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Internationale Theologische Kommission
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  • Viertes Kapitel HISTORISCHE UND THEOLOGISCHE BEURTEILUNG GESCHICHTLICHER VORGÄNGE
    • 4.1 Die Schwierigkeit, Geschichte zu interpretieren
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4.1 Die Schwierigkeit, Geschichte zu interpretieren 

Welche Bedingungen einer korrekten Interpretation der Vergangenheit sind für ein reflektiertes historisches Denken zu fordern? Um sie näher zu bestimmen, muss man sich immer der komplexen Korrelation bewusst bleiben, die zwischen dem interpretierenden Subjekt und dem zu interpretierenden geschichtlichen Gegenstand besteht65.

Unter diesen Kriterien ist an erster Stelle die Erfahrung der Fremdheit zwischen dem Betrachter und seinem Gegenstand zu nennen. Bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit wird zunächst ein wechselseitiges Befremden ausgelöst. Ereignisse und Aussagen sind zuallererst einmal vergangen und passé. Sie lassen sich niemals auf aktuelle Gegebenheiten reduzieren, sondern haben eine objektive Dichte und Komplexität, die ihre schlichte Funktionalisierung für gegenwärtige Interessen ausschließt. Darum kann man sich ihnen nur mittels einer historisch-kritischen Untersuchung annähern. Diese Methode verlangt eine sorgfältige Verwendung aller erreichbaren Informationen zur Rekonstruktion des Umfeldes, der Denkweisen, der Rahmenbedingungen und Entwicklungsabläufe, in denen sich die entsprechenden Ereignisse und Aussagen bewegen. Nur so kann man die Inhalte genau benennen und die Herausforderungen beschreiben, die die Ereignisse bei all ihrer Eigenart und Verschiedenheit für die Gegenwart bedeuten. 

An zweiter Stelle ist unter diesen Kriterien einer historischen Urteilsbildung ein gewisses Einfühlungsvermögen zu nennen. Zwischen dem heutigen Interpreten und der von ihm behandelten Epoche und ihren handelnden Personen muss es ein gewisses Sympathieverhältnis geben. Diese kommunikative Verbindung gründet in der einfachen Tatsache, dass jeder Mensch, ob er gestern gelebt hat oder heute lebt, sich immer als menschliches Wesen in einer Vielfalt historischer Verflechtungen vorfindet und so zur Sprach- und Denkgemeinschaft der Menschen gehört. Wir alle gehören zur Menschheitsgeschichte! Diese Wechselwirkung zwischen dem Interpreten und dem Interpretandum ist in der gemeinsamen Teilhabe in dem begründet, was die geschichtliche Existenz des Menschen als einzelner und als Glied der Menschheit ausmacht. Im einzelnen muss sich diese Vermittlung auf schriftliche, archäologische oder auch persönliche Traditionszeugnisse stützen. Wem dies bewusst ist, der wird auch die Schwierigkeiten kennen, eine wirkliche Korrespondenz herzustellen zwischen dem Verständniskontext des Interpreten und dem zu verstehenden geschichtlichen Gegenstand. Dies erfordert eine kritische Selbstreflexion über die Frage, welche Motive und Interessen die Forschung leiten und wie sie sich möglicherweise auf das Ergebnis auswirken. Zu bedenken ist auch der Lebenskontext, in dem man tätig ist, und die Interpretationsgemeinschaft, zu der man gehört, in deren Sprachwelt man lebt und von der man verstanden werden möchte.

Dazu ist es unerlässlich, sich auf bestmögliche Weise des Vorverständnisses, das in der Tat mit jeder Interpretation einhergeht, bewusst zu werden und es zu reflektieren. Nur so lässt sich seine Auswirkung auf den Interpretationsvorgang beobachten und in Grenzen halten.

Schließlich ist klar, dass sich zwischen dem Interpreten und seinem historischen Gegenstand im Durchgang durch die Anstrengung des Erkennens und Auswertens eine Art Osmose und "Horizontverschmelzung" vollziehen wird. Darin besteht ja eigentlich der Akt der Erkenntnis. Darin drückt sich das Urteil aus, die Ereignisse oder Aussagen der Vergangenheit richtig verstanden zu haben. Das bedeutet soviel, wie den Sinn entdecken, den diese Ereignisse für den Interpreten und seine Welt haben. Dank dieser Begegnung lebendiger Welten wird es möglich, das Verständnis der Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen, so dass auch die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit besser verstanden werden kann. So kann man aus der Vergangenheit Lehren ziehen für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft.

Diese fruchtbare innere Durchdringung der Geschichte erreicht man mit einigen in sich verschränkten fundamentalen hermeneutischen Operationen, die den genannten Momenten der Fremdheit, des historischen Einfühlungsvermögens und des wahren und eigentlichen Verständnisses entsprechen. 

In Beziehung zu einem historischen "Text" - der ganz allgemein verstanden sein soll als schriftliches, mündliches, archäologisches oder figürliches Zeugnis lassen sich drei exegetische Grundvollzüge konkret benennen: 

"1. Das Verstehen des Textes; 2. das Beurteilen, wie zutreffend das eigene Verstehen des Textes ist; und 3. das Ausdrücken dessen, was nach eigenem Urteil das richtige Verständnis des Textes ist."66

Es geht darum, das Zeugnis der Geschichte in größtmöglicher Objektivität zu sehen mittels aller Quellen, mit deren Hilfe man sie darstellen kann. Die Korrektheit der eigenen Interpretation zu beurteilen bedeutet, mit Ernst und Nachdruck zu verifizieren, in welchem Maß sie möglicherweise von einem Vorverständnis geleitet oder bedingt ist oder gar von welchem Vor-Urteil dieses Urteil abhängt. Die Darlegung der erreichten Interpretation bedeutet, die anderen Beteiligten des komplexen Dialogs mit der Vergangenheit miteinzubeziehen, sei es um die Relevanz dieser Interpretation zu verifizieren, sei es um sie mit möglichen anderen Auslegungen zu konfrontieren.




65 Vgl. insgesamt Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 3. erw. Aufl. 1972. 


66 Bernard J. F. Lonergan SJ, Methode in der Theologie, übers. u. hg. von Johannes Bernard, Leipzig 1991,162





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