Alles ist so
still um mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke dir, Gott, der du diesen
letzten Augenblicken diese Wärme, diese Kraft schenkest.
Ich trete an
das Fenster, meine Beste, und sehe, und sehe noch durch die stürmenden,
vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels! Nein, ihr werdet
nicht fallen! Der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und mich. Ich sehe die
Deichselsterne des Wagens, des liebsten unter allen Gestirnen. Wenn ich nachts
von dir ging, wie ich aus deinem Tore trat, stand er gegen mir über. Mit
welcher Trunkenheit habe ich ihn oft angesehen, oft mit aufgehabenen Händen ihn
zum Zeichen, zum heiligen Merksteine meiner gegenwärtigen Seligkeit gemacht!
Und noch - o Lotte, was erinnert mich nicht an dich! Umgibst du mich nicht! Und
habe ich nicht, gleich einem Kinde, ungenügsam allerlei Kleinigkeiten zu mir
gerissen, die du Heilige berührt hattest!
Liebes
Schatenbild! Ich vermache dir es zurück, Lotte, und bitte dich, es zu ehren.
Tausend, tausend Küsse habe ich darauf gedrückt, tausend Grüße ihm zugewinkt,
wenn ich ausging oder nach Hause kam. Ich habe deinen Vater in einem Zettelchen
gebeten, meine Leiche zu schützen. Auf dem Kirchhofe sind zwei Lindenbäume,
hinten in der Ecke nach dem Felde zu; dort wünsche ich zu ruhen. Er kann, er
wird das für seinen Freund tun. Bitte ihn auch. Ich will frommen Christen nicht
zumuten, ihren Körper neben einen armen Unglücklichen zu legen. Ach, ich
wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einsamen Tale, daß Priester und Levit
vor dem bezeichneten Steine sich segnend vorübergingen und der Samariter eine
Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich
schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den
Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, und zage nicht. All! All!
So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so
starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.
Daß ich des
Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Lotte, für dich
mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn ich dir die
Ruhe, die Wonne deines Lebens wiederschaffen könnte. Aber ach! Das ward nur
wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu vergießen und durch ihren
Tod ein neues, hundertfältiges Leben ihren Freunden anzufachen.
In diesen
Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt; ich
habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt über dem Sarge. Man
soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blaßrote Schleife, die du am Busen
hattest, als ich dich zum ersten Male unter deinen Kindern fand - o küsse sie
tausendmal und erzähle ihnen das Schicksal ihres unglücklichen Freundes. Die
Lieben! Sie wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich schloß! Seit dem ersten
Augenblicke dich nicht lassen konnte! - diese Schleife soll mit mir begraben
werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir! Wie ich das alles
verschlang! - ach, ich dachte nicht, daß mich der Weg hierher führen sollte! -
- sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!
- Sie sind
geladen - es schlägt zwölfe! So sei es denn! - Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe
wohl!"
Ein Nachbar sah
den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da aber alles stille blieb,
achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um
sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der
Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an; keine Antwort, er röchelt
nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle
ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie
stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte
sinkt ohnmöchtig vor Alberten nieder.
Als der Midikus
zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug,
die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den
Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine
Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.
Aus dem Blut
auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem
Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich
konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet
auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit
gelber Weste.
Das Haus, die
Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man
auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten,
er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald
stärker; man erwartete sein Ende.
Von dem Weine
hatte er nur ein Glas getrunken. "Emilia Galotti" lag auf dem Pulte
aufgeschlagen.
Von Alberts
Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen.
Der alte
Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter
den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie
fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten
ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt,
hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt
wegriß. Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine
Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte
begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne,
Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen
ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.
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