Formen und Wurzeln des Atheismus
19. Ein besonderer
Wesenszug der Würde des Menschen liegt in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit
Gott. Zum Dialog mit Gott ist der Mensch schon von seinem Ursprung her
aufgerufen: er existiert nämlich nur, weil er, von Gott aus Liebe geschaffen,
immer aus Liebe erhalten wird; und er lebt nicht voll gemäß der Wahrheit, wenn
er diese Liebe nicht frei anerkennt und sich seinem Schöpfer anheimgibt. Viele
unserer Zeitgenossen erfassen aber diese innigste und lebensvolle Verbindung
mit Gott gar nicht oder verwerfen sie ausdrücklich. So muß man den Atheismus zu
den ernstesten Gegebenheiten dieser Zeit rechnen und aufs sorgfältigste prüfen.
Mit dem Wort Atheismus werden voneinander sehr verschiedene Phänomene
bezeichnet. Manche leugnen Gott ausdrücklich; andere meinen, der Mensch könne
überhaupt nichts über ihn aussagen; wieder andere stellen die Frage nach Gott
unter solchen methodischen Voraussetzungen, daß sie von vornherein sinnlos zu
sein scheint. Viele überschreiten den Zuständigkeitsbereich der
Erfahrungswissenschaften und erklären, alles sei nur Gegenstand solcher
naturwissenschaftlicher Forschung, oder sie verwerfen umgekehrt jede
Möglichkeit einer absoluten Wahrheit. Manche sind, wie es scheint, mehr
interessiert an der Bejahung des Menschen als an der Leugnung Gottes, rühmen
aber den Menschen so, daß ihr Glaube an Gott keine Lebensmacht mehr bleibt.
Andere machen sich ein solches Bild von Gott, daß jenes Gebilde, das sie
ablehnen, keineswegs der Gott des Evangeliums ist. Andere nehmen die Fragen
nach Gott nicht einmal in Angriff, da sie keine Erfahrung der religiösen Unruhe
zu machen scheinen und keinen Anlaß sehen, warum sie sich um Religion kümmern
sollten. Der Atheismus entsteht außerdem nicht selten aus dem heftigen Protest
gegen das Übel in der Welt oder aus der unberechtigten Übertragung des Begriffs
des Absoluten auf gewisse menschliche Werte, so daß diese an Stelle Gottes
treten. Auch die heutige Zivilisation kann oft, zwar nicht von ihrem Wesen her,
aber durch ihre einseitige Zuwendung zu den irdischen Wirklichkeiten, den
Zugang zu Gott erschweren. Gewiß sind die, die in Ungehorsam gegen den Spruch
ihres Gewissens absichtlich Gott von ihrem Herzen fernzuhalten und religiöse
Fragen zu vermeiden suchen, nicht ohne Schuld; aber auch die Gläubigen selbst
tragen daran eine gewisse Verantwortung. Denn der Atheismus, allseitig betrachtet,
ist nicht eine ursprüngliche und eigenständige Erscheinung; er entsteht
vielmehr aus verschiedenen Ursachen, zu denen auch die kritische Reaktion gegen
die Religionen, und zwar in einigen Ländern vor allem gegen die christliche
Religion, zählt. Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus die
Gläubigen einen erheblichen Anteil haben, insofern man sagen muß, daß sie durch
Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch mißverständliche Darstellung der
Lehre oder auch durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und
gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher
verhüllen als offenbaren.
|