II
Nun steht es fest, daß an dem Klopfer der Haustür
ganz und gar nichts Besonderes war als seine Größe. Auch steht es fest, daß ihn
Scrooge jeden Abend und jeden Morgen, seitdem er das Haus bewohnte, gesehen
hatte und daß Scrooge so wenig Phantasie besaß, als irgend jemand in der City
von London, mit Einschluß des Stadtrats - wenn das zu sagen erlaubt ist -, der
Aldermen und der Zünfte. Man vergesse auch nicht, daß Scrooge, außer heute
nachmittag, keine Sekunde an seinen vor sieben Jahren verstorbenen Kompagnon
gedacht hatte. Und dann erkläre mir jemand, warum Scrooge, als er seinen
Schlüssel in das Türschloß steckte, in dem Klopfer, ohne daß dieser sich vor
seinen Augen verändert hätte, keinen Türklopfer, sondern Marleys Gesicht sah?
Ja, Marleys Gesicht. Es war nicht von so
undurchdringlichem Dunkel umgeben, wie die andern Gegenstände im Hof, sondern
von einem unheimlichen Licht, wie ein verdorbener Hummer in einem dunklen
Keller. Es blickte ihm nicht wild entgegen, oder zürnend, sondern sah Scrooge
an, wie ihn Marley gewöhnlich angesehen hatte, die gespenstige Brille auf die
gespenstige Stirn hinaufgeschoben. Das Haar stand ihm seltsam zu Berg, wie von
Atem oder heißer Luft gesträubt, und obgleich die Augen weit offen standen,
waren sie doch ohne jede Bewegung. Dies und die leichenhafte Farbe machten das
Gesicht schrecklich: aber diese Schrecklichkeit schien eher etwas dem Gesicht
Aufgezwungenes zu sein, als ein Teil seines Ausdruckes.
Als Scrooge fest auf die Erscheinung blickte, da sah
er wieder einen Türklopfer!
Es wäre eine Unwahrheit, zu sagen, er sei nicht
erschrocken oder sein Blut habe nicht ein grausendes Gefühl durchzuckt, das ihm
seit seiner Kindheit unbekannt geblieben war. Aber gewaltsam faßte er sich,
faßte mit der Hand abermals nach dem Schlüssel, drehte ihn um, trat in das Haus
und zündete sein Licht an.
Und doch zögerte er einen Augenblick, bevor er die
Tür schloß, und spähte erst vorsichtig dahinter, als fürchte er wirklich, mit
dem Anblick von Marleys Zopf erschreckt zu werden. Aber hinter der Tür war
nichts, als die Schrauben, die den Klopfer festhielten, und so sagte er: »Bah,
bah«, und warf sie hinter sich ins Schloß.
Der Schall klang wie ein Donner durch das Haus. jedes
Zimmer oben und jedes Faß in des Weinhändlers Keller unten schien mit seinem
besonderen Echo zu antworten. Scrooge war nicht der Mann, der sich durch Echos
erschrecken ließ. Er schloß die Tür, ging über den Hausflur und die Treppe
hinauf, und zwar langsam, langsam und beim Hinaufgehen das Licht heller
machend.
Man mag behaupten, daß sich's mit einem Sechsspänner
eine stattliche alte Treppenflucht hinauf - oder mitten durch ein neues
Parlamentsdekret hindurchsausen lasse; ich sage aber, daß man mit einem
Leichenwagen, und zwar der Quere nach, mit der Deichsel nach der Wand und mit
der Tür nach dem Geländer zu, diese Treppe hinaufgekommen wäre, und zwar ganz
bequem. Und das ist vielleicht die Ursache, warum Scrooge glaubte, er sähe
einen Leichenwagen vor sich hinaufdampfen. Ein halbes Dutzend Gaslampen von der
Straße aus hätten den Eingang nicht hell genug gemacht, und so kann man sich
denken, daß es bei Scrooges kleinem Talglicht ziemlich dunkel blieb.
Scrooge aber ging hinauf und kümmerte sich keinen
Pfifferling um all das. Dunkelheit ist billig, und das Billige liebte Scrooge.
Aber ehe er seine schwere Tür zumachte, ging er durch die Zimmer, um zu sehen,
ob alles in Ordnung sei. Er erinnerte sich des Gesichts noch gerade genug, um
das zu wünschen.
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Rumpelkammer, alles war,
wie es sein sollte. Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa; ein
kleines Feuer auf dein Rost, Löffel und Teller bereit und das kleine Töpfchen Haferschleim
(Scrooge hatte den Schnupfen) auf dem Feuer. Niemand unter dem Bett, niemand im
Alkoven, niemand in seinem Schlafrock, der auf eine ganz verdächtige Weise an
der Wand hing. Die Rumpelkammer wie gewöhnlich. Ein alter Kaminschirm, alte
Schuhe, zwei Fischkörbe, ein dreibeiniger Waschtisch und ein Schüreisen.
Vollkommen zufriedengestellt, machte er die Tür zu,
schloß sich ein und schob noch den Riegel vor, was sonst seine Gewohnheit nicht
war, So gegen Überraschung sichergestellt, legte er seine Halsbinde ab, zog
seinen Schlafrock an und die Pantoffeln, setzte die Nachtmütze auf und nahm
dann vor dem Feuer Platz, um seinen Haferschleim zu essen.
Es war wirklich ein sehr kleines Feuer, in einer so
kalten Nacht so gut wie gar keins. Er mußte sich dicht daran setzen und sich
darüber hinbeugen, um das geringste Wärmegefühl von dieser Handvoll Kohlen zu
erhaschen. Der Kamin war vor langen Jahren von einem holländischen Kaufmann
gebaut worden und ringsum mit seltsamen holländischen Fliesen mit Bildern aus
der biblischen Geschichte belegt. Da sah man Kain und Abel, Pharaos Töchter,
die Königin von Saba, Engel durch die Luft auf Wolken gleich Federbetten
herabschwebend, Abraham, Belsazar, Apostel in See gehend auf Butterschiffen,
Hunderte von Figuren, seine Gedanken zu beschäftigen, und doch kam das Gesicht
Marleys wie der Stab des alten Propheten und verschlang alles andere. Wenn jede
glänzende Fliese weiß gewesen wäre und die Macht gehabt hätte, aus den
vereinzelten Fragmenten seiner Gedanken ein Bild auf ihre Fläche zu zaubern,
auf jeder wäre ein Abbild von des alten Marley Gesicht erschienen.
»Dummes Zeug!« brummte Scrooge und schritt durch das
Zimmer.
Nachdem er einige Male auf und ab gegangen war,
setzte er sich wieder. Als er den Kopf in den Stuhl zurücklegte, fiel sein Auge
wie durch Zufall auf eine Klingel, eine alte, nicht mehr gebrauchte Klingel,
die zu einem jetzt vergessenen Zwecke mit einem Zimmer im obersten Stockwerk
des Hauses in Verbindung stand. Zu seinem großen Erstaunen und mit einem seltsamen,
unerklärlichen Schauer sah er, wie die Klingel sich zu bewegen begann: erst
bewegte sie sich so wenig, daß sie kaum einen Ton von sich gab, aber bald
schellte sie laut und mit ihr jede andre Klingel des Hauses.
Das mochte eine halbe Minute gedauert haben, oder
eine ganze, aber es kam ihm vor wie eine Stunde. Die Klingeln hörten
gleichzeitig auf, wie sie gleichzeitig angefangen hatten. Dann vernahm man ein
Rasseln tief unten, als ob jemand über die Fässer in des Weinhändlers Keller
eine schwere Kette schleppe. jetzt erinnerte sich Scrooge gehört zu haben, daß
Gespenster Ketten schleppen.
Die Kellertür flog mit einem dumpfdröhnenden Knall
auf, und dann hörte er das Klirren viel lauter auf dem Hausflur unten, dann wie
es die Treppe herauf und dann wie es gerade auf seine Tür zukam.
»Es ist ja dummes Zeug«, sagte Scrooge. »Ich glaube
nicht dran.«
Aber er wechselte doch die Farbe, als es nun ohne zu
verweilen, durch die schwere Tür und in das Zimmer kam. Als es hereintrat,
flammte das sterbende Feuer auf, als riefe es: »Ich kenne ihn, Marleys Geist!«,
und die Glut sank wieder zusammen.
Dasselbe Gesicht, ganz dasselbe. Marley mit seinem
Zopf, seiner gewöhnlichen Weste, den engen Hosen und hohen Stiefeln, deren
Troddeln in die Höhe standen, wie sein Zopf, und ebenso seine Rockschöße und
das Haar auf seinem Kopf. Die Kette, die er hinter sich herschleppte, war um
seinen Leib geschlungen. Sie war lang, ringelte sich wie ein Schwanz und war
(Scrooge betrachtete sie sehr genau) aus Geldkassen, Schlüsseln, Schlössern,
Hauptbüchern, Kontrakten und schweren Börsen aus Stahl zusammengesetzt. Sein
Leib war so durchsichtig, daß Scrooge durch die Weste hindurch die zwei Knöpfe
hinten an seinem Rock sehen konnte.
Scrooge hatte oft sagen gehört, Marley habe kein
Herz, aber erst jetzt glaubte er es.
Nein, er glaubte es selbst jetzt noch nicht. Obgleich
er das Gespenst durch und durch und vor sich stehen sah, obgleich er den
erkältenden Schauer seiner totenstarren Augen fühlte und selbst den Stoff des
Tuches erkannte, das ihm um Kopf und Kinn gebunden war und das er früher nicht
bemerkt hatte, war er dennoch ungläubig und sträubte sich gegen das Zeugnis
seiner Sinne.
»Nun«, sagte Scrooge, scharf und kalt wie gewöhnlich,
»was wollt Ihr?«
»Viel!« Das war Marleys Stimme.
»Wer seid Ihr?«
»Fragt mich, wer ich war.«
»Nun, wer wart Ihr?« fragte Scrooge lauter. »Für
einen Schatten seid Ihr ja sonderbar.«
»Als ich lebte, war ich Euer Kompagnon, Jacob
Marley.«
»Könnt Ihr Euch setzen?« fragte Scrooge und sah ihn
zweifelnd an.
»Ich kann es.«
»So tut's.«
Scrooge fragte nur, weil er nicht wußte, ob sich ein
so durchsichtiger Geist setzen könne, und er fühlte die Notwendigkeit einer
unangenehmen Erklärung, wenn es ihm nicht möglich wäre. Aber der Geist setzte
sich auf der anderen Seite des Kamins nieder, als sei er so gewohnt.
»Ihr glaubt nicht an mich?« fragte der Geist.
»Nein«, sagte Scrooge.
»Welches Zeugnis, außer dem Eurer Sinne, wollt Ihr
von meiner Wirklichkeit haben?«
»Ich weiß nicht«, sprach Scrooge.
»Warum glaubt Ihr Euren Sinnen nicht?«
»Weil sie die geringste Kleinigkeit stört«,
entgegnete Scrooge. »Eine kleine Unpäßlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern.
Ihr könnt ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen, ein Stückchen
schlechter Kartoffeln sein. Wer Ihr auch sein möget, Ihr habt mehr vom
Unterleib, als von der Unterwelt an Euch.«
Es war nicht eben Scrooges Gewohnheit, Witze zu
machen, auch fühlte er eben jetzt keine besondere Lust dazu. Die Wahrheit ist, daß
er sich bestrebte lustig zu sein, um sich zu erleichtern und sein Entsetzen
niederzuhalten; denn die Stimme des Geistes ließ ihn bis ins Mark erzittern.
Diesen starren, toten Augen nur einen Augenblick
schweigend gegenüberzusitzen, wäre teuflisch gewesen, das fühlte Scrooge wohl.
Auch daß das Gespenst seine eigene höllische Atmosphäre hatte, war so
grauenerregend. Scrooge fühlte sie nicht selbst, aber doch mußte es so sein;
denn obgleich das Gespenst ganz regungslos dasaß, bewegten sich sein Haar, seine
Rockschöße und seine Stiefeltroddeln wie von dem heißen Dunst eines Ofens.
»Ihr seht diesen Zahnstocher«, sprach Scrooge, seinen
Angriff aus dem eben angeführten Grunde sogleich aufs neue beginnend und von
dem Wunsch beseelt, den starren, eisigen Blick des Gespenstes, wenn auch nur
für einen Augenblick, von sich abzulenken.
»Ja«, antwortete der Geist.
»Ihr schaut ihn ja nicht an«, sagte Scrooge.
»Aber ich sehe ihn trotzdem«, sprach das Gespenst.
»Gut denn«, antwortete Scrooge. »Ich brauche ihn nur
hinunterzuschlucken und mein ganzes übriges Leben hindurch verfolgen mich eine
Legion Kobolde, die ich selbst erschaffen habe. Dummes Zeug, sag ich, dummes
Zeug!«
Bei diesen Worten stieß das Gespenst einen
markerschütternden Schrei aus und ließ seine Kette so grauenerregend und
fürchterlich klirren, daß sich Scrooge fest an seinen Stuhl halten mußte, um
nicht ohnmächtig herunterzufallen. Aber wie wuchs sein Entsetzen, als das
Gespenst das Tuch von dem Kopfe nahm, als wär es ihm zu warm im Zimmer, so daß
der Unterkiefer auf die Brust herunterklappte.
Scrooge fiel auf die Knie nieder und schlug die Hände
vors Gesicht.
»Gnade!« rief er. »Schreckliche Erscheinung, warum
verfolgst du mich?«
»Mensch mit dem irdisch gesinnten Verstand«,
entgegnete der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
»Ich glaube«, sagte Scrooge, »ich muß glauben. Aber
warum wandeln Geister auf Erden, und warum kommen sie zu mir?«
»Von jedem Menschen wird verlangt, daß seine Seele
unter seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe«, antwortete der
Geist; »und wenn die Seele dies während des Lebens nicht tut, so ist sie
verdammt, es nach dem Tode zu tun. Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern
- ach, wehe mir! - und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf
Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sollen.«
Und wieder stieß das Gespenst einen Schrei aus und
schüttelte seine Ketten und rang die schattenhaften Hände.
»Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd. »Sage
mir, warum?«
»Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens
geschmiedet habe«, sprach der Geist. »Ich schmiedete sie Glied für Glied und
Elle für Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir auf, und mit
meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen dir seltsam
vor?«
Scrooge zitterte mehr und mehr.
»Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie
schwer und wie lang die Kette ist, die du selber trägst? Sie war gerade so lang
und so schwer wie diese hier, vor sieben Weihnachten. Seitdem hast du daran
gearbeitet! Es ist eine schwere Kette.«
Scrooge sah auf den Boden hinab, in der Erwartung,
sich von fünfzig oder sechzig Ellen Eisenkette umschlungen zu sehen; aber er
sah nichts.
»Jacob«, sagte er flehend. »Jacob Marley, sage mir
mehr. Sprich mir Trost zu, Jacob.«
»Ich habe keinen Trost zu geben«, antwortete der
Geist. »Er kommt von andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von andern
Boten zu andern Menschen gebracht. Auch kann ich dir nicht sagen, was ich dir
sagen möchte. Ein klein wenig mehr ist alles, was mir erlaubt ist. Nirgends
kann ich rasten oder ruhen. Mein Geist ging nie über unser Kontor hinaus -
merke wohl auf - im Leben blieb mein Geist immer in den engen Grenzen unsrer
schachernden Höhle; und weite Reisen liegen noch vor mir.«
Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich
wurde, die Hand in die Hosentasche zu stecken.
Über das nachsinnend, was der Geist sagte, tat er es
auch jetzt, aber ohne die Augen zu erheben oder vom Stuhl aufzustehen.
»Du mußt dir aber viel Zeit gelassen haben, Jacob«,
bemerkte er im Ton eines Geschäftsmannes, obgleich mit viel Demut und
Ehrerbietung.
»Viel Zeit!« wiederholte der Geist.
»Sieben Jahre tot«, sagte sinnend Scrooge. »Und die
ganze Zeit über gereist.«
»Die ganze Zeit«, sagte der Geist. »Ohne Frieden,
ohne Ruhe und mit den Qualen ewiger Reue.«
»Du reisest schnell«, sagte Scrooge.
»Auf den Schwingen des Windes«, sagte der Geist.
»Du hättest eine große Strecke in sieben Jahren
bereisen können«, sagte Scrooge.
Als der Geist dies hörte, stieß er wieder einen
Schrei aus und klirrte so gräßlich mit seiner Kette durch das Grabesschweigen
der Nacht, daß ihn die Polizei mit vollem Recht wegen Ruhestörung hätte
bestrafen können.
»Oh, gefangen und gefesselt«, rief das Gespenst,
»nicht zu wissen, daß Zeitalter von unaufhörlicher Arbeit unsterblicher
Geschöpfe vergehen, ehe sich das Gute, dessen die Erde fähig ist, entwickeln
kann. Nicht zu wissen, daß jeder christliche Geist dieses Erdenleben zu kurz
finden wird, um alles Nützliche zu tun, und wenn er auch in einem noch so
kleinen Kreise wirkt. Aber ich wußte es nicht, ach, ich wußte es nicht!«
»Aber du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«,
stotterte Scrooge zitternd, der jetzt anfing, das Schicksal des Geistes auf
sich selbst zu beziehen.
»Geschäft!« rief das Gespenst, seine Hände abermals
ringend. »Der Mensch wäre mein Geschäft gewesen! Das allgemeine Wohl wäre mein
Geschäft gewesen! Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles das wäre
mein Geschäft gewesen! Alles, was ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein
kleiner Tropfen Wasser im weiten Ozean meines Geschäfts!«
Er hielt seine Kette vor sich hin, als ob sie die
Ursache seines nutzlosen Schmerzes gewesen wäre, und warf sie abermals
dumpfdröhnend nieder.
»Zu dieser Zeit des schwindenden Jahres«, sagte das
Gespenst, »leide ich am meisten. Warum ging ich mit zur Erde gehefteten Augen
durch die Schar meiner Mitmenschen und wendete meinen Blick nie zu dem
gesegneten Stern empor, der die Weisen zur Wohnung der Armut führte? Gab es
keine arme Hütte, wohin mich sein Licht hätte leiten können?«
Scrooge hörte mit Entsetzen das Gespenst so reden und
fing an gewaltig zu zittern.
»Höre mich«, mahnte der Geist. »Meine Zeit ist halb
vorbei.«
»Ich höre«, hauchte Scrooge. »Aber mach es gnädig mit
mir! Werde nicht hitzig, Jacob, ich bitte dich.«
»Wie es kommt, daß ich in einer dir sichtbaren
Gestalt vor dich treten kann, das weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich
unsichtbar neben dir gesessen.«
Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte
und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Es ist kein leichter Teil meiner Sühne«, fuhr der
Geist fort. »Heute nacht komme ich zu dir, um dich zu warnen, da du noch die
Möglichkeit hast, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit und eine
Hoffnung, die du mir zu verdanken hast.«
»Du bist immer mein guter Freund gewesen«, murmelte
Scrooge. »Ich danke dir.«
»Drei Geister«, fuhr das Gespenst fort, »werden zu
dir kommen.« Bei diesen Worten wurde Scrooges Angesicht fast so unglücklich wie
das des Gespenstes.
»Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die du
genannt hast, Jacob?« fragte er mit bebender Stimme.
»Ja.«
»Ich - ich möchte lieber nicht«, sagte Scrooge.
»Ohne ihr Kommen«, sagte der Geist, »kannst du nicht
hoffen, den Pfad zu vermeiden, dem ich nun folgen muß. Erwarte den ersten
morgen früh, wenn die Glocke eins schlägt.«
»Könnte ich sie nicht alle miteinander hinter mich
bringen?« meinte Scrooge.
»Erwarte den zweiten in der nächsten Nacht um
dieselbe Stunde. Den dritten in der darauffolgenden Nacht, wenn der letzte
Schlag der zwölften Stunde verklungen ist. Schau mich an, denn du siehst mich
nicht wieder; und schau mich an, damit du dich um deinetwillen an das
erinnerst, was zwischen uns vorgefallen ist.«
Als es diese Worte gesprochen hatte, nahm das
Gespenst das Tuch vom Tisch und band es sich wieder um den Kopf. Scrooge merkte
es am Geräusch der Zähne, als die Kinnladen zusammenklappten. Er wagte, die
Augen zu erheben, und sah seinen übernatürlichen Besuch vor sich stehen, die
Augen noch starr auf ihn geheftet und die Kette um Leib und Arme gewunden.
Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend, und
bei jedem Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, so daß es weit offen
stand, als das Gespenst es erreicht hatte. Es winkte Scrooge, näher zu kommen,
und er tat es. Als sie noch zwei Schritte voneinander entfernt waren, hob
Marleys Geist die Hand und gebot ihm, nicht näher zu kommen. Scrooge stand
still. Mehr aus Überraschung und Furcht, als aus Gehorsam, denn wie sich die
gespenstige Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die Luft schwirren und
unzusammenhängende Töne der Klage und des Leides, unsäglich schmerzlich und
reuevoll. Das Gespenst hörte eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied
ein; dann schwebte es in die dunkle, kalte Nacht hinaus.
Scrooge trat an das Fenster, von Neugier fast zur
Verzweiflung getrieben. Er sah hinaus.
Die Luft war mit Schatten angefüllt, die in ruheloser
Hast klagend hin und her schwebten. jeder trug eine Kette wie Marleys Geist;
einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich schlechte Minister),
keiner war ganz fessellos. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt
gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen Weste gekannt,
der einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter sich herschleppte und
jämmerlich schrie, einer armen, alten Frau mit einem Kind nicht beistehen zu
können, die unten auf einer Türschwelle saß. Man sah es deutlich, ihre Pein
war, sich umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun und die Macht
dazu auf immer verloren zu haben.
Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen oder ob sie der
Nebel einhüllte, wußte er nicht zu sagen. Aber sie und ihre Gespensterstimmen
vergingen gleichzeitig, und die Nacht wurde wieder so, wie sie auf seinem
Nachhauseweg gewesen war.
Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Tür,
durch die das Gespenst eingetreten war. Sie war noch verschlossen und
verriegelt wie vorher. Er versuchte zu sagen: »Dummes Zeug«, blieb aber bei der
ersten Silbe stecken, und da er von der innern Bewegung, oder von den
Anstrengungen des Tages, oder von seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder
von der Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr erschöpft
war, ging er sogleich ins Bett, ohne sich auszuziehen, und sank sofort in
Schlaf.
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