II.
Die Aufgabe der seligen Jungfrau in der Heilsökonomie
55.
Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes und die verehrungswürdige
Überlieferung zeigen die Aufgabe der Mutter des Erlösers in der Heilsökonomie
immer klarer und legen sie anschaulich vor. Die Bücher des Alten Testamentes
beschreiben die Heilsgeschichte, durch die die Ankunft Christi in der Welt in
langsamem Voranschreiten vorbereitet wird. Diese ersten Dokumente, so wie sie
in der Kirche gelesen und im Licht der weiteren und vollen Offenbarung
verstanden werden, bieten Schritt für Schritt deutlicher die Gestalt der Frau
dar, der Mutter des Erlösers. Sie ist in diesem Licht schon prophetisch in der
Verheißung vom Sieg über die Schlange, die den in die Sünde gefallenen
Stammeltern gegeben wurde (vgl. Gen 3,15), schattenhaft angedeutet. Ähnlich
bedeutet sie die Jungfrau, die empfangen und einen Sohn gebären wird, dessen
Namen Emmanuel heißen wird (vgl. Jes 7,14; vgl. Mich 5,2-3; Mt 1,22-23). Sie
ragt unter den Demütigen und Armen des Herrn hervor, die das Heil mit Vertrauen
von ihm erhoffen und empfangen. Mit ihr als der erhabenen Tochter Sion ist
schließlich nach langer Erwartung der Verheißung die Zeit erfüllt und die neue
HeiIsökonomie begonnen, als der Sohn Gottes die Menschennatur aus ihr annahm,
um durch die Mysterien seines Fleisches den Menschen von der Sünde zu befreien.
56.
Der Vater der Erbarmungen wollte aber, daß vor der Menschwerdung die
vorherbestimmte Mutter ihr empfangendes Ja sagte, damit auf diese Weise so, wie
eine Frau zum Tode beigetragen hat, auch eine Frau zum Leben beitrüge. Das gilt
in erhabenster Weise von der Mutter Jesu, die das Leben selbst, das alles
erneuert, der Welt geboren hat und von Gott mit den einer solchen Aufgabe
entsprechenden Gaben beschenkt worden ist. Daher ist es nicht verwunderlich,
daß es bei den heiligen Vätern gebräuchlich wurde, die Gottesmutter ganz heilig
und von jeder Sündenmakel frei zu nennen, gewissermaßen vom Heiligen Geist
gebildet und zu einer neuen Kreatur gemacht176. Vom ersten Augenblick
ihrer Empfängnis an im Glanz einer einzigartigen Heiligkeit, wird die Jungfrau
von Nazareth vom Engel bei der Botschaft auf Gottes Geheiß als "voll der
Gnade" gegrüßt (vgl. Lk 1,28), und sie antwortet dem Boten des Himmels:
"Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort"
(Lk 1,38). So ist die Adamstochter Maria, dem Wort Gottes zustimmend, Mutter
Jesu geworden. Sie umfing den Heilswillen Gottes mit ganzem Herzen und von
Sünde unbehindert und gab sich als Magd des Herrn ganz der Person und dem Werk
ihres Sohnes hin und diente so unter ihm und mit ihm in der Gnade des
allmächtigen Gottes dem Geheimnis der Erlösung. Mit Recht also sind die
heiligen Väter der Überzeugung, daß Maria nicht bloß passiv von Gott benutzt
wurde, sondern in freiem Glauben und Gehorsam zum Heil der Menschen mitgewirkt
hat. So sagt der heilige Irenäus, daß sie "in ihrem Gehorsam für sich und
das ganze Menschengeschlecht Ursache des Heils geworden ist"177. Deshalb sagen
nicht wenige der alten Väter in ihrer Predigt gern, "daß der Knoten des
Ungehorsams der Eva gelöst worden sei durch den Gehorsam Marias; und was die
Jungfrau Eva durch den Unglauben gebunden hat, das habe die Jungfrau Maria
durch den Glauben gelöst"178; im Vergleich
mit Eva nennen sie Maria "die Mutter der Lebendigen"179 und öfters betonen sie: "Der Tod kam
durch Eva, das Leben durch Maria."180
57. Diese Verbindung der
Mutter mit dem Sohn im Heilswerk zeigt sich vom Augenblick der jungfräulichen
Empfängnis Christi bis zu seinem Tod; zunächst da Maria sich eilends aufmachte,
um Elisabeth zu besuchen, von dieser wegen ihres Glaubens an das verheißene
Heil seliggepriesen wird und der Vorläufer im Mutterschoß aufjubelte (vgl. Lk
1,41-45); dann als bei der Geburt die Gottesmutter ihren erstgeborenen Sohn,
der ihre jungfräuliche Unversehrtheit nicht minderte, sondern heiligte181, den Hirten und Magiern in Freuden zeigte.
Als sie ihn aber im Tempel unter. Darbringung der Gabe der Armen dem Herrn
darstellte, hörte sie, wie Simeon gleichzeitig vorherverkündigte, daß der Sohn
das Zeichen des Widerspruches sein und die Seele der Mutter das Schwert durchbohren
werde, damit die Gedanken aus vielen Herzen offenkundig würden (vgl. Lk
2,34-35). Als die Eltern den Knaben Jesus verloren und mit Schmerzen gesucht
hatten, fanden sie ihn im Tempel dem hingegeben, was seines Vaters war; sie
verstanden aber das Wort des Sohnes nicht. Und seine Mutter bewahrte all dies
betrachtend in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,41-51).
58. Im öffentlichen Leben
Jesu erscheint seine Mutter ausdrücklich am Anfang, da sie bei der Hochzeit zu
Kana in Galiläa durch ihr Mitgefühl den Anfang der Zeichen Jesu als des Messias
durch ihre Fürbitte veranlaßt hat (vgl. Joh 2,1-11). Im Verlauf seiner
Verkündigung nahm sie die Worte auf, in denen der Sohn das die Ansprüche und
Bande von Fleisch und Blut übersteigende Reich predigte und die seligpries, die
das Wort Gottes hören und bewahren (vgl. Mk 3,35 und Parall.; Lk 11,27-28), wie
sie selbst es getreulich tat (vgl. Lk 2,19.51). So ging auch die selige
Jungfrau den Pilgerweg des Glaubens. Ihre Vereinigung mit dem Sohn hielt sie in
Treue bis zum Kreuz, wo sie nicht ohne göttliche Absicht stand (vgl. Joh
19,25), heftig mit ihrem Eingeborenen litt und sich mit seinem Opfer in
mütterlichem Geist verband, indem sie der Darbringung des Schlachtopfers, das
sie geboren hatte, liebevoll zustimmte. Und schließlich wurde sie von Christus
Jesus selbst, als er am Kreuz starb, dem Jünger zur Mutter gegeben mit den
Worten: Frau, siehe da dein Sohn (vgl. Joh 19,26-27)182.
59. Da es aber Gott
gefiel, das Sakrament des menschlichen Heils nicht eher feierlich zu verkünden,
als bis er den verheißenen Heiligen Geist ausgegossen hatte, sehen wir die
Apostel vor dem Pfingsttag "einmütig in Gebet verharren mit den Frauen und
Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern" (Apg 1,14) und Maria mit ihren
Gebeten die Gabe des Geistes erflehen, der sie schon bei der Verkündigung
überschattet hatte. Schließlich wurde die unbefleckte Jungfrau, von jedem Makel
der Erbsünde unversehrt bewahrt183, nach
Vollendung des irdischen Lebenslaufs mit Leib und Seele in die himmlische
Herrlichkeit aufgenommen184 und als
Königin des Alls vom Herrn erhöht, um vollkommener ihrem Sohn gleichgestaltet
zu sein, dem Herrn der Herren (vgl. Offb 19,16) und dem Sieger über Sünde und
Tod185.
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