II.
Die getrennten Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften im Abendland
19.
Die Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften, die in der schweren Krise, die im
Abendland schon vom Ende des Mittelalters ihren Ausgang genommen hat, oder auch
in späterer Zeit vom Römischen Apostolischen Stuhl getrennt wurden, sind mit
der katholischen Kirche durch das Band besonderer Verwandtschaft verbunden, da
ja das christliche Volk in den Jahrhunderten der Vergangenheit so lange Zeit
sein Leben in kirchlicher Gemeinschaft geführt hat. Da jedoch diese Kirchen und
Kirchlichen Gemeinschaften wegen ihrer Verschiedenheit nach Ursprung, Lehre und
geistlichem Leben nicht nur uns gegenüber, sondern auch untereinander nicht
wenige Unterschiede aufweisen, so wäre es eine überaus schwierige Aufgabe, sie
recht zu beschreiben, was wir hier zu unternehmen nicht beabsichtigen. Obgleich
die ökumenische Bewegung und der Wunsch nach Frieden mit der katholischen
Kirche sich noch nicht überall durchgesetzt hat, so hegen wir doch die
Hoffnung, daß bei allen ökumenischer Sinn und gegenseitige Achtung allmählich
wachsen. Dabei muß jedoch anerkannt werden, daß es zwischen diesen Kirchen und
Gemeinschaften und der katholischen Kirche Unterschiede von großem Gewicht
gibt, nicht nur in historischer, soziologischer, psychologischer und
kultureller Beziehung, sondern vor allem in der Interpretation der offenbarten
Wahrheit. Damit jedoch trotz dieser Unterschiede der ökumenische Dialog
erleichtert werde, wollen wir im folgenden einige Gesichtspunkte hervorheben,
die das Fundament und ein Anstoß zu diesem Dialog sein können und sollen.
20.
Unser Geist wendet sich zuerst den Christen zu, die Jesus Christus als Gott und
Herrn und einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen offen bekennen zur
Ehre des einen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wir
wissen zwar, daß nicht geringe Unterschiede gegenüber der Lehre der
katholischen Kirche bestehen, insbesondere über Christus als das
fleischgewordene Wort Gottes und über das Werk der Erlösung, sodann über das
Geheimnis und den Dienst der Kirche und über die Aufgabe Mariens im Heilswerk.
Dennoch freuen wir uns, wenn wir sehen, wie die getrennten Brüder zu Christus
als Quelle und Mittelpunkt der kirchlichen Gemeinschaft streben. Aus dem Wunsch
zur Vereinigung mit Christus werden sie notwendig dazu geführt, die Einheit
mehr und mehr zu suchen und für ihren Glauben überall vor allen Völkern Zeugnis
zu geben.
21.
Die Liebe und Hochschätzung, ja fast kultische Verehrung der Heiligen Schrift
führen unsere Brüder zu einem unablässigen und beharrlichen Studium dieses
heiligen Buches: Das Evangelium ist ja "eine Kraft Gottes zum Heile für
jeden, der glaubt, für den Juden zuerst, aber auch für den Griechen" (Röm
1,16). Unter Anrufung des Heiligen Geistes suchen sie in der Heiligen Schrift
Gott, wie er zu ihnen spricht in Christus, der von den Propheten
vorherverkündigt wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist. In
der Heiligen Schrift betrachten sie das Leben Christi und was der göttliche
Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die
Geheimnisse seines Todes und seiner Auferstehung. Während die von uns
getrennten Christen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift bejahen, haben
sie jedoch, jeder wieder auf andere Art, eine von uns verschiedene Auffassung
von dem Verhältnis zwischen der Schrift und der Kirche, wobei nach dem
katholischen Glauben das authentische Lehramt bei der Erklärung und
Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes einen besonderen Platz einnimmt.
Nichtsdestoweniger ist die Heilige Schrift gerade beim Dialog ein
ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu
erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet.
22.
Der Mensch wird durch das Sakrament der Taufe, wenn es gemäß der Einsetzung des
Herrn recht gespendet und in der gebührenden Geistesverfassung empfangen wird,
in Wahrheit dem gekreuzigten und verherrlichten Christus eingegliedert und
wiedergeboren zur Teilhabe am göttlichen Leben nach jenem Wort des Apostels:
"Ihr seid in der Taufe mit ihm begraben, in ihm auch auferstanden durch
den Glauben an das Wirken Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat"
(Kol 2,12)28. Die Taufe begründet
also ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie
wiedergeboren sind. Dennoch ist die Taufe nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da
sie ihrem ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens in
Christus. Daher ist die Taufe hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des
Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung, wie Christus
sie gewollt hat, schließlich auf die vollständige Einfügung in die
eucharistische Gemeinschaft. Obgleich bei den von uns getrennten Kirchlichen
Gemeinschaften die aus der Taufe hervorgehende volle Einheit mit uns fehlt und
obgleich sie nach unserem Glauben vor allem wegen des Fehlens des
Weihesakramentes die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit (substantia)
des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, bekennen sie doch bei der
Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung des Herrn im Heiligen Abendmahl,
daß hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde, und sie
erwarten seine glorreiche Wiederkunft. Deshalb sind die Lehre vom Abendmahl des
Herrn, von den übrigen Sakramenten, von der Liturgie und von den Dienstämtern
der Kirche notwendig Gegenstand des Dialogs.
23.
Das christliche Leben dieser Brüder wird genährt durch den Glauben an Christus,
gefördert durch die Gnade der Taufe und das Hören des Wortes Gottes. Dies zeigt
sich im privaten Gebet, in der biblischen Betrachtung, im christlichen
Familienleben und im Gottesdienst der zum Lob Gottes versammelten Gemeinde.
Übrigens enthält ihr Gottesdienst nicht selten deutlich hervortretende Elemente
der alten gemeinsamen Liturgie. Der Christusglaube zeitigt seine Früchte in
Lobpreis und Danksagung für die von Gott empfangenen Wohltaten; hinzu kommt ein
lebendiges Gerechtigkeitsgefühl und eine aufrichtige Nächstenliebe. Dieser
werktätige Glaube hat auch viele Einrichtungen zur Behebung der geistlichen und
leiblichen Not, zur Förderung der Jugenderziehung, zur Schaffung menschenwürdiger
Verhältnisse im sozialen Leben und zur allgemeinen Festigung des Friedens
hervorgebracht. Wenn auch viele Christen das Evangelium auf dem Gebiet der
Moral weder stets in der gleichen Weise auslegen wie die Katholiken noch in den
sehr schwierigen Fragen der heutigen Gesellschaft zu denselben Lösungen wie sie
gelangen, so wollen sie doch ebenso wie wir an dem Worte Christi als der Quelle
christlicher Tugend festhalten und dem Gebot des Apostels folgen, der da sagt:
"Alles, was immer ihr tut in Wort oder Werk, tut alles im Namen unseres
Herrn Jesus Christus, und danket durch ihn Gott dem Vater" (Kol 3,17). Von
da her kann der ökumenische Dialog über die Anwendung des Evangeliums auf dem
Bereich der Sittlichkeit seinen Ausgang nehmen.
24. Nach dieser kurzen DarIegung der
Bedingungen für die praktische Durchführung der ökumenischen Arbeit und der
Prinzipien, nach denen sie auszurichten ist, richten wir unsern Blick
vertrauensvoll auf die Zukunft. Das Heilige Konzil mahnt die Gläubigen, jede
Leichtfertigkeit wie auch jeden unklugen Eifer zu meiden, die dem wahren
Fortschritt der Einheit nur schaden können, Ihre ökumenische Betätigung muß
ganz und echt katholisch sein, das heißt in Treue zur Wahrheit, die wir von den
Aposteln und den Vätern empfangen haben, und in Übereinstimmung mit dem
Glauben, den die katholische Kirche immer bekannt hat, zugleich aber auch im
Streben nach jener Fülle, die sein Leib nach dem Willen des Herrn im Ablauf der
Zeit gewinnen soll. Das Heilige Konzil wünscht dringend, daß alles, was die
Söhne der katholischen Kirche ins Werk setzen, in Verbindung mit den
Unternehmungen der getrennten Brüder fortschreitet, ohne den Wegen der
Vorsehung irgendein Hindernis in den Weg zu legen und ohne den künftigen
Anregungen des Heiligen Geistes vorzugreifen. Darüber hinaus erklärt es seine
Überzeugung, daß dieses heilige Anliegen der Wiederversöhnung aller Christen in
der Einheit der einen und einzigen Kirche Christi die menschlichen Kräfte und
Fähigkeiten übersteigt. Darum setzt es seine Hoffnung gänzlich auf das Gebet
Christi für die Kirche, auf die Liebe des Vaters zu uns und auf die Kraft des
Heiligen Geistes. "Die Hoffnung aber wird nicht zuschanden: Denn die Liebe
Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns
geschenkt ist" (Röm 5,5).
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