III. Die selige Jungfrau und
die Kirche
60. Ein einziger ist unser
Mittler nach dem Wort des Apostels: "Es gibt nämlich nur einen Gott und
nur einen Mittler Gottes und der Menschen, den Menschen Christus Jesus, der
sich selbst als Erlösung für alle gegeben hat" (1 Tim 2,5-6). Marias
mütterliche Aufgabe gegenüber den Menschen aber verdunkelt oder mindert diese
einzige Mittlerschaft Christi in keiner Weise, sondern zeigt ihre Wirkkraft.
Jeglicher heilsame Einfluß der seligen Jungfrau auf die Menschen kommt nämlich
nicht aus irgendeiner sachlichen Notwendigkeit, sondern aus dem Wohlgefallen
Gottes und fließt aus dem Überfluß der Verdienste Christi, stützt sich auf
seine Mittlerschaft, hängt von ihr vollständig ab und schöpft aus ihr seine
ganze Wirkkraft. Die unmittelbare Vereinigung der Glaubenden mit Christus wird
dadurch aber in keiner Weise gehindert, sondern vielmehr gefördert.
61. Die selige Jungfrau,
die von Ewigkeit her zusammen mit der Menschwerdung des göttlichen Wortes als
Mutter Gottes vorherbestimmt wurde, war nach dem Ratschluß der göttlichen Vorsehung
hier auf Erden die erhabene Mutter des göttlichen Erlösers, in einzigartiger
Weise vor anderen seine großmütige Gefährtin und die demütige Magd des Herrn.
Indem sie Christus empfing, gebar und nährte, im Tempel dem Vater darstellte
und mit ihrem am Kreuz sterbenden Sohn litt, hat sie beim Werk des Erlösers in
durchaus einzigartiger Weise in Gehorsam, Glaube, Hoffnung und brennender Liebe
mitgewirkt zur Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens der Seelen. Deshalb
ist sie uns in der Ordnung der Gnade Mutter.
62. Diese Mutterschaft
Marias in der Gnadenökonomie dauert unaufhörlich fort, von der Zustimmung an,
die sie bei der Verkündigung gläubig gab und unter dem Kreuz ohne Zögern
festhielt, bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten. In den Himmel
aufgenommen, hat sie diesen heilbringenden Auftrag nicht aufgegeben, sondern
fährt durch ihre vielfältige Fürbitte fort, uns die Gaben des ewigen Heils zu
erwirken186. In ihrer mütterlichen Liebe
trägt sie Sorge für die Brüder ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft sind
und in Gefahren und Bedrängnissen weilen, bis sie zur seligen Heimat gelangen.
Deshalb wird die selige Jungfrau in der Kirche unter dem Titel der
Fürsprecherin, der Helferin, des Beistandes und der Mittlerin angerufen187. Das aber ist so zu verstehen, daß es der
Würde und Wirksamkeit Christi, des einzigen Mittlers, nichts abträgt und nichts
hinzufügt188. Keine Kreatur nämlich kann
mit dem menschgewordenen Wort und Erlöser jemals in einer Reihe aufgezählt
werden. Wie vielmehr am Priestertum Christi in verschiedener Weise einerseits
die Amtspriester, andererseits das gläubige Volk teilnehmen und wie die eine
Gutheit Gottes auf die Geschöpfe in verschiedener Weise wirklich ausgegossen
wird, so schließt auch die Einzigkeit der Mittlerschaft des Erlösers im
geschöpflichen Bereich eine unterschiedliche Teilnahme an der einzigen Quelle
in der Mitwirkung nicht aus, sondern erweckt sie. Eine solche untergeordnete
Aufgabe Marias zu bekennen, zögert die Kirche nicht, sie erfährt sie auch
ständig und legt sie den Gläubigen ans Herz, damit sie unter diesem
mütterlichen Schutz dem Mittler und Erlöser inniger anhangen.
63. Die selige Jungfrau
ist aber durch das Geschenk und die Aufgabe der göttlichen Mutterschaft, durch
die sie mit ihrem Sohn und Erlöser vereint ist, und durch ihre einzigartigen
Gnaden und Gaben auch mit der Kirche auf das innigste verbunden. Die
Gottesmutter ist, wie schon der heilige Ambrosius lehrte, der Typus der Kirche
unter der Rücksicht des Glaubens, der Liebe und der vollkommenen Einheit mit
Christus189. Im Geheimnis der Kirche, die
ja auch selbst mit Recht Mutter und Jungfrau genannt wird, ist die selige
Jungfrau Maria vorangegangen, da sie in hervorragender und einzigartiger Weise
das Urbild sowohl der Jungfrau wie der Mutter darstellt190.
Im Glauben und Gehorsam gebar sie den Sohn des Vaters auf Erden, und zwar ohne
einen Mann zu erkennen, vom Heiligen Geist überschattet, als neue Eva, die
nicht der alten Schlange, sondern dem Boten Gottes einen von keinem Zweifel
verfälschten Glauben schenkte. Sie gebar aber einen Sohn, den Gott gesetzt hat
zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern (Röm 8,29), den Gläubigen nämlich, bei
deren Geburt und Erziehung sie in mütterlicher Liebe mitwirkt.
64. Nun aber wird die
Kirche, indem sie Marias geheimnisvolle Heiligkeit betrachtet, ihre Liebe
nachahmt und den Willen des Vaters getreu erfüllt, durch die gläubige Annahme
des Wortes Gottes auch selbst Mutter: Durch Predigt und Taufe nämlich gebiert
sie die vom Heiligen Geist empfangenen und aus Gott geborenen Kinder zum neuen
und unsterblichen Leben. Auch sie ist Jungfrau, da sie das Treuewort, das sie
dem Bräutigam gegeben hat, unversehrt und rein bewahrt und in Nachahmung der
Mutter ihres Herrn in der Kraft des Heiligen Geistes jungfräulich einen
unversehrten Glauben, eine feste Hoffnung und eine aufrichtige Liebe bewahrt191.
65. Während aber die
Kirche in der seligsten Jungfrau schon zur Vollkommenheit gelangt ist, in der
sie ohne Makel und Runzel ist (vgl. Eph 5,27), bemühen sich die Christgläubigen
noch, die Sünde zu besiegen und in der Heiligkeit zu wachsen. Daher richten sie
ihre Augen auf Maria, die der ganzen Gemeinschaft der Auserwählten als Urbild
der Tugenden voranleuchtet. Indem die Kirche über Maria in frommer Erwägung
nachdenkt und sie im Licht des menschgewordenen Wortes betrachtet, dringt sie
verehrend in das erhabene Geheimnis der Menschwerdung tiefer ein und wird ihrem
Bräutigam mehr und mehr gleichgestaltet. Denn Maria vereinigt, da sie zuinnerst
in die Heilsgeschichte eingegangen ist, gewissermaßen die größten
Glaubensgeheimnisse in sich und strahlt sie wider. Daher ruft ihre Verkündigung
und Verehrung die Gläubigen hin zu ihrem Sohn und seinem Opfer und zur Liebe
des Vaters. Die Kirche aber wird, um die Ehre Christi bemüht, ihrem erhabenen
Typus ähnlicher durch dauerndes Wachstum in Glaube, Hoffnung und Liebe und
durch das Suchen und Befolgen des Willens Gottes in allem. Daher blickt die
Kirche auch in ihrem apostolischen Wirken mit Recht zu ihr auf, die Christus
geboren hat, der dazu vom Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau geboren
wurde, daß er durch die Kirche auch in den Herzen der Gläubigen geboren werde
und wachse. Diese Jungfrau war in ihrem Leben das Beispiel jener mütterlichen
Liebe, von der alle beseelt sein müssen, die in der apostolischen Sendung der
Kirche zur Wiedergeburt der Menschen mitwirken.
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