6.1 Pastorale Zielsetzung
Unter den unterschiedlichen Aspekten, die das Schuldbekenntnis hat, können
unter anderen folgende genannt werden: - Das erste Ziel ist die "Reinigung
des Gedächtnisses". Der Prozess einer neuen Erschließung der
Vergangenheit ist notwendig, da die Ereignisse der Vergangenheit immer in der
Gegenwart nachwirken und als Versuchungen von heute fortbestehen. Wenn in einem
geduldigen Dialog ermittelt wurde, wer sich von wem in der Vergangenheit durch
Taten oder Worte verletzt sieht, ist es möglich, alle diese Belastungen
aufzuarbeiten und in ihrer aktuellen destruktiven Dimension zu tilgen. So kann
der negative Einfluss schlimmer geschichtlicher Ereignisse auf das gegenwärtige
Zusammenleben der Menschen beseitigt oder wenigstens eingedämmt werden. Die
kirchliche Gemeinschaft hat darüber hinaus die Chance zu einem Fortschritt in
der Heiligkeit, in die sie durch die Versöhnung und den Frieden im Gehorsam
gegenüber der Wahrheit tiefer hineinwächst. In Tertio Millennio Adveniente
unterstreicht der Papst diese Aussicht: "Das Eingestehen des Versagens
von gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes, der uns dadurch
unseren Glauben zu stärken hilft, dass er uns aufmerksam und bereit macht, uns
mit den Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen. "91
Das Erinnern der Schuld, der Fehler und des Versagens in der Geschichte ist
darum zu begrüßen, auch wenn heute sicher nicht mehr alles in lebendiger
Erinnerung präsent ist. Um das Zerrbild der Kirchengeschichte als einer
einzigen chronique scandaleuse zu vermeiden, darf man aber nie den
Einsatz so vieler Christen bis hin zur Hingabe des Lebens für ihre Treue zum
Evangelium und im Dienst der Nächstenliebe aus den Augen verlieren92.
- Zweites pastorales Ziel ist die mit der ersten Zielbestimmung
eng verbundene Aufgabe einer ständigen Erneuerung des Volkes Gottes. Mit
den Worten des II. Vatikanischen Konzils kann dies so formuliert werden:
"Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser
dauernden Reform (ad hanc perennem reformationem) gerufen, deren sie allzeit
bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je
nach Umständen und Zeitverhältnissen im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht
oder auch in der Art der Lehrverkündigung die von dem Glaubensschatz selbst
genau unterschieden werden muss - nicht genau genug bewahrt worden ist, muss
deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden."93
Alle Getauften sind aufgefordert, "hierbei ihre Treue gegenüber dem Willen
Christi hinsichtlich der Kirche zu prüfen und tatkräftig ans Werk der
notwendigen Erneuerung und Reform zu gehen (opus renovationis nec non
reformationis)"94. Das Kriterium einer wahren Reform und einer
ehrlichen Erneuerung kann dabei kein anderes sein als die Treue zu Gottes
Willen im Bezug auf Sein Volk95. Dies setzt eine ernsthafte Anstrengung
voraus, um sich von all dem zu befreien, was von diesem Willen wegführt, sei es
dass es sich dabei um ein Erbe der Vergangenheit oder um Sünden der Gegenwart
handelt.
- Drittes pastorales Ziel ist das Zeugnis, das die Kirche ablegt für
die Barmherzigkeit Gottes und Seine befreiende und heilende Wahrheit, die sie
im Lauf ihrer Geschichte immer neu erfahren durfte. Ein weiterer Aspekt des
Zeugnisses ist der Dienst, mit dem die Kirche dazu beiträgt, die Übel der
Gegenwart zu überwinden. Mit ihrem Gehorsam gegenüber dem Heilswillen Gottes
dienen Christen den Menschen, damit alle den Glanz und die Schönheit von Gottes
Wahrheit erkennen.
Der Heilige Vater hat von der von vielen Bischöfen gewünschten
Gewissensprüfung gesprochen, die auf die Sendung der Kirche in der Gegenwart
gerichtet sein soll: "An der Schwelle des neuen Jahrtausends müssen die
Christen demütig vor den Herrn treten, um sich nach den Verantwortlichkeiten
zu fragen, die auch sie angesichts der Übel unserer Zeit haben."96
Was können sie zu ihrer Überwindung beitragen?
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