ARTIKEL 9
PERSON UND GESELLSCHAFT
I Der Gemeinschaftscharakter der Berufung des Menschen
1878 Alle Menschen
sind zum gleichen Ziel berufen: zu Gott. Zwischen der Einheit der göttlichen
Personen und der brüderlichen Gesinnung, in der die Menschen in Wahrheit und
Liebe untereinander leben sollen [Vgl. GS 24,3], besteht eine gewisse
Ähnlichkeit. Die Liebe zum Nächsten läßt sich von der Liebe zu Gott nicht
trennen.
1879 Die
menschliche Person bedarf des gesellschaftlichen Lebens. Dieses stellt für sie
nicht etwas Zusätzliches dar, sondern ist ein Anspruch ihrer Natur. Durch
Begegnung mit anderen, durch wechselseitige Dienste und durch Zwiesprache mit
seinen Brüdern und Schwestern entwickelt der Mensch seine Anlagen und kann
seiner Berufung entsprechen [Vgl. OS 25,1].
1880 Eine
Gesellschaft ist eine Gruppe von Personen, die organisch durch ein
Einheitsprinzip verbunden sind, das über den Einzelnen hinausgeht. Als zugleich
sichtbare und geistige Vereinigung dauert eine Gesellschaft in der Zeit fort:
sie empfängt das Vergangene und bereitet die Zukunft vor. Durch sie wird jeder
Mensch zum „Erben" und empfängt „Talente", die ihn bereichern und die
er fruchtbringend einsetzen soll [Vgl. Lk 19, 13.15]. Darum schuldet jeder
Mensch den Gemeinschaften, denen er angehört, seinen Beitrag, und den
Autoritäten, die mit der Sorge für das Gemeinwohl betraut sind, Achtung.
1881 Jede
Gemeinschaft ist durch ihr Ziel bestimmt und gehorcht infolgedessen eigenen
Regeln, aber „Grund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist
die menschliche Person und muß es sein" (GS 25, 1).
1882 Manche
Gesellschaften, so die Familie und der Staat, entsprechen unmittelbar der Natur
des Menschen; sie sind für ihn notwendig. Um die Beteiligung möglichst vieler
am gesellschaftlichen Leben zu fördern, ist die Schaffung von „Verbänden,
Vereinigungen, Einrichtungen mit wirtschaftlicher, kultureller, unterhaltender,
sportlicher, beruflicher und politischer Zielsetzung sowohl im nationalen Raum
wie auf Weltebene" (MM 60) zu fördern. Diese Sozialisation gründet auch
auf der natürlichen Neigung der Menschen, sich zusammenzuschließen, um Ziele zu
erreichen, welche die Kräfte der Einzelnen übersteigen. Sie bringt die Anlagen
der Person, insbesondere ihren Unternehmungsgeist und ihren Sinn für
Verantwortung zur Entfaltung und hilft, ihre Rechte zu gewährleisten [Vgl. GS
25,2; CA 12].
1883 Die
Sozialisation ist auch mit Gefahren verbunden. Ein allzu weitgehendes
Eingreifen des Staates kann die persönliche Freiheit und Initiative bedrohen.
Die Kirche vertritt das sogenannte Subsidiaritätsprinzip: „Eine übergeordnete
Gesellschaft darf nicht so in das innere Leben einer untergeordneten
Gesellschaft dadurch eingreifen, daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt. Sie
soll sie im Notfall unterstützen und ihr dazu helfen, ihr eigenes Handeln mit
dem der anderen gesellschaftlichen Kräfte im Hinblick auf das Gemeinwohl
abzustimmen" (CA 48) [Vgl. Pius Xl.. Enz. „Quadragesimo anno"].
1884 Gott
wollte sich nicht die Ausübung aller Gewalten allein vorbehalten. Er überläßt
jedem Geschöpf jene Aufgaben, die es den Fähigkeiten seiner Natur gemäß
auszuüben vermag. Diese Führungsweise soll im gesellschaftlichen Leben
nachgeahmt werden. Das Verhalten Gottes bei der Weltregierung, das von so
großer Rücksichtnahme auf die menschliche Freiheit zeugt, sollte die Weisheit
derer inspirieren, welche die menschlichen Gesellschaften regieren. Sie haben
sich als Diener der göttlichen Vorsehung zu verhalten.
1885 Das
Subsidiaritätsprinzip widersetzt sich allen Formen des Kollektivismus. Es zieht
die Grenzen für das Eingreifen des Staates. Es zielt darauf ab, die Beziehungen
zwischen den Einzelpersonen und den Gesellschaften in ein harmonisches
Verhältnis zu bringen. Es sucht auf internationaler Ebene eine wahre Ordnung zu
schaffen.
DAS LEBEN IN CHRISTUS
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