6. Kapitel: Die Ordensleute
43.
Die evangelischen Räte der Gott geweihten Keuschheit, der Armut und des
Gehorsams sind, in Wort und Beispiel des Herrn begründet und von den Aposteln
und den Vätern wie auch den Lehrern und Hirten der Kirche empfohlen, eine
göttliche Gabe, welche die Kirche von ihrem Herrn empfangen hat und in seiner
Gnade immer bewahrt. Die Autorität der Kirche selbst hat unter Leitung des
Heiligen Geistes für ihre Auslegung, die Regelung ihrer Übung und die
Festsetzung entsprechender dauerhafter Lebensformen gesorgt. So sind wie an
einem Baum, der aus einem von Gott gegebenen Keim wunderbar und vielfältig auf
dem Ackerfeld des Herrn Zweige treibt, verschiedene Formen des eremitischen und
gemeinschaftlichen Lebens und verschiedene Gemeinschaften gewachsen. Sie bieten
reichliche Hilfen zum Fortschritt ihrer Mitglieder wie zum Besten des ganzen
Leibes Christi137. Jene Gemeinschaften
verhelfen nämlich ihren Mitgliedern zu größerer Beständigkeit in der
Lebensweise, zu einer erprobten Lehre über das Streben nach Vollkommenheit, zu
einer brüderlichen Gemeinschaft im Kriegsdienst Christi und zu einer durch den
Gehorsam gefestigten Freiheit. Dadurch können sie ihr Ordensgelöbnis sicher
erfüllen und getreu bewahren und auf dem Weg der Liebe in geistlicher Freude
voranschreiten138. Ein derartiger Stand
ist, in bezug auf die göttliche, hierarchische Verfassung der Kirche, kein
Zwischenstand zwischen dem der Kleriker und dem der Laien. Vielmehr werden in
beiden Gruppen Christgläubige von Gott gerufen, im Leben der Kirche sich einer
besonderen Gabe zu erfreuen und, jeder in seiner Weise, ihrer Heilssendung zu
nützen139.
44.
Durch die Gelübde oder andere heilige Bindungen, die jeweils in ihrer Eigenart
den Gelübden ähnlich sind, verpflichtet sich der Christgläubige zu den drei
genannten evangelischen Räten und gibt sich dadurch dem über alles geliebten
Gott vollständig zu eigen, so daß er selbst durch einen neuen und besonderen
Titel auf Gottes Dienst und Ehre hingeordnet wird. Er ist zwar durch die Taufe
der Sünde gestorben und Gott geweiht. Um aber reichere Frucht aus der Taufgnade
empfangen zu können, will er durch die Verpflichtung auf die evangelischen Räte
in der Kirche von den Hindernissen, die ihn von der Glut der Liebe und der
Vollkommenheit der Gottesverehrung zurückhalten könnten, frei werden und wird
dem göttlichen Dienst inniger geweiht140. Die Weihe ist aber um
so vollkommener, je mehr sie durch die Festigkeit und Beständigkeit der Bande
die unlösliche Verbindung Christi mit seiner Braut, der Kirche, darstellt. Weil
aber die evangelischen Räte ihre Befolger durch die Liebe, zu der sie hinführen141, auch in besonderer Weise mit der Kirche und ihrem
Geheimnis verbinden, muß ihr geistliches Leben auch dem Wohl der ganzen Kirche
gewidmet sein. Daraus ergibt sich die Pflicht, nach Kräften und entsprechend
der Gestalt der eigenen Berufung, durch Gebet oder auch tätiges Wirken sich um
die Einwurzelung und Festigung des Reiches Christi in den Seelen und seine
weltweite Ausbreitung zu bemühen. Deshalb auch schützt und fördert die Kirche
den eigenen Charakter der verschiedenen Ordensinstitute. So erscheint das
Bekenntnis zu den evangelischen Räten als ein Zeichen, das alle Glieder der
Kirche wirksam zur eifrigen Erfüllung der Pflichten ihrer christlichen Berufung
hinziehen kann und soll. Das Volk Gottes hat ja hier keine bleibende Heimstatt,
sondern sucht die zukünftige. Deshalb macht der Ordensstand, der seine Glieder
von den irdischen Sorgen mehr befreit, mehr die himmlischen Güter, die schon in
dieser Zeit gegenwärtig sind, auch allen Gläubigen kund, bezeugt das neue und
ewige, in der Erlösung Christi erworbene Leben und kündigt die zukünftige
Auferstehung und die Herrlichkeit des Himmelreiches an. Auch die Lebensform,
die der Sohn Gottes annahm, als er in die Welt eintrat, um den Willen des
Vaters zu tun, und die er den Jüngern, die ihm nachfolgen, vorgelegt hat, ahmt
dieser Stand ausdrücklicher nach und bringt sie in der Kirche ständig zur
Darstellung. Schließlich macht er die Erhabenheit des Gottesreiches gegenüber
allem Irdischen und seine höchsten Ansprüche in besonderer Weise offenkundig.
Er zeigt auch allen Menschen die überragende Größe der Herrscherkraft Christi
und die wunderbare, unbegrenzte Macht des Heiligen Geistes in der Kirche auf.
Der Stand, der durch das Gelöbnis der evangelischen Räte begründet wird, ist
also zwar nicht Teil der hierarchischen Struktur der Kirche, gehört aber
unerschütterlich zu ihrem Leben und ihrer Heiligkeit.
45.
Da die kirchliche Hierarchie die Aufgabe hat, das Volk Gottes zu leiten und auf
reiche Weiden zu führen (vgl. Ez 34,14), ist sie dafür zuständig, die Übung der
evangelischen Räte, durch die die vollkommene Liebe zu Gott und dem Nächsten
einzigartig gefördert wird, durch ihre Gesetze weise zu lenken142. Sie nimmt auch in gelehriger Gefolgschaft gegenüber den
Antrieben des Heiligen Geistes die von vortrefflichen Männern und Frauen
vorgelegten Regeln entgegen, läßt sie weiter ordnen und erkennt sie authentisch
an. Außerdem wacht sie mit ihrer Autorität schützend über die zum Aufbau des
Leibes Christi allenthalben errichteten Institute, damit sie nach dem Geist
ihrer Stifter wachsen und gedeihen. Zur besseren Vorsorge gegenüber den
Erfordernissen der ganzen Herde des Herrn können alle Institute des Standes der
Vollkommenheit und ihre einzelnen Mitglieder vom Papst aufgrund seines Primats
über die ganze Kirche im Hinblick auf den allgemeinen Nutzen der Jurisdiktion
der Ortsordinarien entzogen und ihm allein unterstellt werden143. In ähnlicher Weise können sie bei den eigenen
patriarchalen Autoritäten belassen oder ihnen unterstellt werden. Die
Mitglieder selbst müssen die Pflicht gegenüber der Kirche nach ihrer besonderen
Lebensform erfüllen und dabei den Bischöfen gemäß den kanonischen Gesetzen
Ehrfurcht und Gehorsam leisten wegen ihrer Hirtenautorität in den Teilkirchen
und der notwendigen Einheit und Eintracht im apostolischen Wirken144. Die Kirche erhebt aber nicht nur den Ordensberuf durch
ihre Bestätigung zur Würde eines kanonischen Standes, sondern macht ihn auch
durch ihre liturgische Feier zu einem Gott geweihten Stand. Denn die Kirche
selbst nimmt kraft der ihr von Gott übertragenen Autorität die Gelübde der
Gelobenden entgegen, erbittet ihnen durch ihr öffentliches Gebet Hilfe und
Gnade von Gott, empfiehlt sie Gott, erteilt ihnen eine geistliche Segnung und
vereint ihre Hingabe mit dem eucharistischen Opfer.
46.
Die Ordensleute sollen sorgfältig darauf achten, daß durch sie die Kirche
wirklich von Tag zu Tag mehr den Gläubigen wie den Ungläubigen Christus
sichtbar mache, wie er auf dem Berg in der Beschauung weilt oder wie er den
Scharen das Reich Gottes verkündigt oder wie er die Kranken und Schwachen heilt
und die Sünder zum Guten bekehrt oder wie er die Kinder segnet und allen
Wohltaten erweist, immer aber dem Willen des Vaters gehorsam ist, der ihn
gesandt hat145. Alle sollen
schließlich einsehen, daß das Gelöbnis der evangelischen Räte, wenn es auch den
Verzicht auf hochzuschätzende Werte mit sich bringt, dennoch der wahren
Entfaltung der menschlichen Person nicht entgegensteht, sondern aus ihrem Wesen
heraus sie aufs höchste fördert. Die Räte nämlich tragen, wenn sie entsprechend
der persönlichen Berufung eines jeden in freiem Entschluß übernommen werden,
nicht wenig zur Reinigung des Herzens und zur geistlichen Freiheit bei, fachen
ständig die Glut der Liebe an und vermögen den Christen gleichförmiger zu
machen vor allem der jungfräulichen und armen Lebensweise, die Christus der
Herr gewählt und die seine jungfräuliche Mutter sich zu eigen gemacht hat. Das
beweist das Beispiel so vieler heiliger Ordensgründer. Und es darf keiner
meinen, die Ordensleute würden durch ihre Weihe den Menschen fremd oder für die
irdische Gesellschaft nutzlos. Denn, wenn sie auch zuweilen ihren Zeitgenossen
nicht in unmittelbarer Weise hilfreich sind, haben sie diese doch auf tiefere
Weise in der Liebe Christi gegenwärtig und wirken geistlich mit ihnen zusammen,
daß der Bau der irdischen Gesellschaft immer in Gott gründe und auf ihn
ausgerichtet sei und seine Erbauer nicht vergeblich arbeiten146. Gerade darum bestätigt und lobt die Heilige Synode die
Männer und Frauen, Brüder und Schwestern, die in den Klöstern oder in Schulen
und Krankenhäusern oder in den Missionen in standhafter und demütiger Treue zu
der genannten Weihe die Braut Christi zieren und allen Menschen die
verschiedensten großmütigen Dienste leisten.
47.
Jeder, der zum Lebensstand der Räte berufen ist, soll eifrig bemüht sein, in
der Berufung, zu der er von Gott gerufen wurde, zu bleiben und sich darin mehr
auszuzeichnen, zu vollerer Heiligkeit der Kirche, zur größeren Ehre der einen
und ungeteilten Dreifaltigkeit, die in Christus und durch Christus Quelle und
Ursprung jeder Heiligkeit ist.
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