Die tieferen Fragen der Menschheit
10. In Wahrheit hängen die
Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt leidet, mit jener
tiefer liegenden Störung des Gleichgewichts zusammen, die im Herzen des
Menschen ihren Ursprung hat. Denn im Menschen selbst sind viele
widersprüchliche Elemente gegeben. Einerseits erfährt er sich nämlich als
Geschöpf vielfältig begrenzt, andererseits empfindet er sich in seinem
Verlangen unbegrenzt und berufen zu einem Leben höherer Ordnung. Zwischen
vielen Möglichkeiten, die ihn anrufen, muß er dauernd unweigerlich eine Wahl
treffen und so auf dieses oder jenes verzichten. Als schwacher Mensch und
Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte, tut er nicht3. So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und
daraus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft.
Freilich werden viele durch eine praktisch materialistische Lebensführung von
einer klaren Erfassung dieses dramatischen Zustandes abgelenkt oder vermögen
unter dem Druck ihrer Verelendung sich nicht mit ihm zu beschäftigen. Viele
glauben, in einer der vielen Weltdeutungen ihren Frieden zu finden. Andere
wieder erwarten vom bloßen menschlichen Bemühen die wahre und volle Befreiung
der Menschheit und sind davon überzeugt, daß die künftige Herrschaft des
Menschen über die Erde alle Wünsche ihres Herzens erfüllen wird. Andere wieder
preisen, am Sinn des Lebens verzweifelnd, den Mut derer, die in der Überzeugung
von der absoluten Bedeutungslosigkeit der menschlichen Existenz versuchen, ihr
nun die ganze Bedeutung ausschließlich aus autonomer Verfügung des Subjekts zu
geben. Dennoch wächst angesichts der heutigen Weltentwicklung die Zahl derer,
die die Grundfragen stellen oder mit neuer Schärfe spüren: Was ist der Mensch?
Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes - alles Dinge, die trotz
solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so
teuer erkauft werden mußten? Was kann der Mensch der Gesellschaft geben, was
von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen Leben?
Die Kirche aber glaubt:
Christus, der für alle starb und auferstand4, schenkt dem Menschen
Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung
nachkommen kann; es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen
gegeben, in dem sie gerettet werden sollen5. Sie glaubt ferner, daß
in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der
ganzen Menschheitsgeschichte gegeben ist. Die Kirche bekennt überdies, daß
allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund
in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit6. Im Licht Christi also, des Bildes des unsichtbaren
Gottes, des Erstgeborenen vor aller Schöpfung7, will das Konzil alle Menschen ansprechen, um das
Geheimnis des Menschen zu erhellen und mitzuwirken dabei, daß für die dringlichsten
Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird.
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