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Internationale Theologische Kommission
Erinnern und Versohnen

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  • Fünftes Kapitel  MORALISCHE BEWERTUNG
    • 5.1 Ethische Kriterien und das Problem ihrer Anwendung
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5.1 Ethische Kriterien und das Problem ihrer Anwendung 

Auf moralischer Ebene setzt die Bitte um Vergebung immer die Zubilligung der Verantwortlichkeit voraus, genau gesagt der Verantwortlichkeit für eine an anderen begangenen Schuld. Die moralische Verantwortung erstreckt sich normalerweise auf den Konnex von Tat und Täter. So ergibt sich, dass eine bestimmte Tat immer einer bestimmten Person bzw. mehreren Personen eignet. Die Verantwortlichkeit kann objektiv oder subjektiv sein. Die objektive Verantwortlichkeit bezieht sich auf den moralischen Wert einer Handlung, insofern sie in sich gut oder schlecht ist, und dann auch auf die Zurechnung der Handlung an ihren Träger. Die Verantwortlichkeit in subjektiver Hinsicht meint das Vermögen des individuellen Gewissens, die Gutheit oder Verwerflichkeit der begangenen Handlung festzustellen. Die subjektive Verantwortlichkeit erlischt mit dem Tod ihres Akteurs. So ist klar, dass sie nicht über die Generationen weitergereicht werden kann. Die Nachgeborenen können niemals die subjektive Verantwortlichkeit ihrer Vorfahren erben. Somit setzt die Vergebung immer die Zeitgenossenschaft zwischen Opfer und Täter voraus. Die einzige Form der Verantwortlichkeit, für die es eine geschichtliche Kontinuität gibt, ist die objektive Verantwortung, der man sich freiwillig persönlich stellen oder entziehen kann. Denn es ist eine Tatsache, dass die böse Tat wenigstens in ihren destruktiven Auswirkungen weiterwirkt, die durchaus zu einer schweren Belastung für das Gewissen und das geschichtliche Gedächtnis der Nachfahren werden können.

In einem solchen Kontext darf die Solidarität angesprochen werden, die das Bewusstsein einer Einheit und Reziprozität von Vergangenheit und Gegenwart formiert. In gewissen Situationen kann diese Gewissensbelastung eine spezifische Weise des moralischen und religiösen Gedenkens der bösen Tat auslösen, das man seiner Natur nach gemeinsames Gedächtnis nennen kann. Es belegt in eindrücklicher Weise die Existenz einer objektiven Solidarität zwischen denen, die in der Vergangenheit Böses taten, und ihren Erben in der Gegenwart. Somit ist es möglich, von einer gemeinsamen objektiven Verantwortlichkeit zu sprechen. Von einer solchen Art von Verantwortung entlastet man sich vor allem durch die Bitte an Gott, er möge die Sünden der Vergangenheit vergeben. Dazu gehört die "Reinigung des Gedächtnisses", die im wechselseitigen Vergeben der Sünden und Beleidigungen in der Gegenwart kulminiert.

"Das Gedächtnis reinigen" ist der Versuch, aus dem persönlichen und gemeinschaftlichen Bewusstsein alle Formen von Ressentiment und Gewalt zu überwinden, die uns die Vergangenheit als Erbe hinterlassen hat. Auf der Basis einer neuen und vertieften historischen und theologischen Bewertung der Geschichte öffnet sich der Weg zur Erneuerung des moralischen Handelns. Dies ereignet sich jedesmal, wenn man zu einer neuen Qualifizierung historischer Ereignisse gelangt, die eine ganz neue und verschiedene Wirkung auf die Gegenwart mit sich bringt, vor allem im Hinblick auf eine entstehende Versöhnung in der Wahrheit, der Gerechtigkeit und Liebe unter allen Menschen und besonders zwischen der Kirche und den verschiedenen religiösen, kulturellen und zivilen Gemeinschaften, mit denen sie in Beziehung steht. Modell eines solchen Wandels der historischen Beurteilung vergangener Ereignisse aus einem neuen Blickwinkel kann etwa die Rezeption der Konzilien sein oder die Aufhebung der wechselseitigen Anathematisierung. Diese Akte sind Sinnbild für das künftige Leben der ganzen Kirche, da sie eine neue Qualifikation der Geschichte wagen, um eine andere Ausgestaltung der in der Gegenwart gelebten Beziehungen zueinander zu ermöglichen. Die Erinnerung an die Spaltung und die Konfrontation wird geheilt und transponiert in die Form einer versöhnten Erinnerung. Alle Glieder der Kirche sind eingeladen, sich der versöhnten Erinnerung zu öffnen und sich davon formen zu lassen. 

Die Kombination des historischen und theologischen Urteils bei der Neuinterpretation der Geschichte verbindet sich hier mit allen moralischen Rückwirkungen, die sie in der Gegenwart auslöst. Nicht zu vergessen sind einige moralische Prinzipien, die der Hermeneutik einer Interferenz von historischer und theologischer Beurteilung entsprechen.

Es handelt sich um folgende Prinzipien:

a. Das Prinzip des Gewissens. Das Gewissen als "moralisches Urteil" und "moralischer Imperativ" begründet im Angesicht Gottes die letztgültige Bewertung einer Handlung als gut oder schlecht. In der Tat kennt allein Gott den moralischen Wert einer jeden menschlichen Tat, wenn auch die Kirche nach der Lehre Jesu bestimmte Handlungsweisen in Typen klassifizieren und bewerten kann und mitunter bestimmte Handlungsweisen verurteilen und ablehnen muss (vgl. Mt 18,15-18). 

b. Das Prinzip der Geschichtlichkeit. Wenn es zweifellos zutrifft, dass jeder menschliche Akt seinem Täter eignet, so handelt doch jedes individuelle Gewissen und jede Gemeinschaft innerhalb des ihnen eigenen Horizontes von Raum und Zeit. Um also die sittlichen Akte des Menschen und die mit ihnen einhergehenden Wirkungen richtig zu verstehen, müssen wir in die Lebens- und Kulturwelt derer eintreten, die diese Handlungen begangen haben. Allein auf diese Weise können wir uns ihren Motivationen und ihren leitenden moralischen Grundüberzeugungen nähern. Dies muss man sagen ohne Vorurteil über die Solidarität, die die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft im Durchgang der Zeiten miteinander verbindet. 

c. Das Prinzip des "Paradigmenwechsels". Im Raum der abendländischen Christenheit gab es bis zum Zeitalter der "Aufklärung" eine Art Einheit von Kirche und Staat, von Glaube und Kultur, von Moral und Gesetz, die sich aber bekanntlich seit Anfang des 18. Jahrhunderts aufgelöst oder modifiziert hatte. Das Resultat war die Ablösung einer sakralen Ordnung durch eine pluralistische oder säkulare Gesellschaft. Die Grundmodelle des Denkens und Handelns, die sogenannten "Handlungs- und Bewertungsparadigmen" änderten sich nachhaltig. Ein solcher soziokultureller Wandlungsprozess bleibt nicht ohne Auswirkung auf die moralischen Urteilskriterien. Diese Einsicht rechtfertigt freilich in keiner Weise die Idee eines Relativismus moralischer Prinzipien oder der Moralität als solcher.

Der gesamte Prozess einer "Reinigung des Gedächtnisses" erschöpft sich nicht in der richtigen Verbindung von historischem und theologischem Urteil und in der korrekten Anwendung der hermeneutischen Prinzipien. Es geht auch nicht darum, Abscheu vor der Vergangenheit oder eine depressive Haltung zu erzeugen, die Selbstgeißelung zur kirchlichen Tugend machen wollte.

Vielmehr geht es um das dankbare Bekenntnis zu Gott, der seine Barmherzigkeit "von Generation zu Generation" (Lk 1,50) erweist. Denn Gott will das Leben und nicht den Tod des Sünders, er will die Liebe und nicht Furcht und Angst. 

Nicht zu unterschätzen sind auch die exemplarischen Wirkungen, die von einer großherzigen Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Sünden der Vergangenheit auf die Mentalität in Kirche und Gesellschaft ausgehen. Viele werden auf die Verpflichtung aufmerksam werden, die von der Wahrheit ausgeht, und sie werden sich vom Respekt, von der Würde und den Rechten "des Anderen", besonders des Schwachen, tiefer bestimmen lassen. Mit den zahlreichen Bitten um Vergebung hat Johannes Paul II. ein gutes Beispiel gegeben, das zur Nachahmung einlädt. Die Vergebungsbitten fördern in jedem Fall das Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften. Eine vorurteilsfreie und großherzige Gewissenserforschung ist nur zu begrüßen, weil sie die einzelnen und die Völker auf Wege zur Versöhnung leitet. 

Im Licht dieser Klärungen der ethischen Urteilskriterien sollen nun einige Vorkommnisse aus der Geschichte dargestellt werden, bei denen das Verhalten von Gliedern der Kirche im ausdrücklichen Widerspruch zum Evangelium Jesu Christi zu stehen scheint. Mehrere dieser Beispiele hat Johannes Paul II. in Tertio Millennio Adveniente bereits angesprochen69.




69 Vgl. T'MA, 34-36. 





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