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Internationale Theologische Kommission
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  • Viertes Kapitel HISTORISCHE UND THEOLOGISCHE BEURTEILUNG GESCHICHTLICHER VORGÄNGE
    • 4.2 Geschichtsforschung und theologische Auswertung
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4.2 Geschichtsforschung und theologische Auswertung 

Wenn diese Auslegungsprinzipien in allen hermeneutischen Operationen beachtet werden, ergibt sich auch eine Interpretation der historischen und der theologischen Fragestellung. Dies verlangt, dass man an erster Stelle die höchste Aufmerksamkeit den Elementen der Differenzierung und der Fremdartigkeit zuwendet, die es in der Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu beachten gilt. Wenn also eine mögliche Schuld aus der Vergangenheit anerkannt werden soll, kann dies nicht geschehen, ohne die Verschiedenheit des sozialen und kulturellen Kontextes einer von der Gegenwart so weit entfernten Zeit in Betracht zu ziehen. Wer die Paradigmen und Urteilsmaßstäbe einer Gesellschaft aus einer anderen Epoche unreflektiert oder mit einem moralischen Überlegenheitsgefühl auf eine gänzlich verschiedene Geschichtsphase appliziert, macht sich einer Verfälschung schuldig. Man muss immer die unterschiedlichen Denkweisen und historischen Bedingungen beachten. Dies heißt nicht, die Verantwortung zurückweisen, die die Kirche als ein in der Geschichte einheitliches Subjekt für die Verfehlungen aus der Vergangenheit übernimmt. Es kann aber nicht außer Acht bleiben, dass eben dieses einheitliche Subjekt in den unterschiedlichsten historischen und geographischen Situationen gehandelt hat. Verschieden sind auch die Grade der Repräsentation der Kirche. Es stellt sich die Frage: Hat einer im Namen der Kirche gehandelt oder hat einer in persönlicher Verantwortung als Glied der Kirche, als Geistlicher oder Laie, gehandelt und sich dabei gegen den Auftrag und die Sendung der Kirche verfehlt, wie sie theologisch und unter den gegebenen Mentalitätsstrukturen und den soziokulturellen Bedingungen der Zeit verstanden worden waren? Verallgemeinerungen und Klischeevorstellungen führen hier nicht weiter.

Jede Form von gegenwärtiger Erklärung muss situationsbezogen sein und bedarf der Autorisierung durch die zuständigen Repräsentanten der Kirche (als Universalkirche, seitens der nationalen Episkopate und der Ortskirchen, der Bistümer, etc.). 

Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Die Beachtung der Korrelation zwischen historischem und theologischem Urteil ist nicht allein von aktuellen Interessen gelenkt oder nur von dem Wissen um die allgemeine Zusammengehörigkeit aller Menschen und der verschiedenen Formen der Realisierung der einen menschlichen Existenz bestimmt. Die Erkenntnis der inneren Verknüpfung von historischer und theologischer Sicht der Kirche hat einen tiefer reichenden Grund. Wer an die Selbstoffenbarung Gottes glaubt, erkennt, dass die Kirche nicht einfach ein Gebilde ist, das durch menschliche Aktionen bestimmt wird. Die Kirche ist als einheitliches soziologisch fassbares historisches Subjekt als Gemeinschaft der Glaubenden konstituiert durch das einheitsstiftende Wirken des Heiligen Geistes

Kraft dieser Communio, die stets neu hervorgeht aus dem Wirken des Geistes Christi, der die Einheit der Glaubensgemeinschaft in Raum und Zeit stiftet, wird sich die Kirche nie ohne dieses übernatürliche Prinzip verstehen können, das ihr Wesen und ihre Identität ausmacht. Das Wesen der Kirche kann mit bloß soziologischen Mitteln nicht erfasst werden. Dieses vom Wirken des erhöhten Herrn im Heiligen Geist geeinte geschichtliche Subjekt, die Kirche, ist berufen, sich der Geschichte einzuprägen als Antwortgestalt auf die Gabe Gottes, und zwar in unterschiedlicher Form und in verschiedenen geschichtlichen Situationen nach  Urteil und Entscheidung ihrer Glieder, ohne dass wir dabei die Mängel und Fehlleistungen vergessen, die ihr Erscheinungsbild in der Geschichte mitprägen. Die Gemeinschaft aller Glaubenden im Heiligen Geist ist nicht nur synchron zu sehen. Es gibt auch eine die Geschichte mit der Gegenwart verbindende diachrone Einheit. In der Zusammenschau beider Aspekte wird die Kirche auch "Gemeinschaft der Heiligen" genannt. Die gegenwärtig lebenden Getauften, die wegen der in der Taufe empfangenen Heiligung auch "Heilige" heißen, sind mit den Heiligen der Vergangenheit, den im ewigen Leben vollendeten Heiligen, verbunden. Sie empfangen von den Wohltaten ihrer Verdienste und stärken sich an den Zeugnissen ihrer Heiligkeit. Im Bewusstsein dieser Verbundenheit werden die Gläubigen der Gegenwart aber auch Verantwortung fühlen für die Fehler ihrer Vorfahren im Glauben, die wie sie Glieder derselben Glaubensgemeinschaft waren und sind. Diese Übernahme von Verantwortung setzt aber ein historisches und theologisches Urteil mit einem methodisch geklärten wissenschaftlichen Instrumentarium voraus.

Unter Beachtung des objektiven und transzendenten Grundes der Communio des Gottesvolkes inmitten allen geschichtlichen Wandels im Ausdruck seiner geschichtlichen Präsenz erkennt die Interpretation der Kirchengeschichte vom Standpunkt einer gläubigen Sicht der Vergangenheit der Kirche eine entscheidende Bedeutung für die Kirche von heute. Aus dieser inneren Begegnung der Kirche von gestern mit der Kirche im Heute kann sich eine performative Dynamik ergeben, die gar nicht von vornherein berechenbar ist. 

Gewiss ist immer die Gefahr einer apologetischen oder instrumentalistischen Umgangsweise mit der Geschichte im Auge zu behalten. Dies kann sich leicht nahelegen angesichts der vereinheitlichenden hermeneutischen Perspektive wie auch des theologischen Interpretationsstandpunktes, von dem aus die Einheit der Kirche als geschichtliches Subjekt vorausgesetzt wird. Um so mehr ist Wert zu legen auf eine exakte Anwendung der hermeneutischen Prinzipien, mit deren Hilfe die Vorgänge und Aussagen aus der Geschichte für die Gegenwart erschlossen werden. Die gläubige Lektüre der Geschichte bedient sich zu diesem Zweck aller erreichbaren Beiträge aus der Geschichtswissenschaft und ihrer Interpretationsmethoden. Die Anwendung der historischen Hermeneutik darf jedoch keineswegs die Auswertung im Glauben behindern, der daran gelegen ist, die Texte auf ihren spezifischen Ausdruck des Glaubens zu befragen, die Interaktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart in den Blick zu nehmen, insofern sich darin die fundamentale Einheit der Kirche als eines identischen Subjekts im Wandel ihrer historischen Ausdrucksformen widerspiegelt.

Damit ist auch die Gefahr eines Historismus gebannt, der alle Lasten historischer Schuld relativiert und meint, die Geschichte rechtfertige alles. Demgegenüber hat Johannes Paul II. zu Recht betont: "Die Berücksichtigung der mildernden Umstände entbindet die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne und Töchter zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftheit widerzuspiegeln."67

Die Kirche also "fürchtet nicht die historische Wahrheit. Sie ist bereit, die wirklich erwiesenen Fehler anzuerkennen, vor allem wenn sie den schuldigen Respekt vor Personen und Gemeinschaften betreffen. Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen geschichtlichen Epochen warnt sie aber auch vor allen Verallgemeinerungen, was Entschuldigung oder Verdammung betrifft. Die Kirche setzt auf eine mit Geduld und Redlichkeit wissenschaftlich erarbeitete Rekonstruktion der Vergangenheit, die frei ist von konfessionalistischen und ideologischen Vorurteilen. Dies betrifft die auf sie gerichteten Anschuldigungen wie auch das von ihr erlittene Unrecht."68

Im folgenden Kapitel sollen diese Prinzipien exemplarisch auf einige konkrete historische Fälle kirchlichen Fehlverhaltens angewendet werden. 




67 TMA, 35. 


68 Johannes Paul IL, Ansprache am 1. September 1999, in; L`Osservatore Romano, 2. (69) September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999, 2). 





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