Was ist das,
mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die
heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen strafbaren
Wunsch in meiner Seele gefühlt? - ich will nicht beteuern - und nun, Träume! O
wie wahr fühlten die Menschen, die so widersprechende Wirkungen fremden Mächten
zuschrieben! Diese Nacht! Ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen
Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebelispelnden Mund mit
unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen! Gott! Bin
ich strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden
Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen? Lotte! Lotte! - und mit mir ist es
aus! Meine Sinne verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft
mehr, meine Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall wohl. Ich
wünsche nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich ginge".
Der Entschluß,
die Welt zu verlassen, hatte in dieser Zeit, unter solchen Umständen in
Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit der Rückkehr zu Lotten war es
immer seine letzte Aussicht und Hoffnung gewesen; doch hatte er sich gesagt, es
solle keine übereilte, keine rasche Tat sein, er wolle mit der besten
Überzeugung, mit der möglichst ruhigen Entschlossenheit diesen Schritt tun.
Seine Zweifel,
sein Streit mit sich selbst blicken aus einem Zettelchen hervor, das
wahrscheinlich ein angefangener Brief an Wilhelm ist und ohne Datum unter
seinen Papieren gefunden worden:
Ihre Gegenwart,
ihr Schicksal, ihre Teilnehmung an dem meinigen preßt noch die letzten Tränen
aus meinem versengten Gehirne. Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten!
Das ist alles! Und warum das Zaudern und Zagen? Weil man nicht weiß, wie es
dahinten aussieht? Und man nicht wiederkehrt? Und daß das nun die Eigenschaft
unseres Geistes ist, da Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts
Bestimmtes wissen".
Endlich ward er
mit dem traurigen Gedanken immer mehr verwandt und befremdet und sein Vorsatz
fest und unwiderruflich, wovon folgender zweideutige Brief, den er an seinen
Freund schrieb, ein Zeugnis abgibt.
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