1.4 Die zur Beantwortung
anstehenden Fragen
Die Kirche ist eine lebendige
Gemeinschaft, die in der Folge der Generationen durch die Geschichte geht. Ihr
Gedächtnis ist nicht nur durch die auf die Apostel zurückreichende Tradition
geprägt. In ihrem Gedächtnis sind auch die verschiedensten historischen
Erfahrungen im positiven und negativen Sinn gespeichert, die sie erlebt und
durchlebt hat. Die Geschichte der Kirche bestimmt zu einem großen Teil ebenso
ihr Bewusstsein in der Gegenwart. Die Lehrtradition, die Überlieferungen ihres
liturgischen, kanonischen und aszetischen Lebens bieten der gegenwärtigen
Gemeinschaft der Glaubenden reiche Nahrung. Sie sind gleichsam wie ein
unerschöpflicher Katalog von nachahmenswerten Modellen, die für die Gestaltung
christlichen Lebens bereitstehen. Aber während ihrer ganzen irdischen
Pilgerschaft wird der gute Weizen unentwirrbar mit dem Unkraut zusammenstehen
(vgl. Mt 13,24-30. 36-43), d.h. die Heiligkeit steht neben Untreue und
Sünde29
Und so kann die Erinnerung an die
Ärgernisse der Vergangenheit das Zeugnis der Kirche von heute behindern, wie
umgekehrt das Eingeständnis des Versagens der Söhne und Töchter der Kirche von
gestern die Erneuerung und Versöhnung in der Gegenwart begünstigen kann.
Die Schwierigkeit, die sich
abzeichnet, besteht in einer genauen Beschreibung der Sünden der Vergangenheit
im Hinblick vor allem auf die Kriterien einer historischen Urteilsbildung. Man
muss genau unterscheiden zwischen der Verantwortung oder der Schuld, die
Christen als gläubigen Gliedern der Kirche zukommt, und den Verfehlungen, die
mit der christlich geprägten Gesellschaftsform einiger Jahrhunderte (der
sogenannten cristianità) zusammenhängen, als die Strukturen der weltlichen und
geistlichen Macht ineinander verwoben waren.
Ohne eine wirklich geschichtliche
Hermeneutik, die zwischen dem Handeln der Kirche als Glaubensgemeinschaft und
einer christianisierten Gesellschaft klar zu unterscheiden weiß, kommt hier
niemand weiter.
Die von Johannes Paul II.
unternommenen Schritte auf konkrete Vergebungsbitten hin sind in den
verschiedensten Bereichen, im kirchlichen wie auch im nichtkirchlichen Milieu,
als Zeichen der Vitalität und Authentizität der Kirche verstanden worden, die
sie in ihrer Glaubwürdigkeit nur bestärken können.
Damit kann die Kirche auch
falsche und nicht akzeptable Vorstellungen über sich relativieren, die in
einflussreichen Kreisen gehegt werden, wo man ignorant oder wider besseres
Wissen die Kirche mit Obskurantismus und Intoleranz identifiziert.
Die Vergebungsbitten des Papstes
haben indessen im positiven Sinn einen Wetteifer im kirchlichen Bereich und
darüber hinaus ausgelöst. Denn auch höchste Repräsentanten von Staaten und
privaten wie öffentlichen Gesellschaften sowie die Führer religiöser
Gemeinschaften bitten gegenwärtig um Vergebung für bestimmte geschichtliche
Vorkommnisse in Perioden, die von Ungerechtigkeiten gekennzeichnet waren.
Diese
Handlungen sind das Gegenteil von bloßer Rhetorik, und zwar in einem solchen
Ausmaß, dass viele zögern, die Vergebungsbitte zu billigen und mitzuvollziehen
aus Angst vor den - nicht nur im gerichtlichen Sinn verstandenen -
"Kosten", die eine Anerkennung der Mitverantwortung für die negativen
Ereignisse der Geschichte mit sich bringen könnte. Gerade auch unter diesem
Gesichtspunkt erweist sich die Bildung eines historischen Urteilsvermögens als
vordringlich.
Nicht zu übersehen ist auch, dass
sich manche Gläubige von dem kirchlichen Schuldbekenntnis vor den Kopf gestoßen
fühlen, insofern ihre Loyalität gegenüber der Kirche erschüttert werden könnte.
Einige fragen, wie es möglich sein soll, der jungen Generation eine Liebe zur
Kirche einzupflanzen, wenn man dieser Vergehen und Sünden anlastet. Andere
beobachten mit Sorge, dass das Schuldbekenntnis der Kirche sehr einseitig
bleiben könnte und eingefleischte Kirchenhasser es als Bestätigung ihrer
Vorurteile und als Waffe antichristlicher Propaganda missbrauchen.
Andere schrecken davor zurück,
die heutigen Generationen der Gläubigen willkürlich für das Versagen in der
Vergangenheit zu beschuldigen, vor allem für Taten, denen sie in keiner Weise
zugestimmt hätten, obgleich sie sich bereit erklären, Verantwortung zu
übernehmen, und zwar in dem Maß, in dem menschliche Gemeinschaften sich auch
heute noch von den Nachwirkungen betroffen fühlen, die von den
Ungerechtigkeiten herrühren, deren sich ihre Vorfahren schuldig gemacht haben.
Andere schließlich halten dafür, dass die Kirche ihr "Gedächtnis
reinigen" soll hinsichtlich zweifelhafter Aktionen, in die sie verwickelt
war, indem sie einfach teilnimmt an der kritischen Aufarbeitung des
historischen Bewusstseins, das sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat. So
könnte sie gemeinsam mit allen Zeitgenossen all das ablehnen, was das
moralische Gewissen zurückweist, ohne sich als die einzige schuldige und
verantwortliche Gemeinschaft für alle Übel der Vergangenheit hinzustellen. Dies
schließe gleichzeitig den im wechselseitigen Verstehen geführten Dialog mit
denen ein, die sich noch heute von Vorgängen der Vergangenheit verletzt fühlen,
die Gliedern der Kirche anzukreiden sind. Schließlich ist zu erwarten, dass
auch einige andere Gruppen eine vergleichbare Vergebungsbitte reklamieren,
analog zu anderen Gruppen oder weil sie glauben, ebenfalls Unrecht erlitten zu
haben.
Auf jeden Fall ist aber
festzuhalten, dass die "Reinigung des Gedächtnisses" nicht den
Verzicht der Kirche auf ihre Sendung bedeuten kann, die geoffenbarte Wahrheit
in Glaubens- und Sittenfragen zu verkünden, die ihr von Gott anvertraut worden
ist.
Es kristallisieren sich also
verschiedene wichtige Fragestellungen heraus: Kann man das Gewissen heutiger
Menschen mit einer "Schuld" belasten, die untrennbar mit
unwiederholbaren historischen Phänomenen verknüpft ist, wie z.B. die Kreuzzüge
und die Inquisition?
Macht man es sich nicht zu
leicht, die Protagonisten der Vergangenheit aus der Sichtweise der Gegenwart zu
beurteilen, wie es die Schriftgelehrten und Pharisäer taten, die sagten:
"Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wären wir nicht wie sie am
Tod der Propheten schuldig geworden" (vgl. Mt 23,29-32.30). Kann
man ohne Rücksicht auf die Zeitumstände, in die jede Gewissensentscheidung
eingebettet ist, die Handlungsweise der Vorfahren von einem (nur scheinbar)
übergeschichtlich-reinen Gewissensstandpunkt aus beurteilen?
Aber von der anderen Seite her
betrachtet kann man sicher nicht leugnen, dass das moralische Urteil immer im
Spiel bleibt, schon allein auf Grund der schlichten Tatsache, dass die Wahrheit
Gottes und ihre moralischen Forderungen immer Bestand haben. Welche Haltung
hier auch immer einzunehmen sein mag, sie muss sich an diesen Fragen orientieren
und darf ihr Niveau nicht unterschreiten. Es gilt, Antworten zu suchen, die
zutiefst fundiert sind in der Offenbarung und in ihrer lebendigen Weitergabe im
Glauben der Kirche.
Die vordringlichste Aufgabe
besteht in der Beantwortung der Frage, welche Form die Vergebungsbitte für
Verfehlungen aus der Vergangenheit haben kann, besonders wenn sie sich an
heutige menschliche Gemeinschaften richtet.
Entscheidend ist hier das
Evangelium von der Versöhnung des Menschen mit Gott und dem Nächsten. Diese
Botschaft kann in ihrer tiefsten Bedeutung nur im Horizont eines biblischen und
theologischen Horizontes erhellt werden.
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