Natur und Endzweck der politischen Gemeinschaft
74. Die Einzelnen, die Familien und die verschiedenen Gruppen, aus denen sich
die politische Gemeinschaft zusammensetzt, wissen, daß sie allein nicht
imstande sind, alles das zu leisten, was zu einem in jeder Richtung
menschlichen Leben gehört. Sie erfassen die Notwendigkeit einer umfassenderen
Gesellschaft, in der alle täglich ihre eigenen Kräfte zusammen zur ständig besseren
Verwirklichung des Gemeinwohls einsetzen1. So begründen sie denn
die politische Gemeinschaft in ihren verschiedenen Formen. Die politische
Gemeinschaft besteht also um dieses Gemeinwohls willen; in ihm hat sie ihre
letztgültige Rechtfertigung und ihren Sinn, aus ihm leitet sie ihr
ursprüngliches Eigenrecht ab. Das Gemeinwohl aber begreift in sich die Summe
aller jener Bedingungen gesellschaftlichen Lebens, die den Einzelnen, den
Familien und gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und
ungehinderter zu erreichen gestatten2. Aber die Menschen, die
zu einer politischen Gemeinschaft zusammenfinden, sind zahlreich und
verschiedenartig. Sie können mit Recht verschiedene Meinungen haben. Damit nun
der Staat nicht dadurch, daß jeder seiner eigenen Ansicht folgt, zerfällt,
bedarf es einer Autorität, welche die Kräfte aller Bürger auf das Gemeinwohl
lenkt, nicht bloß durch die Automatismen des Institutionellen oder durch
brutale Gewalt, sondern vor allem als moralische Macht, die sich stützt auf die
Freiheit und auf das Bewußtsein einer übernommenen Verantwortung. Offenkundig
sind also die politische Gemeinschaft und die öffentliche Autorität in der menschlichen
Natur begründet und gehören zu der von Gott vorgebildeten Ordnung, wenngleich
die Bestimmung der Regierungsform und die Auswahl der Regierenden dem freien
Willen der Staatsbürger überlassen bleiben3. Ebenso ergibt sich,
daß sich die Ausübung der politischen Gewalt in der Gemeinschaft als solcher
oder in den für sie repräsentativen Institutionen immer nur im Rahmen der
sittlichen Ordnung vollziehen darf, und zwar zur Verwirklichung des Gemeinwohls
- dieses aber dynamisch verstanden - und entsprechend einer legitimen
juridischen Ordnung, die bereits besteht oder noch geschaffen werden soll. Dann
aber sind auch die Staatsbürger im Gewissen zum Gehorsam verpflichtet4. Daraus ergeben sich also die Verantwortlichkeit, Würde
und Bedeutung der Regierenden. Wo jedoch die Staatsbürger von einer
öffentlichen Gewalt, die ihre Zuständigkeit überschreitet, bedrückt werden,
sollen sie sich nicht weigern, das zu tun, was das Gemeinwohl objektiv verlangt.
Sie haben jedoch das Recht, ihre und ihrer Mitbürger Rechte gegen den Mißbrauch
der staatlichen Autorität zu verteidigen, freilich innerhalb der Grenzen des
Naturrechts und des Evangeliums. Die konkrete Art und Weise, wie die politische
Gemeinschaft ihre eigene Verfassung und die Ausübung der öffentlichen Gewalt
ordnet, kann entsprechend der Eigenart der verschiedenen Völker und der
geschichtlichen Entwicklung verschieden sein. Immer aber muß sie im Dienst der
Formung eines gebildeten, friedliebenden und gegenüber allen anderen
wohlwollenden Menschen stehen, zum Vorteil der gesamten Menschheitsfamilie.
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