermessenheit der ihre wahre Bestimmung verkennenden Vernunft niederzuschlagen, welche mit Einsicht und Wissen groß tut, da wo eigentlich Einsicht und Wissen aufhören, und das, was man in Ansehung des praktischen Interesse gelten läßt, für eine Beförderung des spekulativen Interesse ausgeben will, um, wo es ihrer Gemächlichkeit zuträglich ist, den Faden physischer Untersuchungen abzureißen, und mit einem Vorgeben von Erweiterung der Erkenntnis, ihn an transzendentale Ideen zu knüpfen, durch die man eigentlich nur erkennt, daß man nichts wisse; wenn, sage ich, der Empirist sich hiermit begnügte, so würde sein Grundsatz eine Maxime der Mäßigung in Ansprüchen, der Bescheidenheit in Behauptungen und zugleich der größest möglichen Erweiterung unseres Verstandes, durch den eigentlich uns vorgesetzten Lehrer, nämlich die Erfahrung, sein. Denn, in solchem Falle, würden uns intellektuelle Voraussetzungen und Glaube, zum Behuf unserer praktischen Angelegenheit, nicht genommen werden; nur könnte man sie nicht unter dem Titel und dem Pompe von Wissenschaft und Vernunfteinsicht auftreten lassen, weil das eigentliche spekulative Wissen überall keinen anderen Gegenstand, als den der Erfahrung treffen kann, und, wenn man ihre Grenze überschreitet, die Synthesis, welche neue und von jener unabhängige Erkenntnisse versucht, kein Substratum der Anschauung hat, an welchem sie ausgeübt werden könnte.
So aber, wenn der Empirismus in Ansehung der Ideen (wie es mehrenteils geschieht) selbst dogmatisch wird und dasjenige dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist, so fällt er selbst in den Fehler der Unbescheidenheit, der hier um desto tadelbarer ist, weil dadurch dem praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachteil verursacht wird.
Dies ist der Gegensatz des Epikureisms52 gegen den Platonisms.
Ein jeder von beiden sagt mehr, als er weiß, doch so, daß der erstere das Wissen, obzwar zum Nachteile des Praktischen, aufmuntert und befördert, der zweite zwar zum Praktischen vortreffliche Prinzipien an die Hand gibt, aber eben dadurch in Ansehung alles dessen, worin uns allein ein spekulatives Wissen vergönnt ist, der Vernunft erlaubt, idealischen Erklärungen der Naturerscheinungen nachzuhängen und darüber die physische Nachforschung zu verabsäumen.
Was endlich das dritte Moment, worauf bei der vorläufigen Wahl zwischen beiden strittigen Teilen gesehen werden kann, anlangt: so ist es überaus befremdlich, daß der Empirismus aller Popularität gänzlich zuwider ist, ob man gleich glauben sollte, der gemeine Verstand werde einen Entwurf begierig aufnehmen, der ihn durch nichts als Erfahrungserkenntnisse und deren vernunftmäßigen Zusammenhang zu befriedigen verspricht, anstatt daß die transzendentale Dogmatik ihn nötigt, zu Begriffen hinaufzusteigen, welche die Einsicht und das Vernunftvermögen der im Denken geübtesten Köpfe weit übersteigen. Aber eben dieses ist sein Bewegungsgrund. Denn er befindet sich alsdann in einem Zustande, in welchem sich auch der Gelehrteste über ihn nichts herausnehmen kann. Wenn er wenig oder nichts davon versteht, so kann sich doch auch niemand rühmen, viel mehr davon zu verstehen, und, ob er gleich hierüber nicht so schulgerecht als andere sprechen kann, so kann er doch darüber unendlich mehr vernünfteln, weil er unter lauter Ideen herumwandelt, über die man eben darum am beredtsten ist, weil man davon nichts weiß; anstatt, daß er über der Nachforschung der Natur ganz verstummen und seine Unwissenheit gestehen müßte. Gemächlichkeit und Eitelkeit also sind schon eine starke Empfehlung dieser Grundsätze. Überdem, ob es gleich einem Philosophen sehr schwer wird, etwas als Grundsatz anzunehmen, ohne deshalb sich selbst Rechenschaft geben zu können, oder gar Begriffe, deren objektive Realität nicht eingesehen werden kann, einzuführen: so ist doch dem gemeinen Verstande nichts gewöhnlicher. Er will etwas haben, womit er zuversichtlich anfangen könne. Die Schwierigkeit, eine solche Voraussetzung selbst zu begreifen, beunruhigt ihn nicht, weil sie ihm, (der nicht weiß, was Begreifen heißt,) niemals in den Sinn kommt, und er hält das für bekannt, was ihm durch öfteren Gebrauch geläufig ist. Zuletzt aber verschwindet alles spekulative Interesse bei ihm vor dem Praktischen, und er bildet sich ein, das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen, oder zu glauben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben. So ist der Empirismus der transzendental-idealisierenden Vernunft aller Popularität gänzlich beraubt, und, so viel Nachteiliges wider die obersten praktischen Grundsätze sie auch enthalten mag, so ist doch gar nicht zu besorgen, daß sie die Grenzen der Schule jemals überschreiten und im gemeinen Wesen ein nur einigermaßen beträchtliches Ansehen und einige Gunst bei der großen Menge erwerben werde.
Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgendeinem System mit anderen zusammen zu stehen. Die Sätze der Antithesis sind aber von der Art, daß sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich machen. Nach ihnen gibt es über einen Zustand der Welt immer einen noch älteren, in jedem Teile immer noch andere, wiederum teilbare, vor jeder Begebenheit eine andere, die wiederum ebensowohl anderweitig erzeugt war, und im Dasein überhaupt alles immer nur bedingt, ohne irgendein unbedingtes und erstes Dasein anzuerkennen. Da also die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt, und keinen Anfang, der schlechthin zum Grunde des Baues dienen könnte, so ist ein vollständiges Gebäude der Erkenntnis, bei dergleichen Voraussetzungen, gänzlich unmöglich. Daher führt das architektonische Interesse der Vernunft (welches nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a priori fordert,) eine natürliche Empfehlung für die Behauptungen der Thesis bei sich.
Könnte sich aber ein Mensch von allem Interesse lossagen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen, bloß nach dem Gehalte ihrer Gründe in Betrachtung ziehen: so würde ein solcher, gesetzt, daß er keinen Ausweg wüßte, anders aus dem Gedränge zu kommen, als daß er sich zu einer oder anderen der strittigen Lehren bekennte, in einem unaufhörlich schwankenden Zustande sein. Heute würde es ihm überzeugend vorkommen, der menschliche Wille sei frei; morgen, wenn er die unauflösliche Naturkette in Betrachtung zöge, würde er dafür halten, die Freiheit sei nichts als Selbsttäuschung, und alles sei bloß Natur. Wenn es nun aber zum Tun und Handeln käme, so würde dieses Spiel der bloß spekulativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traums, verschwinden, und er würde seine Prinzipien bloß nach dem praktischen Interesse wählen. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der Prüfung seiner eigenen Vernunft zu widmen, hierbei aber alle Parteilichkeit gänzlich auszuziehen, und so seine Bemerkungen anderen zur Beurteilung öffentlich mitzuteilen; so kann es niemanden verargt, noch weniger verwehrt werden, die Sätze und Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher Menschen) verteidigen können, auftreten zu lassen.




52 Es ist indessen noch die Frage, ob Epikur diese Grundsätze als objektive Behauptungen jemals vorgetragen habe. Wenn sie etwa weiter nichts als Maximen des spekulativen Gebrauchs der Vernunft waren, so zeigte er daran einen echteren philosophischen Geist, als irgendeiner der Weltweisen des Altertums. Daß man in Erklärung der Erscheinungen so zu Werke gehen müsse, als ob das Feld der Untersuchung durch keine Grenze oder Anfang der Welt abgeschnitten sei; den Stoff der Welt so annehmen, wie er sein muß, wenn wir von ihm durch Erfahrung belehrt werden wollen; daß keine andere Erzeugung der Begebenheiten, als wie sie durch unveränderliche Naturgesetze bestimmt werden, und endlich keine von der Welt unterschiedene Ursache müsse gebraucht werden; sind noch jetzt sehr richtige, aber wenig beobachtete Grundsätze, die spekulative Philosophie zu erweitern, so wie auch die Prinzipien der Moral, unabhängig von fremden Hilfsquellen auszufinden, ohne daß darum derjenige, welcher verlangt, jene dogmatischen Sätze, so lange als wir mit der bloßen Spekulation beschäftigt sind, zu ignorieren, darum beschuldigt werden darf, er wolle sie leugnen.




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