I. FÜLLE
UND ENDGÜLTIGKEIT DER OFFENBARUNG JESU CHRISTI
5.
Um dieser relativistischen Mentalität, die sich immer mehr ausbreitet, Abhilfe
zu schaffen, muss vor allem der endgültige und vollständige Charakter der
Offenbarung Jesu Christi bekräftigt werden. Es ist nämlich fest zu glauben,
dass im Mysterium Jesu Christi, des fleischgewordenen Sohnes Gottes,
der"der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6) ist, die Fülle
der göttlichen Wahrheit geoffenbart ist:"Niemand kennt den Sohn, nur der
Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn
offenbaren will" (Mt 11,27)."Niemand hat Gott je gesehen. Der
einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde
gebracht" (Joh 1,18)."Denn in ihm allein wohnt wirklich die ganze
Fülle Gottes. Durch ihn seid auch ihr davon erfüllt" (Kol 2,9-10).
In Treue
zum Wort Gottes lehrt das Zweite Vatikanische Konzil:"Die Tiefe der durch
diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen
Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle
der ganzen Offenbarung ist".9 Bekräftigend heißt es
weiterhin:"Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, als "Mensch zu
den Menschen" gesandt, "verkündet die Worte Gottes" (Joh 3,34)
und vollendet das Heilswerk, dessen Durchführung der Vater ihm aufgetragen hat
(vgl. Joh 5,36; 17,4). Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14,9). Er
ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte
und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine
herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes
der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches
Zeugnis bekräftigt... Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue
und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung
mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in
Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13)". 10
Die
Enzyklika Redemptoris missio bekräftigt, dass die Kirche die Aufgabe hat, das
Evangelium als die Fülle der Wahrheit zu verkünden:"In diesem endgültigen
Wort seiner Offenbarung hat Gott sich in vollendetster Weise der Welt zu
erkennen gegeben: er hat der Menschheit mitgeteilt, wer er ist. Und diese
endgültige Selbstoffenbarung Gottes ist der tiefste Grund, weshalb die Kirche
ihrer Natur nach missionarisch ist. Sie kann nicht davon absehen, das
Evangelium, d.h. die Fülle der Wahrheit, die Gott uns über sich selbst zur
Kenntnis gebracht hat, zu verkünden".11 Nur die Offenbarung Jesu
Christi"führt also in unsere Geschichte eine universale und letzte
Wahrheit ein, die den Verstand des Menschen dazu herausfordert, niemals
stehenzubleiben".12
6.
Im Gegensatz zum Glauben der Kirche steht deshalb die Meinung, die Offenbarung
Jesu Christi sei begrenzt, unvollständig, unvollkommen und komplementär zu
jener in den anderen Religionen. Der tiefste Grund dieser Meinung liegt in der
Behauptung, dass die Wahrheit über Gott in seiner Globalität und
Vollständigkeit von keiner geschichtlichen Religion, also auch nicht vom
Christentum und nicht einmal von Jesus Christus, erfasst und kundgetan werden
könne.
Diese
Auffassung widerspricht radikal den vorausgehenden Glaubensaussagen, gemäß
denen in Jesus Christus das Heilsmysterium Gottes ganz und vollständig geoffenbart
ist. Die Worte und Werke und das ganze geschichtliche Ereignis Jesu haben
nämlich, auch wenn sie als menschliche Wirklichkeiten begrenzt sind, als
Quellgrund die göttliche Person des fleischgewordenen Wortes,"wahrhaft
Gott und wahrhaft Mensch",13 und bergen deshalb in sich endgültig
und vollständig die Offenbarung der Heilswege Gottes, auch wenn die Tiefe des
göttlichen Mysteriums an sich transzendent und unerschöpflich bleibt. Die
Wahrheit über Gott wird durch ihre Aussage in menschlicher Sprache nicht
beseitigt oder eingegrenzt. Sie bleibt vielmehr einzigartig, ganz und
vollständig, denn derjenige, der spricht und handelt, ist der fleischgewordene
Sohn Gottes. Aus diesem Grund verlangt der Glaube das Bekenntnis, dass das
fleischgewordene Wort in seinem ganzen Mysterium, das von der Menschwerdung bis
zur Verherrlichung reicht, der reale Quellgrund, wenn auch in Teilhabe am
Vater, und die Erfüllung der ganzen Heilsoffenbarung Gottes an die Menschheit
ist, 14 und dass der Heilige Geist, der Geist Christi, die Apostel und
durch sie die Kirche aller Zeiten diese"ganze Wahrheit" (Joh 16,13)
lehrt.
7.
Die der Offenbarung Gottes entsprechende Antwort ist"der "Gehorsam
des Glaubens" (Röm 1,5; vgl. Röm 16,26; 2 Kor 10,5-6). Darin überantwortet
sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich "dem
offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft" und seiner
Offenbarung willig zustimmt".15 Der Glaube ist ein Geschenk der
Gnade:"Dieser Glaube kann nicht vollzogen werden ohne die zuvorkommende
und helfende Gnade Gottes und ohne den inneren Beistand des Heiligen Geistes,
der das Herz bewegen und Gott zuwenden, die Augen des Verstandes öffnen und
"es jedem leicht machen muss, der Wahrheit zuzustimmen und zu
glauben"".16
Der
Gehorsam des Glaubens führt zur Annahme der Wahrheit der Offenbarung Christi,
die von Gott, der Wahrheit selbst, verbürgt ist: 17"Der Glaube ist
eine persönliche Bindung des Menschen an Gott und zugleich, untrennbar davon,
freie Zustimmung zu der ganzen von Gott geoffenbarten Wahrheit".18
Der Glaube, der"ein Geschenk Gottes" und"eine von ihm
eingegossene übernatürliche Tugend"19 ist, führt also zu einer
doppelten Zustimmung: zu Gott, der offenbart, und zur Wahrheit, die von ihm
geoffenbart ist, wegen des Vertrauens, das der offenbarenden Person
entgegengebracht wird. Deshalb sollen wir"an niemand anderen glauben als
an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist".20
Deshalb
muss mit Festigkeit an der Unterscheidung zwischen dem theologalen Glauben und
der inneren Überzeugung in den anderen Religionen festgehalten werden. Der
Glaube ist die gnadenhafte Annahme der geoffenbarten Wahrheit, die es
gestattet,"in das Innere des Mysteriums einzutreten, dessen Verständnis er
in angemessener Weise begünstigt".21 Die innere Überzeugung in den
anderen Religionen ist hingegen jene Gesamtheit an Erfahrungen und Einsichten,
welche die menschlichen Schätze der Weisheit und Religiosität ausmachen, die der
Mensch auf seiner Suche nach der Wahrheit in seiner Beziehung zum Göttlichen
und Absoluten ersonnen und verwirklicht hat. 22
Nicht
immer wird diese Unterscheidung in der gegenwärtigen Diskussion präsent
gehalten. Der theologale Glaube, die Annahme der durch den einen und
dreifaltigen Gott geoffenbarten Wahrheit, wird deswegen oft gleichgesetzt mit
der inneren Überzeugung in den anderen Religionen, mit religiöser Erfahrung
also, die noch auf der Suche nach der absoluten Wahrheit ist und der die Zustimmung
zum sich offenbarenden Gott fehlt. Darin liegt einer der Gründe für die
Tendenz, die Unterschiede zwischen dem Christentum und den anderen Religionen
einzuebnen, ja manchmal aufzuheben.
8.
Es wird auch die Hypothese vom inspirierten Wert der heiligen Schriften anderer
Religionen aufgestellt. Gewiss ist anzuerkennen, dass viele Elemente in ihnen
faktisch Mittel sind, durch die eine große Zahl von Personen im Laufe der
Jahrhunderte ihre religiöse Lebensbeziehung mit Gott nähren und bewahren
konnten und noch heute können. Wie bereits erwähnt, hat deshalb das Zweite
Vatikanische Konzil gesagt, dass die Lebensweisen, die Vorschriften und die
Lehren der anderen Religionen"zwar in manchem von dem abweichen, was sie
selber [die Kirche] für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl
jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet".23
Die
Überlieferung der Kirche gebraucht jedoch die Bezeichnung inspirierte Schriften
nur für die kanonischen Bücher des Alten und des Neuen Bundes, insofern sie vom
Heiligen Geist inspiriert sind. 24 Das Zweite Vatikanische Konzil
greift in der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung diese
Überlieferung auf und lehrt:"Aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer
heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in
ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, weil sie, unter
der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (vgl. Joh 20,31; 2 Tim 3,16; 2
Petr 1,19-21; 3,15-16), Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche
übergeben sind".25 Diese Bücher"lehren sicher, getreu und
ohne Irrtum die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen
Schriften aufgezeichnet haben wollte".26
Weil aber
Gott alle Völker in Christus zu sich rufen und ihnen die Fülle seiner
Offenbarung und seiner Liebe mitteilen will, hört er nicht auf, sich auf
vielfältige Weise gegenwärtig zu machen,"nicht nur dem einzelnen, sondern
auch den Völkern im Reichtum ihrer Spiritualität, die in den Religionen ihren
vorzüglichen und wesentlichen Ausdruck findet, auch wenn sie "Lücken,
Unzulänglichkeiten und Irrtümer" enthalten".27 Die heiligen
Bücher anderer Religionen, die faktisch das Leben ihrer Anhänger nähren und
leiten, erhalten also vom Mysterium Christi jene Elemente des Guten und der
Gnade, die in ihnen vorhanden sind.
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