1. Kapitel: Allgemeine Grundsätze zur Erhebung und
Förderung der Heiligen Liturgie
I. Das Wesen der heiligen Liturgie und ihre Bedeutung für das Leben der
Kirche
5.
Gott, der "will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der
Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4), "hat in früheren Zeiten vielfach und
auf vielerlei Weise durch die Propheten zu den Vätern gesprochen" (Hebr
1,1). Als aber die Fülle der Zeiten kam, sandte er seinen Sohn, das Wort, das
Fleisch angenommen hat und mit dem Heiligen Geist gesalbt worden ist, den Armen
das Evangelium zu predigen und zu heilen, die zerschlagenen Herzens sind8, "den Arzt für Leib und Seele"9, den Mittler zwischen Gott und den Menschen10. Denn seine Menschheit war in der Einheit mit der Person
des Wortes Werkzeug unseres Heils. So ist in Christus "hervorgetreten
unsere vollendete Versöhnung in Gnaden, und in ihm ist uns geschenkt die Fülle
des göttlichen Dienstes"11. Dieses Werk der
Erlösung der Menschen und der vollendeten Verherrlichung Gottes, dessen
Vorspiel die göttlichen Machterweise am Volk des Alten Bundes waren, hat
Christus, der Herr, erfüllt, besonders durch das Pascha-Mysterium: sein seliges
Leiden, seine Auferstehung von den Toten und seine glorreiche Himmelfahrt. In
diesem Mysterium "hat er durch sein Sterben unseren Tod vernichtet und
durch sein Auferstehen das Leben neugeschaffen"12. Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus
ist das wunderbare Geheimnis der ganzen Kirche hervorgegangen13.
6.
Wie daher Christus vom Vater gesandt ist, so hat er selbst die vom Heiligen
Geist erfüllten Apostel gesandt, nicht nur das Evangelium aller Kreatur zu
verkünden14, die Botschaft, daß der
Sohn Gottes uns durch seinen Tod und seine Auferstehung der Macht des Satans
entrissen15 und in das Reich des
Vaters versetzt hat, sondern auch das von ihnen verkündete Heilswerk zu
vollziehen durch Opfer und Sakrament, um die das ganze liturgische Leben
kreist. So werden die Menschen durch die Taufe in das Pascha-Mysterium Christi
eingefügt. Mit Christus gestorben, werden sie mit ihm begraben und mit ihm
auferweckt16. Sie empfangen den Geist
der Kindschaft, "in dem wir Abba, Vater, rufen" (Röm 8,15) und werden
so zu wahren Anbetern, wie der Vater sie sucht17. Ebenso verkünden sie, sooft sie das Herrenmahl
genießen, den Tod des Herrn, bis er wiederkommt18. Deswegen wurden am Pfingstfest, an dem die Kirche in
der Welt offenbar wurde, "diejenigen getauft, die das Wort" des
Petrus "annahmen". Und "sie verharrten in der Lehre der Apostel,
in der Gemeinschaft des Brotbrechens, im Gebet ... sie lobten Gott und fanden
Gnade bei allem Volk" (Apg 2,41-47). Seither hat die Kirche niemals
aufgehört, sich zur Feier des Pascha-Mysteriums zu versammeln, dabei zu lesen,
"was in allen Schriften von ihm geschrieben steht" (Lk 24,27), die
Eucharistie zu feiern, in der "Sieg und Triumph seines Todes dargestellt
werden"19, und zugleich
"Gott für die unsagbar große Gabe dankzusagen" (2 Kor 9,15), in
Christus Jesus "zum Lob seiner Herrlichkeit" (Eph 1,12). All das aber
geschieht in der Kraft des Heiligen Geistes.
7.
Um dieses große Werk voll zu verwirklichen, ist Christus seiner Kirche immerdar
gegenwärtig, besonders in den liturgischen Handlungen. Gegenwärtig ist er im
Opfer der Messe sowohl in der Person dessen, der den priesterlichen Dienst
vollzieht - denn "derselbe bringt das Opfer jetzt dar durch den Dienst der
Priester, der sich einst am Kreuz selbst dargebracht hat"20 -, wie vor allem unter den eucharistischen Gestalten.
Gegenwärtig ist er mit seiner Kraft in den Sakramenten, so daß, wenn immer
einer tauft, Christus selber tauft21. Gegenwärtig ist er in
seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche
gelesen werden. Gegenwärtig ist er schließlich, wenn die Kirche betet und
singt, er, der versprochen hat: "Wo zwei oder drei versammelt sind in
meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20). In der Tat
gesellt sich Christus in diesem großen Werk, in dem Gott vollkommen
verherrlicht und die Menschheit geheiligt werden, immer wieder die Kirche zu,
seine geliebte Braut. Sie ruft ihren Herrn an, und durch ihn huldigt sie dem
ewigen Vater. Mit Recht gilt also die Liturgie als Vollzug des Priesteramtes
Jesu Christi; durch sinnenfällige Zeichen wird in ihr die Heiligung des
Menschen bezeichnet und in je eigener Weise bewirkt und vom mystischen Leib
Jesu Christi, d. h. dem Haupt und den Gliedern, der gesamte öffentliche Kult
vollzogen. Infolgedessen ist jede liturgische Feier als Werk Christi, des
Priesters, und seines Leibes, der die Kirche ist, in vorzüglichem Sinn heilige
Handlung, deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche an Rang und Maß
erreicht.
8.
In der irdischen Liturgie nehmen wir vorauskostend an jener himmlischen
Liturgie teil, die in der heiligen Stadt Jerusalem gefeiert wird, zu der wir
pilgernd unterwegs sind, wo Christus sitzt zur Rechten Gottes, der Diener des
Heiligtums und des wahren Zeltes22. In der irdischen
Liturgie singen wir dem Herrn mit der ganzen Schar des himmlischen Heeres den
Lobgesang der Herrlichkeit. In ihr verehren wir das Gedächtnis der Heiligen und
erhoffen Anteil und Gemeinschaft mit ihnen. In ihr erwarten wir den Erlöser,
unseren Herrn Jesus Christus, bis er erscheint als unser Leben und wir mit ihm
erscheinen in Herrlichkeit23.
9.
In der heiligen Liturgie erschöpft sich nicht das ganze Tun der Kirche; denn
ehe die Menschen zur Liturgie hintreten können, müssen sie zu Glauben und
Bekehrung gerufen werden: "Wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht
glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie
sollen sie aber hören ohne Prediger? Doch wie sollen sie predigen, wenn sie
nicht gesandt sind?" (Röm 10,14-15). Darum verkündet die Kirche denen, die
nicht glauben, die Botschaft des Heils, damit alle Menschen den allein wahren
Gott erkennen und den, den er gesandt hat, Jesus Christus, und daß sie sich
bekehren von ihren Wegen und Buße tun24. Denen aber, die schon
glauben, muß sie immer wieder Glauben und Buße verkünden und sie überdies für
die Sakramente bereiten. Sie muß sie lehren, alles zu halten, was immer Christus
gelehrt hat25, und sie ermuntern zu
allen Werken der Liebe, der Frömmigkeit und des Apostolates. Durch solche Werke
soll offenbar werden, daß die Christgläubigen zwar nicht von dieser Welt sind,
daß sie aber Licht der Welt sind und den Vater vor den Menschen verherrlichen.
10.
Dennoch ist die Liturgie der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und
zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt. Denn die apostolische
Arbeit ist darauf hingeordnet, daß alle, durch Glauben und Taufe Kinder Gottes
geworden, sich versammeln, inmitten der Kirche Gott loben, am Opfer teilnehmen
und das Herrenmahl genießen. Andererseits treibt die Liturgie die Gläubigen an,
daß sie, mit den "österlichen Geheimnissen" gesättigt, "in Liebe
eines Herzens sind"26; sie betet, daß sie
"im Leben festhalten, was sie im Glauben empfangen haben"27; wenn der Bund Gottes mit den Menschen in der Feier der
Eucharistie neu bekräftigt wird, werden die Gläubigen von der drängenden Liebe
Christi angezogen und entzündet. Aus der Liturgie, besonders aus der
Eucharistie, fließt uns wie aus einer Quelle die Gnade zu; in höchstem Maß
werden in Christus die Heiligung der Menschen und die Verherrlichung Gottes
verwirklicht, auf die alles Tun der Kirche als auf sein Ziel hinstrebt.
11.
Damit aber dieses Vollmaß der Verwirklichung erreicht wird, ist es notwendig, daß
die Gläubigen mit recht bereiteter Seele zur heiligen Liturgie hinzutreten, daß
ihr Herz mit der Stimme zusammenklinge und daß sie mit der himmlischen Gnade
zusammenwirken, um sie nicht vergeblich zu empfangen28. Darum sollen die Seelsorger bei liturgischen Handlungen
darüber wachen, daß nicht bloß die Gesetze des gültigen und erlaubten Vollzugs
beachtet werden, sondern auch daß die Gläubigen bewußt, tätig und mit
geistlichem Gewinn daran teilnehmen.
12.
Das geistliche Leben deckt sich aber nicht schlechthin mit der Teilnahme an der
heiligen Liturgie. Der Christ ist zwar berufen, in Gemeinschaft zu beten, doch
muß er auch in sein Kämmerlein gehen und den Vater im Verborgenen anbeten29, ja ohne Unterlaß beten, wie der Apostel mahnt30. Der gleiche Apostel lehrt uns, daß wir allezeit das
Sterben Jesu an unserem Leibe tragen, auf daß auch das Leben Jesu offenbar
werde an unserem sterblichen Fleische31. Deshalb flehen wir
beim Opfer der Messe zum Herrn, daß er "die geistliche Gabe annehme und
sich uns selbst zu einem ewigen Opfer" vollende32.
13.
Die Andachtsübungen des christlichen Volkes werden sehr empfohlen, sofern sie
den Vorschriften und Regeln der Kirche entsprechen. Das gilt besonders, wenn
sie vom Apostolischen Stuhl angeordnet sind. Besonderer Würde erfreuen sich
auch die gottesdienstlichen Feiern der Teilkirchen, die gemäß Gewohnheit oder
nach rechtlich anerkannten Büchern in bischöflichem Auftrag gehalten werden.
Diese Übungen und Feiern sollen indes die liturgische Zeit gebührend
berücksichtigen und so geordnet sein, daß sie mit der heiligen Liturgie zusammenstimmen,
gewissermaßen aus ihr herausfließen und das Volk zu ihr hinführen; denn sie
steht von Natur aus weit über ihnen.
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