I
Scrooge erwachte mitten in einem tüchtigen
Geschnarche und setzte sich im Bett auf; um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal
hatte niemand nötig, ihm zu sagen, daß es gerade eins sei. Er fühlte, daß er
just zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen Zweck erwacht sei, um eine
Zusammenkunft mit dem zweiten an ihn durch Jacob Marleys Vermittlung
abgesandten Boten zu haben. Aber bei dem Gedanken, welche seiner Bettgardinen
das neue Gespenst wohl zurückschlüge, wurde es ihm ganz unheimlich kalt, und so
schlug er sie mit seinen eigenen Händen zurück. Dann legte er sich wieder
zurück und beschloß, genau aufzupassen, denn er wollte den Geist in dem
Augenblick seiner Erscheinung anrufen und wünschte nicht überrascht und
erschreckt zu werden.
Leute von keckem Mut, die sich schmeicheln, es schon
mit etwas aufnehmen zu können und immer an ihrem Platz zu sein, drücken den
weiten Bereich ihrer Fähigkeiten mit den Worten aus: Sie wären gut für alles,
vom Brotessen bis zum Menschenverschlingen, da zwischen beiden Extremen ohne
Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zur Betätigung ihrer Kräfte liegt. Ohne
gerade zu behaupten, daß es Scrooge so weit gebracht hätte, muß ich doch von
dem Leser den Glauben fordern, daß er auf eine recht schöne Auswahl von
Erscheinungen gefaßt war und daß ihn nichts zwischen einem Wickelkind und einem
Rhinozeros allzusehr in Verwunderung gesetzt hätte.
Eben weil er beinahe auf alles gefaßt war, war er
nicht vorbereitet, nichts zu sehen; und daher überfiel ihn ein heftiges
Zittern, als die Glocke eins schlug und keine Gestalt erschien. Fünf Minuten,
zehn Minuten, eine Viertelstunde vergingen, aber es kam nichts. Die ganze Zeit
über lag er auf seinem Bett, dem Kern und Mittelpunkt eines rötlichen Lichtes,
das sich darüber ergoß, als die Glocke die Stunde verkündete, und das, weil es
nur Licht war, viel beunruhigender als ein Dutzend Geister war, da es ihn
unmöglich erraten ließ, was es bedeute oder was es wolle. Ja, er fürchtete
zuweilen, er könnte in diesem Augenblick ein merkwürdiger Fall von
Selbstentzündung sein, ohne den Trost zu haben, es zu wissen. Endlich jedoch
fing er an zu begreifen, daß die Quelle dieses geisterhaften Lichtes wohl in
dem anliegenden Zimmer sei, aus dem es bei näherer Betrachtung zu strömen
schien. Wie dieser Gedanke die Herrschaft über seine Seele bekommen hatte,
stand er leise auf und schlich in den Pantoffeln nach der Tür.
In demselben Augenblick, wo sich Scrooges Hand auf
die Klinke legte, rief ihn eine fremde Stimme bei Namen und hieß ihn eintreten.
Er gehorchte.
Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließ sich nicht
zweifeln. Aber eine wunderbare Umwandlung war mit ihm vorgegangen. Wände und
Decke waren ganz mit grünen Zweigen bedeckt, daß es aussah wie eine Laube, in
der überall glänzende Beeren schimmerten. Die glänzenden, starren Blätter der
Stechpalme, der Mistel und des Efeus warfen das Licht zurück und erschienen wie
ebenso viele kleine Spiegel. Eine so gewaltige Flamme loderte die Esse hinauf,
wie sie dieses Spottbild eines Kamines zu Scrooges oder Marleys Zeit seit
vielen, vielen Wintern nicht gekannt hatte. Auf dem Fußboden waren zu einer Art
von Thron Truthähne, Gänse, Wildbret, große Braten, Spanferkel, lange Reihen
von Würsten, Pasteten, Plumpuddings, Austerfäßchen, glühende Kastanien,
rotbäckige Äpfel, saftige Orangen, appetitliche Birnen, ungeheure Stollen und
siedende Punschbowlen aufgehäuft, die das Zimmer mit köstlichem Geruch
erfüllten. Auf diesem Thron saß behaglich und mit fröhlichem Angesicht ein
Riese, gar herrlich anzuschauen. In der Hand trug er eine brennende Fackel,
fast wie ein Füllhorn gestaltet, und hielt sie steil in die Höhe, um Scrooge
damit zu beleuchten, wie er in das Zimmer guckte.
»Nur herein«, rief der Geist. »Nur herein, und lerne
mich besser kennen.«
Scrooge trat schüchtern ein und senkte das Haupt vor
dem Geiste. - Er war nicht mehr der hartfühlende, nichtsscheuende Scrooge von früher,
und obgleich des Geistes Augen hell und mild glänzten, wünschte er ihnen doch
nicht zu begegnen.
»Ich bin der Geist der diesjährigen Weihnachtsnacht«,
sagte die Gestalt. »Sieh mich an.«
Scrooge tat es mit ehrfurchtsvollem Blick. Der Geist
war gekleidet in ein einfaches, dunkelgrünes Gewand, mit weißem Pelz verbrämt.
Die breite Brust war entblößt, als verschmähe sie, sich zu verstecken. Auch die
Füße waren bloß und schauten unter den weiten Falten des Gewandes hervor; und
das Haupt hatte keine andere Bedeckung, als einen Stechpalmenkranz, in dem hie
und da Eiszapfen glänzten. Seine dunkelbraunen Locken wallten fessellos auf die
Schultern. Sein munteres Gesicht, sein glänzendes Auge, seine fröhliche Stimme,
sein ungezwungenes Benehmen, alles sprach von Offenheit und heiterem Sinn. Um
den Leib trug er eine alte Degenscheide gegürtet; aber sie war von Rost
zerfressen und kein Schwert steckte darin.
»Du hast meinesgleichen nie vorher gesehen«, rief der
Geist.
»Niemals«, entgegnete Scrooge.
»Hast dich nie mit den jüngern Gliedern meiner
Familie abgegeben; ich meine (denn ich bin sehr jung) meine älteren Brüder, die
in den vergangenen Jahren geboren worden sind?« fuhr das Phantom fort.
»Ich glaube nicht«, sagte Scrooge. »Doch es tut mir
leid, es nicht getan zu haben. Hast du viele Brüder gehabt, Geist?«
»Mehr als achtzehnhundert«, sagte dieser.
»Eine schrecklich große Familie, wenn man für sie zu
sorgen hat«, murmelte Scrooge.
Der Geist der diesjährigen Weihnacht erhob sich.
»Geist«, sagte Scrooge demütig, »führe mich, wohin du
willst. Gestern Nacht wurde ich durch Zwang hinausgeführt und mir wurde eine
Lehre gegeben, die jetzt Wirkung zeigt. Heute bin ich bereit zu folgen, und
wenn du mich etwas zu lehren hast, will ich gern hören.«
»Berühre denn mein Gewand.«
Scrooge tat wie ihm geheißen und hielt es fest.
Stechpalmen, Misteln, rote Beeren, Efeu, Truthähne,
Gänse, Spanferkel, Braten, Würste, Austern, Pasteten, Puddings, Früchte und
Punsch, alles verschwand blitzschnell. Auch das Zimmer verschwand, das Feuer,
der rötliche Schimmer, die nächtliche Stunde, und sie standen in den Straßen
der Stadt, am Morgen des Weihnachtstages, wo die Leute - denn es war sehr kalt
- eine rauhe, aber fröhliche und nicht unangenehme Musik machten, indem sie den
Schnee von dem Straßenpflaster und den Dächern der Häuser zusammenfegten. Und
daneben standen die Kinder und freuten sich und kreischten, wenn die
Schneelawinen von den Dächern herunterstürzten und in künstliche Schneestürme
zerstoben.
Die Häuser erschienen schwarz und die Fenster noch
schwärzer, verglichen mit der faltenlosen, weißen Schneedecke auf den Dächern
und dem schmutzigeren Schnee auf den Straßen. Dort war er von den schweren
Rädern der Wagen und Karren in tiefe Furchen gepflügt; Furchen, die sich hundert-
und aberhundertmal kreuzten, wo eine Straße abging, und die in dem dicken,
gelben Schmutz und halberstarrten Wasser labyrinthische Gerinnsel bildeten. Der
Himmel war trübe, und selbst die kürzesten Straßen schienen sich in einem
dicken Nebel zu verlieren, dessen schwerere Teile in einem rußigen Regen
niederfielen, als hätten alle Essen von England sich auf einmal entzündet und
qualmten jetzt nach Herzenslust. Es war in der ganzen Umgebung nichts Heiteres,
und doch lag etwas in der Luft, was die klarste Sommerluft und die hellste
Sommersonne nicht hätten verbreiten können.
Denn die Leute, die den Schnee von den Dächern
schaufelten, waren lustig und mutwilliger Laune. Sie riefen von den Dächern
einander zu und wechselten dann und wann einen Schneeball - ein Pfeil, der
harmloser war als manches Wort - und lachten herzlich, wenn er traf, und nicht
minder herzlich, wenn er fehlging. Die Läden der Geflügelhändler waren noch
halb offen und die der Fruchthändler strahlten in heller Freude. Da sah man -
als wären es Westen lustiger alter Herren - große runde, dickbäuchige Körbe mit
Kastanien an den Türen lehnen oder in ihrem apoplektischen Überfluß auf die
Straße rollen. Da sah man braune, umfangreiche, spanische Zwiebeln, in ihrer
Fettigkeit spanischen Mönchen gleichend und mutwillig den Mädchen winkend, die
vorübergingen und verschämt nach dein Mistelzweig schielten. Da sah man Birnen
und Äpfel zu Pyramiden aufeinandergepackt: Trauben, die der Kaufmann in seiner
Gutmütigkeit recht augenfällig im Gewölbe hängen ließ, daß den Vorübergehenden
der Mund gratis wässerte, Haufen von Haselnüssen, bemoost und braun, mit ihrem
frischen Duft an vergangene Streifzüge im Wald durch das raschelnde, fußhohe,
welke Laub erinnernd, Norfolk-Biffins, fett und kraus, mit ihrer Bräune von den
gelben Orangen abstechend und gar dringlich bittend, daß man sie nach Hause
trage und nach Tische esse. Ja, selbst die Gold- und Silberfische, die in einem
Glase mitten unter den erlesenen Früchten standen, schienen zu wissen, daß
etwas Besonderes los sei, obgleich sie von einem dick- und kaltblütigen
Geschlecht waren, und schwammen um ihre kleine Welt in langsamer und
leidenschaftsloser Bewegung.
Ach die Kolonialwarenläden! Fast geschlossen waren
sie, vielleicht ein oder zwei Laden vorgesetzt: aber welche Herrlichkeiten sah
man durch diese Öffnungen! Nicht allein, daß die Waagschalen mit fröhlichem
Klingklang auf dem Ladentisch rumorten, oder daß der Bindfaden so munter von
seiner Rolle schnurrte, oder daß die Büchsen blitzschnell hin und her fuhren
wie durch Zauberei, oder daß der Mischgeruch von Kaffee und Tee der Nase so
wohl tat, nicht daß die Rosinen so wunderschön, die Mandeln so außerordentlich
weiß, die Zimtstengel so lang und gerade, die andern Gewürze so köstlich, die
eingemachten Früchte so dick mit geschmolzenem Zucker belegt waren, daß der
kälteste Zuschauer entzückt wurde; nicht allein, daß die Feigen so saftig und
fleischig waren, oder daß die Brignolen in bescheidener Koketterie in ihren
verzierten Büchsen erröteten, oder daß alles so gut zu essen oder so schön in
seinem Weihnachtskleid war: das war es nicht allein. Die Kaufenden waren auch
alle so eifrig und eilig in der Vorfreude auf das Fest, daß sie in der Türe
gegeneinanderrannten, wie von Sinnen mit ihren Körben zusammenstießen und ihre
Einkäufe vergaßen und wieder zurückliefen, um sie zu holen, und tausend
ähnliche Irrtümer in der bestmöglichen Laune begingen, während der Kaufmann und
seine Leute so frisch und froh waren, daß die blanken Herzen, die ihre Schürzen
hinten zusammenhielten, ihre eigenen hätten sein können.
Aber bald riefen die Glocken nach den Kirchen und den
Kapellen, und die Leute gingen in ihren besten Kleidern und ihren
feiertäglichsten Gesichtern durch die Straßen. Und zu derselben Zeit strömten
aus den Nebenstraßen und Gäßchen und namenlosen Winkeln zahllose Leute, die ihr
Mittagessen in die Backstuben trugen. Der Anblick dieser Armen und doch so
Glücklichen schien des Geistes Teilnahme am meisten zu erregen, denn er blieb
mit Scrooge neben eines Bäckers Tür stehen, und während er die Deckel von den
Schüsseln nahm, als die Träger vorübergingen, bestreute er ihr Mahl mit
Weihrauch seiner Fackel. Und es war eine gar wunderbare Fackel, denn ein
paarmal, als einige von den Leuten zusammengerannt waren und darüber heftige
Worte fielen, besprengte er sie mit etlichen Tropfen Tau daraus, und ihre gute
Laune war augenblicklich wiederhergestellt. Denn sie sagten, es sei eine
Schande, sich am Weihnachtstag zu zanken.
Jetzt schwiegen die Glocken, und die Läden der Bäcker
wurden geschlossen: und doch schwebte noch ein Schatten von allen diesen
Mittagessen und dem Fortgang ihrer Zubereitung in dem getauten, nassen Fleck
über jedem Ofen; und vor ihnen rauchte das Pflaster, als kochten selbst die
Steine.
»Ist eine besondere Kraft in dem, was deine Fackel
ausstreut?« fragte Scrooge.
»Ja. Meine eigene.«
»Und wirkt sie auf jedes Mittagsmahl an diesem Tag?«
fragte Scrooge.
»Auf jedes, sofern es gern gegeben wird. Auf ein
ärmliches am meisten.«
»Warum auf ein ärmliches am meisten?«
»Weil das meiner Kraft am meisten bedarf«
»Geist«, sagte Scrooge nach kurzem Nachdenken, »mich
wundert's, daß du von allen Wesen auf den vielen Welten um uns herum wünschen
solltest, diesen Leuten die Gelegenheit eines unschuldigen Genusses zu rauben.«
»Ich?« rief der Geist.
»Du willst ihnen die Mittel nehmen, jeden siebten Tag
zu Mittag zu essen, und doch ist das der einzige Tag, wo sie überhaupt zu
Mittag essen können«, sagte Scrooge.
»Ich?« rief der Geist.
»Du willst doch Backstuben und ähnliche Plätze am
siebten Tag geschlossen halten - das kommt doch auf dasselbe heraus.«
»Ich?« rief der Geist.
»Verzeih mir, wenn ich unrecht habe. Es ist in deinem
Namen geschehen oder wenigstens in dem deiner Familie«, sprach Scrooge.
»Es gibt Menschen auf Eurer Erde«, entgegnete der
Geist, die uns kennen wollen und die ihre Taten des Stolzes, der Mißgunst, des
Hasses, des Neides, des Fanatismus und der Selbstsucht in unserm Namen tun; die
uns in allem, was zu uns gehört, so fremd sind, als hätten sie nie gelebt.
Bedenke dies und schreibe ihre Taten ihnen selbst zu und nicht uns.«
Scrooge versprach es, und sie gingen weiter in die
Vorstadt, unsichtbar wie bisher. Es war eine wunderbare Eigenschaft des Geistes
(Scrooge hatte sie bei dem Bäcker bemerkt), daß er, bei seiner riesenhaften
Gestalt, doch überall leicht Platz fand, und daß er unter einem niedrigen Dach
ebenso schön und gleich einem übernatürlichen Wesen dastand, wie in einem
geräumigen, hohen Saal.
Vielleicht war es die Freude, die der gute Geist
darin fühlte, diese Macht zu zeigen, vielleicht auch seine warmherzige,
freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn gerade zu
Scrooges Kommis führte: denn er ging wirklich hin und nahm Scrooge mit, der
sich an seinem Gewand festhielt. Auf der Schwelle stand der Geist lächelnd
still und segnete Bob Cratchits Wohnung mit dem Tau seiner Fackel. Denkt doch!
Bob hatte nur fünfzehn ›Bobs‹ die Woche; er steckte sonnabends nur fünfzehn
seiner Namensvettern in die Tasche, und doch segnete der Geist der diesjährigen
Weihnacht sein Haus.
Im Zimmer stand Mr. Cratchits Frau in einem
ärmlichen, zweimal gewendeten Kleid, schön aufgeputzt mit Bändern, die billig
sind, aber für sechs Pence hübsch genug aussehen. Sie deckte den Tisch, und
Belinda, ihre zweite Tochter, half ihr dabei, während Master Peter mit der
Gabel in eine Schüssel voll Kartoffeln stach und die Spitzen seines ungeheuren
Hemdkragens (Bobs Privateigentum, seinem Sohn und Erben zu Ehren des Festes
geliehen) in den Mund nahm, voller Stolz, so schön angezogen zu sein, und voll
Sehnsucht, sein weißes Hemd in den fashionablen Parks zur Schau zu tragen.
jetzt kamen die zwei kleinen Cratchits, ein Mädchen und ein Knabe,
hereingesprungen und schrien, daß sie an des Bäckers Tür die gebratene Gans
gerochen und gewußt hätten, es sei ihre eigene, und in freudigen Träumen von
Salbei und Zwiebeln tanzten sie um den Tisch und erhoben Master Peter Cratchit
bis in den Himmel, während er (aber gar nicht stolz, obgleich ihn der
Hemdkragen fast erstickte) in das Feuer blies, bis die Kartoffeln hochquollen
und an den Topfdeckel klopften, daß man sie herauslassen und schälen möge.
»Wo nur der Vater bleibt?« fragte Mrs. Cratchit.
Und dein Bruder Tiny Tim; und Martha kam vorige
Weihnachten eine halbe Stunde früher.«
»Hier ist Martha, Mutter«, sagte ein Mädchen, zur Tür
hereintretend.
»Hier ist Martha, Mutter«, riefen die beiden kleinen
Cratchits. »Hurra, so eine Gans, Martha!«
»Gott grüß dich, liebes Kind! Wie spät du kommst!«
sagte Mrs. Cratchit, sie mehrmals küssend und ihr mit zutulichem Eifer Schal
und Hut abnehmend.
»Wir hatten gestern abend viel zurecht zu machen«,
antwortete das Mädchen, »und mußten heute mit allem fertig werden, Mutter.«
»Nun, es schadet nichts, da du doch da bist«, sagte
Mrs. Cratchit. »Setz dich ans Feuer, liebes Kind, und wärme dich.«
»Nein, nein, der Vater kommt«, riefen die beiden
kleinen Cratchits, die überall zu gleicher Zeit waren. »Versteck dich, Martha,
versteck dich!«
Martha versteckte sich, und jetzt trat Bob herein,
der Vater. Wenigstens drei Fuß, ungerechnet der Fransen, hing der Schal auf
seine Brust herab, und die abgetragenen Kleider waren geflickt und gebürstet,
um ihnen ein Ansehen zu geben. Tiny Tim saß auf seiner Schulter. Der arme Tiny
Tim! Er trug eine kleine Krücke, und seine Glieder wurden von eisernen Schienen
gestützt.
»Nun, wo ist unsere Martha?« rief Bob Cratchit und
schaute im Zimmer herum.
»Sie kommt nicht«, sagte Mrs. Cratchit.
»Sie kommt nicht?« sagte Bob mit einem plötzlichen
Absinken seiner fröhlichen Laune; denn er war den ganzen Weg von der Kirche
Tims Pferd gewesen und in vollem Laufe nach Hause gerannt. »Sie kommt nicht zum
Weihnachtsabend?«
Martha wollte ihm keinen Schmerz verursachen, selbst
nicht aus Scherz, und so trat sie hinter der Tür hervor und schlang die Arme um
seinen Hals, während die beiden kleinen Cratchits sich Tiny Tims bemächtigten
und ihn nach dem Waschhaus trugen, damit er den Pudding im Kessel singen höre.
»Und wie hat sich der kleine Tim aufgeführt?« fragte
Mrs. Cratchit, als sie Bob wegen seiner Leichtgläubigkeit geneckt und Bob seine
Tochter nach Herzenslust geküßt hatte.
»Wie ein Goldkind«, sagte Bob, »und noch besser. Ich
weiß nicht, wie es kommt, aber er wird jetzt so träumerisch vom Alleinsitzen
und sinnt sich die seltsamsten Dinge zurecht. Heute, als wir nach Hause gingen,
sagte er, er hoffe, die Leute sähen ihn in der Kirche, denn er sei ein Krüppel,
und es wäre vielleicht gut für sie, sich am Christtag an den zu erinnern, der
einst Lahme gehen und Blinde sehen machte.«
Bobs Stimme zitterte, als er dies sagte, und zitterte
noch mehr, als er hinzufügte, daß Tiny Tim stärker und gesünder werden würde.
Man hörte jetzt seine kleine Krücke auf dem Fußboden,
und ehe noch mehr gesprochen ward, war Tim wieder da und wurde von seinem
Bruder und seiner Schwester nach seinem Stuhl neben dem Feuer geführt. Während
jetzt Bob, seine Rockaufschläge zur Schonung in die Höhe krempelnd - als ob es
möglich gewesen wäre, sie noch mehr abzutragen -, in einer Bowle aus Gin und
Zitronen eine heiße Mischung zubereitete und sie umrührte und wieder an das
Feuer setzte, damit sie sich warm halte, gingen Master Peter und die zwei
allgegenwärtigen kleinen Cratchits die Gans holen, mit der sie bald in
feierlichem Zug zurückkehrten.
Daraufhin erhob sich ein solcher Lärm, als wäre eine
Gans der seltenste aller Vögel, ein gefiedertes Wunder, gegen das ein schwarzer
Schwan etwas ganz Gewöhnliches ist - und wirklich war sie es auch in diesem
Hause. Mrs. Cratchit ließ die Bratenbrühe aufwallen, Master Peter schmorte die
Kartoffeln mit unglaublichem Eifer, Miß Belinda machte die Apfelsauce süß,
Martha wischte die gewärmten Teller ab, Bob nahm Tiny Tim neben sich in eine
behagliche Ecke am Tisch, die beiden kleinen Cratchits stellten die Stühle
zurecht, wobei sie sich nicht vergaßen, und nahmen ihren Posten ein, den Löffel
in den Mund steckend, um nicht nach Gans zu schreien, ehe die Reihe an sie kam.
Endlich wurde das Gericht aufgetragen und das Tischgebet gesprochen. Darauf
folgte eine atemlose Pause, als Mrs. Cratchit das Vorschneidemesser langsam von
der Spitze bis zum Heft betrachtete und sich anschickte, es der Gans in die Brust
zu stoßen. Aber, als sie es tat und sich der langerwartete Strom der Füllung
ergoß, ertönte um den ganzen Tisch ein freudiges Gemurmel, und selbst Tiny Tim,
durch die beiden kleinen Cratchits in Feuer gebracht, schlug mit dem Heft
seines Messers auf den Tisch und rief ein schwaches Hurra.
Nie hatte es so eine Gans gegeben. Bob sagte, er
glaube nicht, daß jemals eine solche Gans gebraten worden sei. Ihre Zartheit
und ihr Fett, ihre Größe und ihre Billigkeit waren der Gegenstand allgemeiner
Bewunderung. Mit Hilfe der Apfelsauce und der geschmorten Kartoffeln gab sie
ein hinreichendes Mahl für die ganze Familie. Und als Mrs. Cratchit einen
einzigen kleinen Knochen noch auf der Schüssel liegen sah, sagte sie mit großer
Freude, sie hätten doch nicht alles aufgegessen! Aber jeder von ihnen hatte
genug, und die kleinen Cratchits waren bis an die Augenbrauen mit Salbei und
Zwiebeln eingesalbt. jetzt wurden die Teller von Miß Belinda gewechselt, und
Mrs. Cratchit verließ das Zimmer allein, denn sie war zu unruhig, Zeugen dulden
zu können, wenn sie den Pudding herausnahm und hereinbrachte.
Wenn er nicht ausgebacken wäre! Wenn er beim
Herausnehmen in Stücke zerfiele! Wenn jemand über die Mauer des Hinterhauses
geklettert wäre und ihn gestohlen hätte, während sie sich an der Gans
erquickten - ein Gedanke, bei dem die beiden kleinen Cratchits vor Schrecken
bleich wurden.
Hallo, eine Dampfwolke! Der Pudding war aus dem
Kessel genommen. Ein Geruch, wie an einem Waschtag! Das war die Serviette. Ein Geruch
wie in einem Speisehaus, mit einem Pastetenbäcker auf der einen und einer
Wäscherin auf der andern Seite! Das war der Pudding. Nach einer halben Minute
trat Mrs. Cratchit herein, aufgeregt, aber stolz lächelnd und vor sich den
Pudding haltend, hart und fest wie eine gefleckte Kanonenkugel, in einem
Viertelquart Rum flammend und in der Mitte mit der festlichen Stechpalme
geschmückt.
Oh, welch wunderbarer Pudding! Bob Cratchit erklärte
mit ruhiger und sicherer Stimme, er halte das für das größte Kochkunststück,
das Mrs. Cratchit seit ihrer Heirat geliefert habe. Mrs. Cratchit meinte, da
die Last von ihrem Herzen sei, wolle sie nur gestehen, daß sie wegen der Menge
des Mehls gar sehr in Angst gewesen sei. jeder hatte darüber etwas zu sagen,
aber keiner sagte oder dachte, es sei doch ein zu kleiner Pudding für eine so
große Familie. Das wäre offenbare Ketzerei gewesen. jeder Cratchit würde sich
geschämt haben, an so etwas nur zu denken.
Endlich waren sie mit dem Essen fertig, der Tisch war
abgedeckt, der Herd gesäubert und das Feuer geschürt. Das Gemisch im Krug wurde
gekostet und für fertig erklärt, Äpfel und Apfelsinen auf den Tisch gesetzt und
ein paar Hände voll Kastanien auf das Feuer geschüttet. Dann setzte sich die
ganze Familie Cratchit um den Kamin in einem Kreis, wie es Bob Cratchit nannte,
obgleich es eigentlich nur ein Halbkreis war, Bob in die Mitte und neben ihm
der Gläservorrat der Familie: zwei Paßgläser und ein Milchkännchen ohne Henkel.
Diese Gefäße aber hielten das heiße Gemisch aus dem
Krug so gut, als wären es goldene Pokale gewesen, und Bob schenkte mit
strahlenden Blicken ein, während die Kastanien auf dem Feuer spuckten und
platzten. Dann schlug Bob den Toast vor.
»Uns allen eine fröhliche Weihnacht, meine Lieben!
Gott segne uns!«
Die ganze Familie wiederholte den Toast.
»Gott segne jeden von uns!« sagte Tiny Tim, der
letzte von allen.
Er saß dicht neben dem Vater auf seinem Stühlchen,
Bob hielt seine kleine welke Hand in der seinigen, als ob er das Kind liebte
und wünschte, es bei sich zu behalten, aber fürchte, es könnte ihm bald
genommen werden.
»Geist«, sprach Scrooge mit einer Teilnahme, wie er
sie noch nie empfunden hatte, »sag mir, wird Tiny Tim am Leben bleiben?«
»Ich sehe einen leeren Stuhl in der Kaminecke«,
antwortete der Geist, »und eine Krücke ohne Besitzer, sorgfältig aufbewahrt.
Wenn die Zukunft diese Schatten nicht ändert, wird das Kind sterben.«
»Nein, nein«, drängte Scrooge. »Ach nein, guter
Geist, sag, daß es am Leben bleiben wird.«
»Wenn die Zukunft diese Schatten nicht verändert«,
antwortete der Geist abermals, »wird kein anderer meines Geschlechtes das Kind
noch hier finden. Was tut es auch? Wenn es sterben muß, ist es besser, es tue
es gleich und vermindere die überflüssige Bevölkerung.«
Scrooge senkte das Haupt, da er seine eigenen Worte
von dem Geist hörte, und fühlte sich überwältigt von Reue und Schmerz.
»Mensch«, sprach der Geist, »wenn du ein menschliches
Herz hast und kein steinernes, so hüte dich, so heuchlerisch zu reden, bis du
weißt, was und wo dieser Überfluß ist. Willst du entscheiden, welche Menschen
leben, welche Menschen sterben sollen? Vielleicht bist du in den Augen des
Himmels unwürdiger und unfähiger zu leben als Millionen gleich dieses armen
Mannes Kind. O Gott! Solch Gewürm auf einem Blättlein reden zu hören über
zuviel Leben unter seinen hungrigen Brüdern im Staub!«
Scrooge nahm des Geistes Vorwurf demütig hin und
schlug die Augen nieder, aber er blickte schnell wieder in die Höhe, als er
seinen Namen nennen hörte.
»Es lebe Mr. Scrooge!« sagte Bob, »Mr. Scrooge, der
Schöpfer dieses Festes!«
»Der Schöpfer dieses Festes, wahrhaftig!« rief Mrs.
Cratchit mit glühendem Gesicht. »Ich wollte, ich hätte ihn hier. Ich wollte ihm
ein Stück von meiner Meinung zu kosten geben, und ich hoffe, sie würde ihm
schmecken.«
»Liebe Frau«, sagte Bob beschwichtigend, »die Kinder!
- Es ist Weihnachten.«
»Freilich muß es Weihnachten sein«, sagte sie, »wenn
man auf die Gesundheit eines so niederträchtigen, geizigen, fühllosen Menschen,
wie Scrooge ist, trinken kann. Und du weißt es, Robert, daß er so ist, niemand
weiß es besser als du!«
»Liebe Frau«, antwortete Bob mild, »es ist
Weihnachten.«
»Ich will auf seine Gesundheit trinken, dir und dem
Feste zu Gefallen,« sagte Mrs. Cratchit, »nicht seinetwegen. Möge er lange
leben! Ein fröhliches Weihnachten und ein glückliches neues Jahr! - Er wird
sehr fröhlich und sehr glücklich sein, das glaub ich.«
Die Kinder tranken nach ihr. Es war das erste, was
sie an diesem Abend ohne Herzlichkeit und Wärme taten. Tiny Tim trank zuletzt,
aber er gab keinen Pfifferling darum. Scrooge war das Schreckbild der Familie.
Die Erwähnung seines Namens warf über alle einen düsteren Schatten, der volle
fünf Minuten zum Verschwinden brauchte.
Als er weg war, waren sie zehnmal lustiger als
vorher, schon weil sie Scrooge los waren, den Schrecklichen. Bob Cratchit
erzählte, daß er eine Stelle für Peter in Aussicht habe, die diesem ganze fünf
und einen halben Shilling wöchentlich eintragen werde. Die beiden kleinen
Cratchits lachten fürchterlich bei dem Gedanken, Peter als Geschäftsmann zu
sehen; und Peter selbst blickte gedankenvoll zwischen seinen Kragenenden hervor
in das Feuer, als überlege er, in welchen Aktien wohl am besten seine
Ersparnisse anzulegen seien, wenn er in Besitz dieser unglaublichen Summe käme.
Martha, die bei einer Putzmacherin Gehilfin war, erzählte ihnen, was für Arbeit
sie jetzt mache und wieviel Stunden sie in der guten Zeit arbeiten müsse und
wie sie morgen früh auszuschlafen gedenke; denn morgen war für sie ein
Feiertag. Auch erzählte sie, wie sie vor einigen Tagen eine Gräfin und einen
Lord gesehen, und daß der Lord fast so groß wie Peter gewesen sei; bei diesen
Worten zupfte Peter seinen Hemdkragen so in die Höhe, daß sein Kopf darin
verschwand. Während dieser ganzen Zeit gingen Punsch und reife Kastanien um,
und dazwischen sang Tiny Tim mit seiner klagenden Stimme ein Lied von einem
Kind, das sich im Schnee verlaufen: und sang es recht hübsch.
In alledem war nichts Besonderes. Es waren keine
hübschen Gesichter in der Familie; sie waren nicht schön angezogen, ihre Schuhe
waren nichts weniger als wasserdicht, ihre Kleider waren ärmlich, und Peter
mochte wohl das Innere eines Pfandleiherladens kennen. Aber sie waren
glücklich, voller Dank für ihre bescheidenen Freuden, einig untereinander und
zufrieden: und als ihre Gestalten verblichen und in dem scheidenden Lichte der
Fackel des Geistes noch glücklicher aussahen, verweilte Scrooges Auge immer
noch auf ihnen und hing vor allem an Tiny Tim.
Es war jetzt ganz dunkel geworden, und es fiel ein
starker Schnee; und als Scrooge und der Geist durch die Straßen gingen,
leuchtete der Glanz der lodernden Feuer in Küchen, Putzstuben und Gemächern
aller Art über alle Maßen wundervoll. Hier zeigte die flackernde Flamme die Vorbereitungen
zu einem traulichen Mahl, die heißen Teller, wie sie sich vor dem Feuer durch
und durch wärmten, und die dunkelroten Gardinen, bereit, Kälte und Nacht
auszuschließen. Dort liefen alle Kinder des Hauses auf die verschneite Straße
hinaus, ihren verheirateten Schwestern, Brüdern, Vettern, Basen, Onkeln und
Tanten entgegen, um sie zuerst zu begrüßen. Hier zeigten sich an den Fenstern
Schatten versammelter Gäste; dort eine Gruppe hübscher Mädchen in Pelzkragen
und Pelzstiefeln, alle zugleich redend und mit leichten Schritten in eines
Nachbars Haus eilend. Wehe dem Junggesellen, der sie dort strahlend eintreten
sah - und sie wußten es, die durchtriebenen kleinen Hexen!
Wenn man nach der Zahl der Leute hätte urteilen
wollen, die zu freundschaftlichen Besuchen eilten, hätte man glauben mögen, es
sei niemand da, sie zu bewillkommnen. Aber statt dessen erwartete jedes Haus
Gäste und in jedem Kamin loderte die Flamme. Wie sich der Geist freute! Wie er
seine breite Brust entblößte und seine volle Hand auftat und dahinschwebte,
freigebig seine heitere und harmlose Fröhlichkeit über alles in seinem Bereich
ausschüttend!
Selbst der Laternenanzünder, der durch die dunklen
Straßen rannte, um ihre trüben Nebel mit Licht zu erhellen, und der bereits
herausgeputzt war, um den Abend irgendwo zuzubringen, lachte laut auf, als er
den Geist vorüberschweben fühlte.
Und jetzt, ohne daß vorher der Geist etwas gesagt
hätte, standen sie auf einer kahlen, öden Heide, wo ungeheure Felsblöcke
verstreut lagen, als wäre hier eine Begräbnisstätte von Riesen. Und Wasser
breitete sich aus, wo es nur Lust hatte - oder es hätte sich ausgebreitet, wenn
es der Frost nicht gefangengehalten hätte; und nichts wuchs dort als Moos und
Gestrüpp und hartes, spitzes Gras. Tief im Westen hatte die untergehende Sonne
einen Streifen glühenden Rots gelassen, der einen Augenblick auf die öde Steppe
niedertauchte, wie ein zürnendes Auge, und immer tiefer und tiefer sank, bis er
sich im Dunkel der tiefsten Nacht verlor.
»Was ist das für ein Ort?« fragte Scrooge.
»Ein Ort, wo Bergleute in den Tiefen der Erde
arbeiten«, antwortete der Geist. »Aber sie kennen mich. Sieh!«
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