2. Kapitel: Die Weitergabe der göttlichen Offenbarung
7.
Was Gott zum Heil aller Völker geoffenbart hatte, das sollte so hat er in Güte
verfügt - für alle Zeiten unversehrt erhalten bleiben und allen Geschlechtern
weitergegeben werden. Darum hat Christus der Herr, in dem die ganze Offenbarung
des höchsten Gottes sich vollendet (vgl. 2 Kor 1,20; 3,16 - 4,6), den Aposteln
geboten, das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen
prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet
hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre1 und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen. Das ist treu
ausgeführt worden, und zwar sowohl durch die Apostel, die durch mündliche
Predigt, durch Beispiel und Einrichtungen weitergaben, was sie aus Christi
Mund, im Umgang mit ihm und durch seine Werke empfangen oder was sie unter der
Eingebung des Heiligen Geistes gelernt hatten, als auch durch jene Apostel und
apostolischen Männer, die unter der Inspiration des gleichen Heiligen Geistes
die Botschaft vom Heil niederschrieben2. Damit das Evangelium
in der Kirche für immer unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die
Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen "ihr eigenes
Lehramt überliefert"3. Diese Heilige
Überlieferung und die Heilige Schrift beider Testamente sind gleichsam ein
Spiegel, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer
irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu
Angesicht zu sehen, so wie er ist (vgl. 1 Joh 3,2).
8.
Daher mußte die apostolische Predigt, die in den inspirierten Büchern besonders
deutlichen Ausdruck gefunden hat, in ununterbrochener Folge bis zur Vollendung
der Zeiten bewahrt werden. Wenn die Apostel das, was auch sie empfangen haben,
überliefern, mahnen sie die Gläubigen, die Überlieferungen, die sie in
mündlicher Rede oder durch einen Brief gelernt haben (vgl. 2 Thess 2,15),
festzuhalten und für den Glauben zu kämpfen, der ihnen ein für allemal
überliefert wurde (vgl. Jud 3)4. Was von den Aposteln
überliefert wurde, umfaßt alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben
zu führen und den Glauben zu mehren. So führt die Kirche in Lehre, Leben und
Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie
selber ist, alles, was sie glaubt. Diese apostolische Überlieferung kennt in
der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt5: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und
Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen
(vgl. Lk 2,19.51), durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt,
durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere
Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der
Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr
sich Gottes Worte erfüllen. Die Aussagen der heiligen Väter bezeugen die
lebenspendende Gegenwart dieser Überlieferung, deren Reichtümer sich in Tun und
Leben der glaubenden und betenden Kirche ergießen. Durch dieselbe Überlieferung
wird der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt, in ihr
werden die Heiligen Schriften selbst tiefer verstanden und unaufhörlich wirksam
gemacht. So ist Gott, der einst gesprochen hat, ohne Unterlaß im Gespräch mit
der Braut seines geliebten Sohnes, und der Heilige Geist, durch den die
lebendige Stimme des Evangeliums in der Kirche und durch sie in der Welt
widerhallt, führt die Gläubigen in alle Wahrheit ein und läßt das Wort Christi
in Überfülle unter ihnen wohnen (vgl. Kol 3,16).
9.
Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander
verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend,
fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu.
Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des
Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige Überlieferung
aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den
Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es
unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung
treu bewahren, erklären und ausbreiten. So ergibt sich, daß die Kirche ihre
Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein
schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und
verehrt werden6.
10. Die Heilige Überlieferung und die
Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des
Wortes Gottes. Voller Anhänglichkeit an ihn verharrt das ganze heilige Volk,
mit seinen Hirten vereint, ständig in der Lehre und Gemeinschaft der Apostel,
bei Brotbrechen und Gebet (vgl. Apg 8,42 griech.), so daß im Festhalten am
überlieferten Glauben, in seiner Verwirklichung und seinem Bekenntnis ein
einzigartiger Einklang herrscht zwischen Vorstehern und Gläubigen7. Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte8 Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem
lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut9, dessen Vollmacht im
Namen Jesu Christi ausgeübt wird. Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes,
sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das
Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes
voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es
als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des
Glaubens schöpft. Es zeigt sich also, daß die Heilige Überlieferung, die
Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so
miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß keines ohne die anderen
besteht und daß alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen
Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.
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