I.
Die Orientalischen Kirchen
14.
Die Kirchen des Orients und des Abendlandes sind Jahrhunderte hindurch je ihren
besonderen Weg gegangen, jedoch miteinander verbunden in brüderlicher
Gemeinschaft des Glaubens und des sakramentalen Lebens, wobei dem Römischen
Stuhl mit allgemeiner Zustimmung eine Führungsrolle zukam, wenn Streitigkeiten
über Glaube oder Disziplin unter ihnen entstanden. Mit Freude möchte die
Heilige Synode neben anderen sehr bedeutsamen Dingen allen die Tatsache in
Erinnerung rufen, daß im Orient viele Teilkirchen oder Ortskirchen bestehen,
unter denen die Patriarchalkirchen den ersten Rang einnehmen und von denen
nicht wenige sich ihres apostolischen Ursprungs rühmen. Deshalb steht bei den
Orientalen bis auf den heutigen Tag der Eifer und die Sorge im Vordergrund,
jene brüderlichen Bande der Gemeinschaft im Glauben und in der Liebe zu bewahren,
die zwischen Lokalkirchen als Schwesterkirchen bestehen müssen. Es darf
ebenfalls nicht unerwähnt bleiben, daß die Kirchen des Orients von Anfang an
einen Schatz besitzen, aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der
Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung
vielfach geschöpft hat. Auch das darf in seiner Bedeutung nicht unterschätzt
werden, daß die Grunddogmen des christlichen Glaubens von der Dreifaltigkeit
und von dem Wort Gottes, das aus der Jungfrau Maria Fleisch angenommen hat, auf
ökumenischen Konzilien definiert worden sind, die im Orient stattgefunden
haben. Jene Kirchen haben für die Bewahrung dieses Glaubens viel gelitten und
leiden noch heute. Das von den Aposteln überkommene Erbe aber ist in
verschiedenen Formen und auf verschiedene Weise übernommen, und daher schon von
Anfang an in der Kirche hier und dort verschieden ausgelegt worden, wobei auch
die Verschiedenheit der Mentalität und der Lebensverhältnisse eine Rolle
spielten. Dies alles hat, neben äußeren Gründen, auch infolge des Mangels an
Verständnis und Liebe füreinander zu der Trennung Anlaß geboten, Deshalb
ermahnt das Heilige Konzil alle, besonders diejenigen, die sich um die so
erwünschte Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft zwischen den orientalischen
Kirchen und der katholischen Kirche bemühen wollen, daß sie diese besonderen
Umstände der Entstehung und des Wachstums der Kirchen des Orients sowie die Art
der vor der Trennung zwischen ihnen und dem Römischen Stuhl bestehenden
Beziehungen gebührend berücksichtigen und sich über dies alles ein rechtes
Urteil bilden. Die genaue Beachtung dieser Frage wird zu dem beabsichtigten
Dialog im höchsten Maße beitragen.
15.
Es ist allgemein bekannt, mit welcher Liebe die orientalischen Christen die
liturgischen Feiern begehen, besonders die Eucharistiefeier, die Quelle des
Lebens der Kirche und das Unterpfand der kommenden Herrlichkeit, bei der die
Gläubigen, mit ihrem Bischof geeint, Zutritt zu Gott dem Vater haben durch den
Sohn, das fleischgewordene Wort, der gelitten hat und verherrlicht wurde, in
der Ausgießung des Heiligen Geistes, und so die Gemeinschaft mit der
allerheiligsten Dreifaltigkeit erlangen, indem sie,der göttlichen Natur
teilhaftig" (2 Petr 1,4) geworden sind. So baut sich auf und wächst26 durch die Feier der Eucharistie des Herrn in diesen
Einzelkirchen die Kirche Gottes, und durch die Konzelebration wird ihre
Gemeinschaft offenbar. Bei diesem liturgischen Kult preisen die Orientalen mit
herrlichen Hymnen Maria, die allzeit Jungfräuliche, die das Ökumenische Konzil
von Ephesus feierlich als heilige Gottesgebärerin verkündet hat, damit dadurch
wahrhaft und eigentlich Christus als Gottes- und Menschensohn gemäß der Schrift
anerkannt werde. Ebenso verehren sie viele Heilige, unter ihnen Väter der
gesamten Kirche. Da nun diese Kirchen trotz ihrer Trennung wahre Sakramente
besitzen, vor allem aber in der Kraft der apostolischen Sukzession das
Priestertum und die Eucharistie, wodurch sie in ganz enger Verwandtschaft bis
heute mit uns verbunden sind, so ist eine gewisse Gottesdienstgemeinschaft
unter gegebenen geeigneten Umständen mit Billigung der kirchlichen Autorität
nicht nur möglich, sondern auch ratsam. Im Orient finden sich auch die Reichtümer
jener geistlichen Traditionen, die besonders im Mönchtum ihre Ausprägung
gefunden haben. Denn seit den glorreichen Zeiten der heiligen Väter blühte dort
jene monastische Spiritualität, die sich von dorther auch in den Gegenden des
Abendlandes ausbreitete und aus der das Ordenswesen der Lateiner als aus seiner
Quelle seinen Ursprung nahm und immer wieder neue Kraft erhielt. Deshalb wird
mit Nachdruck empfohlen, daß die Katholiken sich mehr mit diesen geistlichen
Reichtümern der orientalischen Väter vertraut machen, die den Menschen in
seiner Ganzheit zur Betrachtung der göttlichen Dinge emporführen. Alle sollen
um die große Bedeutung wissen, die der Kenntnis, Verehrung, Erhaltung und
Pflege des überreichen liturgischen und geistlichen Erbes der Orientalen
zukommt, damit die Fülle der christlichen Tradition in Treue gewahrt und die
völlige Wiederversöhnung der orientalischen und der abendländischen Christen
herbeigeführt werde.
16.
Schon von den ältesten Zeiten her hatten die Kirchen des Orients ihre eigenen
Kirchenordnungen, die von den heiligen Vätern und Synoden, auch von
ökumenischen, sanktioniert worden sind. Da nun eine gewisse Verschiedenheit der
Sitten und Gebräuche, wie sie oben erwähnt wurde, nicht im geringsten der
Einheit der Kirche entgegensteht, sondern vielmehr ihre Zierde und Schönheit
vermehrt und zur Erfüllung ihrer Sendung nicht wenig beiträgt, so erklärt das
Heilige Konzil feierlich, um jeden Zweifel auszuschließen, daß die Kirchen des
Orients, im Bewußtsein der notwendigen Einheit der ganzen Kirche, die Fähigkeit
haben, sich nach ihren eigenen Ordnungen zu regieren, wie sie der Geistesart
ihrer Gläubigen am meisten entsprechen und dem Heil der Seelen am besten
dienlich sind. Die vollkommene Beobachtung dieses Prinzips, das in der
Tradition vorhanden, aber nicht immer beachtet worden ist, gehört zu den
Dingen, die zur Wiederherstellung der Einheit als notwendige Vorbedingung
durchaus erforderlich sind.
17.
Was oben von der legitimen Verschiedenheit gesagt wurde, dasselbe soll nun auch
von der verschiedenen Art der theologischen Lehrverkündigung gesagt werden.
Denn auch bei der Erklärung der Offenbarungswahrheit sind im Orient und im
Abendland verschiedene Methoden und Arten des Vorgehens zur Erkenntnis und zum
Bekenntnis der göttlichen Dinge angewendet worden. Daher darf es nicht
wundernehmen, daß von der einen und von der anderen Seite bestimmte Aspekte des
offenbarten Mysteriums manchmal besser verstanden und deutlicher ins Licht
gestellt wurden, und zwar so, daß man bei jenen verschiedenartigen
theologischen Formeln oft mehr von einer gegenseitigen Ergänzung als von einer
Gegensätzlichkeit sprechen muß. Gerade gegenüber den authentischen
theologischen Traditionen der Orientalen muß anerkannt werden, daß sie in ganz
besonderer Weise in der Heiligen Schrift verwurzelt sind, daß sie durch das
liturgische Leben gefördert und zur Darstellung gebracht werden, daß sie
genährt sind von der lebendigen apostolischen Tradition und von den Schriften
der Väter und geistlichen Schriftsteller des Orients und daß sie zur rechten
Gestaltung des Lebens, überhaupt zur vollständigen Betrachtung der christlichen
Wahrheit hinführen. Dieses Heilige Konzil erklärt, daß dies ganze geistliche
und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe mit seinen verschiedenen
Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört; und
sie sagt Gott dafür Dank, daß viele orientalische Söhne der katholischen
Kirche, die dieses Erbe bewahren und den Wunsch haben, es reiner und
vollständiger zu leben, schon jetzt mit den Brüdern, die die abendländische
Tradition pflegen, in voller Gemeinschaft leben.
18.
Im Hinblick auf all dies erneuert das Heilige Konzil feierlich, was in der
Vergangenheit von Heiligen Konzilien und von römischen Päpsten erklärt wurde,
daß es nämlich zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und
Einheit notwendig sei, "keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige
hinausgehen" (Apg 15,28). Es spricht den dringenden Wunsch aus, daß von
nun an alle ihr Bestreben darauf richten, diese Einheit allmählich zu erlangen
in den verschiedenen Einrichtungen und Lebensformen der Kirche, besonders durch
das Gebet und den brüderlichen Dialog über die Lehre und über die drängenden
Notwendigkeiten der Seelsorgsaufgaben in unserer Zeit. In gleicher Weise
empfiehlt das Heilige Konzil den Hirten und den Gläubigen der katholischen
Kirche eine enge Verbundenheit mit denen, die nicht mehr im Orient, sondern
fern von ihrer Heimat leben, damit die brüderliche Zusammenarbeit mit ihnen im
Geist der Liebe und unter Ausschluß jeglichen Geistes streitsüchtiger
Eifersucht wachse. Wenn dieses Werk mit ganzer Seele in Angriff genommen wird,
so hofft das Heilige Konzil, daß die Wand, die die abendländische und die
orientalische Kirche trennt, einmal hinweggenommen werde und schließlich nur
eine einzige Wohnung sei, deren fester Eckstein Jesus Christus ist, der aus
beidem eines machen wird27.
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