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Internationale Theologische Kommission
Erinnern und Versohnen

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  • Zweites Kapitel BIBLISCHE ZUGÄNGE ZUR FRAGE: HEILIGES GOTTESVOLK UND SCHULD
    • 2.2 Neues Testament
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2.2 Neues Testament

Entscheidend für das Verständnis von Schuld und Sünde im gesamten Neuen Testament ist das Bewusstsein von der absoluten Heiligkeit Gottes. Der Gott Jesu ist der Gott Israels (vgl. Joh 4,22), den Jesus anspricht als "Heiliger Vater" (Joh 17,11), der auch schlechthin "der Heilige" (Joh 2,20; vgl. Offb 6,10) genannt wird. Das Dreimal-Heilig der Jesaja-Vision  (Jes 6,3) ertönt auch in der himmlischen Liturgie, wie der Seher Johannes bezeugt (Offb 4,8). Deswegen sind die Christen mit apostolischer Autorität (1 Petr 1,16) aufgerufen zur Heiligkeit, "weil geschrieben steht: Seid heilig, wie ich heilig bin" (Lev 11,44f.;19,2). In diesen Aussagen spiegelt sich das alttestamentliche Verständnis der absoluten Heiligkeit Gottes wider. Die spezifisch christliche Sicht ist das Bekenntnis, dass Gottes Heiligkeit in der Person Jesu von Nazaret in die Geschichte eingetreten ist. Damit ist aber die alttestamentliche Sicht nicht aufgegeben, sondern erst in ihrem vollen Sinn ans Licht getreten. Die Heiligkeit Gottes vergegenwärtigt sich in der Heiligkeit des fleischgewordenen ewigen Wortes, des Sohnes Gottes (Mk 1,24; Lk 1,35; 4,34; Joh 6,69; Apg 3,14; 4,27.30; Offb 3,7). An der Heiligkeit des Sohnes haben "die Seinen" Anteil (Joh 17,16-19), da sie hineingenommen sind in die Sohnesbeziehung Christi zum Vater. Sie sind Söhne und Töchter Gottes im Sohn Gottes (vgl. Gal 4,4-6; Röm 8,14-17). Doch kann es keinen Anspruch auf die Anteilnahme am Sohnesverhältnis Jesu zum Vater geben, ohne dass es sich auch in der Liebe zum Nächsten auswirkt (vgl. Mk 12,29-31; Mt 22,37f.; Lk 10,27f.). Dieses Motiv, das in der Verkündigung Jesu so entscheidend ist, begegnet im Johannesevangelium als "das neue Gebot": Die Jünger müssen einander lieben, wie er sie geliebt hat (vgl. Joh 13,34f.;15,12.17), und zwar "bis zur Vollendung" (Joh 13,1f .).

Der Christ ist darum berufen zu lieben und zu vergeben nach einem Maß, das alles menschliche Maß von Gerechtigkeit übersteigt. Es geht um eine Wechselseitigkeit der Liebe unter den Menschen, welche die Gemeinschaft der Liebe von Vater und Sohn widerspiegelt (vgl. Joh 13,34f.;15,1-11;17,21-26). In dieser Perspektive erhält das Thema der Wiederversöhnung und der Vergebung eine ganz neue Ausprägung. Jesus verlangt von seinen Jüngern, immer zur Vergebung bereit zu sein, wenn sich jemand an ihnen versündigt hat, so wie auch Gott selbst immer Vergebung gewährt: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigem" (Mt 6,12.12-15), wie Jesus die Jünger im Gebet des Herrn zu sprechen gelehrt hatte. Wer wirklich seinem Nächsten vergibt, hat verstanden, dass er selber immer der Vergebung Gottes bedarf. Die Jünger sind eingeladen, bis zu "siebenmal siebzigmal" denen zu vergeben, die sie beleidigten, selbst wenn diese sie nicht um Verzeihung gebeten haben sollten (vgl. Mt 18,21f.).

Jesus insistiert auf diesem Verhalten des Geschädigten gegenüber seinen Schuldigem. Er ist aufgerufen, den ersten Schritt zu tun. Nur der kann den Teufelskreis der Vergeltung durchbrechen, der "von Herzen" vergibt (vgl. Mt 18,35; Mk 11,25), wohlwissend, dass er selbst Sünder ist vor Gott, der die ehrliche Bitte um Vergebung nie zurückweist. In der Bergpredigt erwartet Jesus von dem, der weiß, dass sein Bruder etwas gegen ihn hat, "dass er hingeht und sich mit seinem Bruder versöhnt, ehe er seine Gabe auf dem Altar opfert" (Mt 5,23f.). Derjenige ist eines Aktes der Verehrung Gottes nicht würdig, der nicht zuvor den Schaden wiedergutmachen will, den er dem Nächsten zugefügt hat. Was zählt, ist Herzensänderung und die Bereitschaft zu wirklicher Versöhnung. Der Sünder, der darum weiß, dass seine bösen Taten seine Beziehung zu Gott und zugleich zum Mitmenschen geschädigt haben (Lk 15,21), kann von niemandem außer von Gott Vergebung erwarten, weil Gott allein immer barmherzig und zur Überwindung der Sünden bereit ist. Darin liegt auch der tiefere Sinn des Opfers Christi, der uns ein für allemal von unseren Sünden erlöst hat (vgl. Hebr 9,22; 10,18). Auf diese Weise sind Menschen, als Täter und Opf er der bösen Taten, in Gott wieder miteinander versöhnt in seiner Barmherzigkeit, in der er alle annimmt und allen seine Vergebung gewährt.

Im Kontext dieser Aussagen, die man mühelos mit Hilfe der Paulinischen und der Katholischen Briefe und weiterer neutestamentlicher Schriften noch anreichern und ausbauen könnte, findet man jedoch nirgends ein Indiz dafür, dass die Urkirche ihre Aufmerksamkeit den Sünden der Vergangenheit zugewendet hätte mit der Absicht, für sie um Vergebung zu bitten. Das lässt sich leicht erklären. Die ungeheure Neuheit des Christlichen hat das Bewusstsein der jungen Kirche ganz auf die Zukunft gerichtet. Der Blick in die Vergangenheit tritt zurück. Man trifft jedoch auf eine Einsicht, die in den Evangelien und in den apostolischen Briefen immer neu und mit Nachdruck betont wird: die besondere Ambivalenz der christlichen Hoffnung. Bei Paulus ist die Kirche, das neue Volk Gottes, eine eschatologische Gemeinde, die jetzt schon als die "neue Schöpfung" (2 Kor 5,17; Gal 6,15) existiert. Diese Erfahrung hat ihren Ermöglichungsgrund in Tod und Auferstehung Christi (vgl. Röm 3,21-26; 5,6-11; 8,1-11; 1 Kor 15,54-57). Sie befreit uns aber nicht von der Neigung zur Sünde, solange wir in dieser Weltzeit leben, die noch bis zur Parusie vom Fall Adams geprägt bleibt. 

Als Ergebnis des göttlichen Eingreifens in die Geschichte durch den Tod Jesu Christi bleiben zwei mögliche Szenarien übrig: die Geschichte in der Konsequenz der Sünde Adams und die Geschichte unter der Macht der Gnade Christi. Diese beiden Grundorientierungen durchziehen die Geschichte und laufen nebeneinander her. Der Glaubende jedoch wird voll und ganz auf Tod und Auferstehung Christi, des Herrn, bauen (vgl. Röm 6,1-11; Gal 3,27f; Kol 3,10; 2 Kor 5,14f .) und so zu der Geschichte gehören, in der die Gnade überreich wurde und alles durchprägt (vgl. Röm 5,12-21).

Eine ähnliche theologische Relecture des Osterereignisses zeigt, dass die Kirche seit ihren Anfängen ein deutliches Bewusstsein hatte von möglichen Fehlern und Mängeln der Getauften. Ohne weiteres kann man sagen, dass das gesamte paulinische Schrifttum die Gläubigen zur vollen Erkenntnis ihrer Würde führen möchte, indem sie zugleich an die Gebrechlichkeit der menschlichen Existenz erinnert werden. Die Conditio humana et christiana umschreibt der Apostel so: "Zur Freiheit hat Christus uns befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1). Eine ähnliche Aussage findet sich besonders auch im Markusevangelium. Zu den Hauptthemen zählen dort die Fehler und Mängel der Jünger Jesu (vgl. Mk 4,40f.; 6,36f.51f.; 8,14-21.31-33; 9,5f.32-41; 10,32-45; 14,10f.17-21.27-31.50; 16,8). Dieses Motiv findet sich in unterschiedlicher Schattierung in allen Evangelien. Judas ist der Verräter Christi und Petrus hat seinen Meister verleugnet. Judas verzweifelt angesichts seiner Tat (vgl. Apg 1,15-20), während Petrus bereut (vgl. Lk 22,61f.) und schließlich das dreifache Bekenntnis der Liebe ablegt (vgl. Joh 21,15-19). Bei Matthäus findet sich die Bemerkung, dass bei der letzten Erscheinung des auferstandenen Herrn "einige zweifelten" (Mt 28,17), während die Jünger vor ihm niederknieten. Im vierten Evangelium sind die Jünger diejenigen, die mit einer unvergleichbaren Liebe beschenkt sind, obgleich ihre Antwort verdunkelt ist von Unverständnis, Glaubensschwäche, Verleugnung und Verrat (vgl. Joh 13,1-38). 

Diese durchgängige Darstellung der Jünger, die in die Nachfolge Jesu berufen sind und die doch unsicher und zur Sünde geneigt bleiben, dient nicht einfach nur einer bloßen Information über historische Vorkommnisse der Anfangszeit. Die biblischen Erzählungen richten sich an alle Jünger Christi, die in schwierige Situationen geraten und das Evangelium als Orientierung für das Leben und als Quelle geistlicher Belehrung ansehen. So ist das Neue Testament voll von Ermahnungen zu einem Leben nach dem Maß des Guten, zur Erkenntnis der eingegangenen Verpflichtungen und zur Vermeidung böser Taten (vgl. etwa Jak 1,5. 8.19-21; 2,1-7; 4,1-10; 1 Petr 1,13-25; 2 Petr 2,1-22; Jud 3-13; 1 Joh 1,5-10; 2,1-11.18-27; 4,1-6; 2 Joh 7-11; 3 Joh 9f.).

Es bleibt aber festzuhalten, dass es kein explizites Zeugnis gibt, nach dem die ersten Christen aufgefordert werden, Sünden und Fehler aus der vergangenen Geschichte zu bekennen, auch wenn es bezeichnend ist, dass die Wirklichkeit der Sünde und des Bösen in Erinnerung gerufen wird auch und gerade für das innere Leben der Kirche, deren Glieder, die Christen, zur eschatologischen Existenz berufen sind. Man denke nur an die starken Worte des Tadels, die sich in den Briefen an die sieben Kirchen in der Apokalypse des Johannes finden. 

Belehrt von ihrem Herrn beten die Christen: "Erlass uns unsere Schuld, wie auch wir jedem erlassen, was er uns schuldig ist" (Lk 11,4; vgl. Mt 6,12). 

Es besteht kein Zweifel, dass sich die ersten Christen -  überblickt man den biblischen Befund - durchaus der Möglichkeit bewusst waren, in ihrem Handeln von ihrer Berufung zum ewigen Leben abzuweichen, das ihnen zuteil geworden war in der Taufe auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi. 




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