II
Ein Licht strahlte aus dem Fenster einer Hütte, und
sie schwebten schnell darauf zu. Hier fanden sie eine fröhliche Gesellschaft um
ein wärmendes Feuer sitzen: ein alter, alter Mann und eine greise Frau mit
ihren Kindern und Enkeln und Urenkeln, alle in festlichen Kleidern. Der Alte
sang ein Weihnachtslied mit einer Stimme, die nur selten das Heulen des Windes
auf der Einöde übertönte; es war schon ein sehr altes Lied gewesen, als er noch
ein Knabe war; und von Zeit zu Zeit fielen sie alle im Chor ein. Und stets,
wenn ihre Stimmen ertönten, wurde der Alte lebendig und laut; und immer, wenn
sie aufhörten, sank seine Kraft wieder. Der Geist verweilte hier nicht, sondern
befahl Scrooge, sich an seinem Gewand zu halten. Sie schwebten über die Öde,
aber wohin? Doch nicht aufs Meer? Aufs Meer! Zu seinem Schrecken sah Scrooge
eine Reihe grausig steiler Klippen und hinter sich das Land verschwinden, und
sein Ohr wurde betäubt von dem Donner der Wogen, wie sie unten in den
grausenden Höhlen, die sie genagt hatten, heulten und brüllten und wüteten und
mit wildem Grimm die Erde zu unterwühlen trachteten.
Auf einer öden, halb im Wasser versunkenen Klippe,
gewiß eine Meile vom Land entfernt stand ein einsamer Leuchtturm. Das ganze
trostlose Jahr hindurch umschäumten und umtollten ihn die Wogen. Große Haufen
von Seekraut umgaben seinen Fuß, und Sturmvögel - man konnte glauben, daß sie
vom Winde geboren waren wie das Seekraut von den Wellen - Sturmvögel hoben und
senkten sich um seine Spitze, wie die wogenden Wellen unten.
Aber selbst hier hatten die zwei Turmwächter ein
Feuer angezündet, das durch das Guckloch in der dicken, steinernen Mauer einen
hellglänzenden Streifen auf die nächtliche See warf. Die harten Hände sich über
den Tisch hinreichend, an dem sie saßen, wünschten sie einander fröhliche
Weihnachten und stießen mit den Grogbechern darauf an. Und einer der beiden,
der Ältere noch dazu, mit einem Gesicht von Sturm und Wetter gebräunt und
gefurcht, wie die Galionsfigur eines alten Schiffes, stimmte ein mächtiges Lied
an, das wie ein Sturmwind erdröhnte.
Immer noch schwebte der Geist über die dunkelwogende
See dahin, immer weiter und weiter, bis sie, wie der Geist zu Scrooge sagte,
fern jeder Küste, sich auf einem Schiff niederließen. Sie standen neben dem
Steuermann an dem Rad, dem Ausguck vorn, neben den Offizieren, die gerade Wache
hatten. Wie dunkle, gespenstige Gestalten standen diese auf ihrem Posten, aber
jeder von ihnen summte ein Weihnachtslied, oder hatte einen Weihnachtsgedanken,
oder sprach leise zu seinem Kameraden von einem früheren Weihnachtsabend und
heimatlichen Hoffnungen, die sich daran knüpften. Und jeder einzelne an Bord,
wachend oder schlafend, gut oder schlecht, hatte an diesem Tag ein herzlicheres
Wort für seine Kameraden gehabt als an jedem andern Tag des Jahres und ihn
wenigstens einigermaßen gefeiert; und hatte an die gedacht, die sich jetzt in
der Ferne seiner erinnerten, und hatte gewußt, daß sie jetzt seiner freundlich
gedächten.
Eine große Überraschung war es für Scrooge -während
er dem Stöhnen des Windes lauschte und darüber nachdachte, wie es doch
schauerlich sei, durch die öde Nacht über einen unbekannten Abgrund
dahinzugleiten, der Geheimnisse barg, so tief wie der Tod - eine große
Überraschung war es für Scrooge sage ich, plötzlich ein herzliches Lachen zu
vernehmen. Noch größer war Scrooges Überraschung, als er darin das Lachen
seines eigenen Neffen erkannte und sich in einem hellen, behaglich warmen
Zimmer wiederfand, während der Geist an seiner Seite stand und mit beifälligem,
mildem Lächeln auf diesen Neffen herabblickte.
»Haha!« lachte Scrooges Neffe. »Hahaha!«
Wenn jemand durch einen sehr unwahrscheinlichen
Zufall einen Menschen weiß, der glücklicher lachen kann als Scrooges Neffe, so
kann ich nur sagen, ich möchte ihn auch kennenlernen. Stellt mich ihm vor, und
ich werde mit ihm Freundschaft pflegen.
Es ist doch eine gerechte und schöne Anordnung, daß,
wie Krankheit und Kummer, auch in der ganzen weiten Welt nichts so
unwiderstehlich ansteckend ist wie Lachen und Fröhlichkeit.
Als Scrooges Neffe lachte und sich den Bauch hielt
und mit dem Kopf wackelte und die allermerkwürdigsten Gesichter schnitt, lachte
Scrooges Nichte so herzlich wie er. Und die versammelten Freunde, nicht faul,
fielen in den Lachchor ein.
»Haha! Haha! Haha!«
»Er sagte, Weihnachten sei dummes Zeug, so wahr ich
lebe«, rief Scrooges Neffe. »Und er glaubt es auch.«
»Die Schande ist um so größer für ihn, Fred«, sagte
Scrooges Nichte entrüstet. Gott segne die Frauen! Sie tun nie etwas halb. Sie
sind immer in vollem Ernst.
Sie war hübsch, sehr hübsch. Sie hatte ein
liebliches, schelmisches Gesicht, einen frischen vollen Mund, der zum Küssen
gemacht schien - wie er es ohne Zweifel auch war; alle Arten lieber kleiner
Grübchen um das Kinn, die ineinanderflossen, wenn sie lachte, und das
sonnenhellste Paar Augen, das je erblickt werden konnte. Ja, sie war reizend,
liebenswürdig, bezaubernd.
»Er ist ein komischer alter Herr«, sagte Scrooges
Neffe, »das ist wahr, und nicht so angenehm, wie er sein könnte. Doch seine
Fehler bestrafen nur ihn selbst, und ich habe keinen Grund, etwas gegen ihn zu sagen.«
»Er muß doch sehr reich sein, Fred«, meinte Scrooges
Nichte. »Wenigstens sagst du es immer.«
»Und wenn schon, Liebste!« sprach Scrooges Neffe.
»Sein Reichtum nützt ihm nichts. Er tut nichts Gutes
damit. Er macht sich selbst nicht einmal das Leben damit angenehm. Er hat nicht
einmal das Vergnügen zu denken - hahaha -, daß er uns am Ende damit eine Freude
machen wird.«
»Ich habe keine Geduld mit ihm«, bemerkte Scrooges
Nichte. Die Schwester von Scrooges Nichte und alle die andern Damen waren derselben
Meinung.
»Oh, ich habe Geduld«, sagte Scrooges Neffe. »Mir tut
er leid; ich könnte nicht böse auf ihn werden, selbst wenn ich's versuchte. Wer
leidet unter seiner bösen Laune? Er selber allein, sonst niemand. jetzt hat er
sich's in den Kopf gesetzt, uns nicht leiden zu können, und will unsere
Einladung zum Mittagessen nicht annehmen. Was ist die Folge davon? Er verliert
nicht viel an unserm Essen.«
»Nun, ich meine, er verliert ein sehr gutes Essen«,
unterbrach ihn Scrooges Nichte. Die andern sagten dasselbe, und man konnte ihr
Urteil darüber nicht bestreiten, weil sie eben zu essen aufgehört hatten und
jetzt mit dem Dessert bei Lampenlicht um den Kamin saßen.
»Nun, es freut mich, das zu hören«, sagte Scrooges
Neffe, »weil ich kein großes Vertrauen in diese jungen Hausfrauen setze. Was
sagen Sie dazu, Topper?«
Ganz klar war's, Topper hatte ein Auge auf eine der
Schwestern von Scrooges Nichte geworfen, denn er antwortete, ein Junggeselle
sei ein unglücklicher, heimatloser Mensch, der kein Recht habe, eine Meinung
darüber auszusprechen: Worte, bei denen die Schwester von Scrooges Nichte - die
Runde mit dem Spitzkragen, nicht die mit der Rose im Haar - rot wurde.
»Weiter, weiter, Fred!« sagte Scrooges Nichte, in die
Hände klatschend. »Er bringt nie zu Ende, was er angefangen hat! Er ist ein so
närrisches Kerlchen.«
Scrooges Neffe schwelgte in einem andern Gelächter,
und es war unmöglich, sich von der Ansteckung fern zu halten, obgleich es die
runde Schwester sogar mit Riechsalz versuchte; sein Beispiel wurde einstimmig
nachgeahmt.
»Ich wollte nur sagen«, meinte Scrooges Neffe, »daß
die Folge seines Mißfallens an uns und seiner Weigerung, mit uns fröhlich zu
sein, die ist, daß er einige angenehme Augenblicke verliert, die ihm nichts schaden
würden. Gewiß verliert er angenehmere Unterhaltung, als ihm seine eigenen
Gedanken in seinem dumpfigen alten Kontor oder in seiner Wohnung bereiten. Ich
versuche ihm jedes Jahr Gelegenheit dazu zu geben, mag es ihm nun gefallen oder
nicht, denn er dauert mich. Er mag auf Weihnachten schimpfen, bis er stirbt,
aber er muß doch endlich besser davon denken, wenn er mich jedes Jahr in guter
Laune zu ihm kommen sieht, mit den Worten: ›Onkel Scrooge, wie geht es Ihnen?‹
- Wenn es ihm nur den Gedanken einflößt, seinem armen Kommis fünfzig Pfund zu
hinterlassen, so ist das doch wenigstens etwas: und ich glaube, ich packte ihn
gestern.«
Jetzt war an ihnen die Reihe zu lachen bei dem
Gedanken, daß er Scrooge gepackt hätte. Aber da er durch und durch gutmütig war
und sich nicht viel darum kümmerte, worüber sie lachten, wenn sie überhaupt
lachten, so stimmte er in ihre Fröhlichkeit mit ein und ließ die Flasche wacker
herumgehen.
Nach dem Tee kam Musik an die Reihe. Denn es war eine
musikalische Familie, und sie wußten, was sie taten, wenn sie einen Glee oder
Catch sangen, darauf könnt ihr euch verlassen, namentlich Topper, der den Baß
nach Noten brummen konnte, ohne daß die großen Adern auf der Stirn anschwollen
oder sich sein Gesicht rötete. Scrooges Nichte spielte die Harfe recht gut, und
spielte unter anderen Stücken auch ein kleines Liedchen (ein bloßes Nichts, ihr
hättet es in zwei Minuten pfeifen gelernt), das jenes Kind oft gesungen hatte,
von dem Scrooge aus der Schule geholt worden war, wie ihm der Geist der
vergangenen Weihnachten gezeigt hatte. Als Scrooge dies Liedchen hörte, trat
alles, was ihm der Geist gezeigt hatte, abermals vor seine Seele: er wurde
weicher und weicher und dachte, wenn er es vor Jahren hätte oft hören können,
so hätte er die freundlichen Seiten des Lebens genießen können, ohne erst zu
Marleys Geist seine Zuflucht um Belehrung nehmen zu müssen.
Aber sie widmeten nicht den ganzen Abend der Musik.
Nach einer Welle fingen sie Pfänderspiele an, denn es ist gut, zuweilen Kind zu
sein, und vorzüglich zu Weihnachten, da der Urheber dieses Festes selbst noch
ein Kind war. Doch halt, erst spielten sie Blindekuh. Und ich glaube
ebensowenig, daß Topper wirklich blind war, wie ich glaube, er habe Augen in
seinen Stiefeln. Ich vermute, die Sache war zwischen ihm und Scrooges Neffen
abgekartet, und der Geist der diesjährigen Weihnachten wußte es wohl! Die Art,
wie er die runde Schwester in dem Spitzenkragen verfolgte, war eine Beleidigung
aller menschlichen Leichtgläubigkeit. Wo sie ging, ging auch er, die Feuereisen
umstoßend, über Stühle stolpernd, an das Piano anrennend, sich in den Gardinen
verwickelnd. Immer wußte er, wo die runde Schwester war. Wenn jemand gegen ihn
gefallen wäre, wie es einige machten, oder sich vor ihn hingestellt hätte, würde
er getan haben, als bemühe er sich, ihn zu ergreifen, wäre aber augenblicklich
umgekehrt, der runden Schwester nach. Sie rief oft, das sei nicht ehrlich, und
das war es auch in der Tat nicht. Aber endlich hatte er sie gefunden und
ungeachtet ihres Sträubens zwängte er sie in eine Ecke, aus der keine Flucht
möglich war; und da wurde seine Aufführung ganz abscheulich. Denn sein
Vorgeben, er kenne sie nicht, er müsse erst ihren Kopfputz anfassen und, um sie
zu erkennen, einen gewissen Ring auf ihrem Finger und eine gewisse Kette um
ihren Hals befühlen, war ganz, ganz abscheulich! Und gewiß sagte sie ihm auch
tüchtig ihre Meinung darüber, denn als ein anderer Blinder an der Reihe war,
tuschelten sie hinter den Gardinen sehr vertraut miteinander.
Scrooges Nichte nahm nicht teil an dem
Blindekuhspiel, sondern saß gemütlich in einer traulichen Ecke in einem
Lehnstuhl mit einem Fußbänkchen davor, und der Geist und Scrooge standen dicht
hinter ihr. Aber bei den Pfänderspielen tat sie mit und liebte ihre Liebe mit allen
Buchstaben des Alphabets zur allgemeinen Bewunderung. Auch in dem Spiel ›Wie,
Wann und Wo‹ war sie sehr tüchtig und stellte zur geheimen Freude von Scrooges
Neffen ihre Schwestern gar sehr in den Schatten, obgleich sie auch ganz
gescheite Mädchen waren, wie es uns Topper hätte versichern können. Es mochten
ungefähr zwanzig Personen da sein, junge und alte, aber sie spielten alle, und
auch Scrooge spielte mit; denn in seiner Teilnahme an den Vorgängen ganz
vergessend, daß ihnen seine Stimme nicht hörbar war, gab er oft seine Antwort
auf die Fragen ganz laut und riet auch oft ganz richtig.
Dem Geist gefiel es sehr gut, ihn in dieser Laune zu
sehen, und er blickte ihn so freundlich an, daß ihn Scrooge wie ein Knabe bat,
noch warten zu dürfen, bis die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies
könne nicht geschehen.
»Es fängt ein neues Spiel an«, sagte Scrooge. »Nur
eine einzige halbe Stunde, Geist.«
Es war ein Spiel, das man ›Ja und Nein‹ nennt, wo
Scrooges Neffe sich etwas zu denken hatte und die anderen erraten mußten, was;
auf ihre Fragen brauchte er dann nur mit Ja oder Nein zu antworten. Die schnell
aufeinanderfolgenden Fragen, die ihm vorgelegt wurden, ergaben denn endlich,
daß er sich ein Geschöpf dachte -. ein lebendiges Wesen, ein häßliches, wildes
Geschöpf, das zuweilen brumme und zuweilen spreche und sich in London aufhalte
und in den Straßen herumlaufe und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt
werde und nicht in einer Menagerie sei und nicht geschlachtet werde, und weder
ein Pferd, noch ein Esel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch
ein Hund, noch ein Schwein, noch eine Katze, noch ein Bär sei. Bei jeder neuen
Frage, die ihm gestellt wurde, brach Scrooges Neffe aufs neue in ein Gelächter
aus und konnte gar nicht wieder herauskommen, so daß er vom Sofa aufstehen und
mit den Füßen stampfen mußte. Endlich rief die runde Schwester mit einem ebenso
unauslöschlichen Gelächter:
»Ich habe es, Fred, ich weiß es, ich weiß es.«
»Was ist es?« rief Fred.
»Es ist Onkel Scrooge.«
Und der war es auch. Verwunderung war das allgemeine
Gefühl, obgleich einige meinten, die Frage: »Ist es ein Bär?« hätte mit Ja
beantwortet werden müssen, denn eine verneinende Antwort sei schon hinreichend
gewesen, ihre Gedanken von Scrooge abzubringen, selbst wenn sie auf dem Wege zu
ihm gewesen wären.
»Nun, er hat uns Freude genug gemacht«, sagte Fred,
»und so wäre es undankbar, nicht auf seine Gesundheit zu trinken. Hier ist ein
Glas Glühwein dazu bereit. Es lebe Onkel Scrooge!«
»Es lebe Onkel Scrooge!« stimmten alle ein.
»Fröhliche Weihnachten und ein glückliches Neujahr
dem Alten, sei er, wie er wolle!« sagte Scrooges Neffe. »Er wollte meinen
Wunsch nicht annehmen, aber er soll ihn dennoch haben.«
Dem Onkel Scrooge war es unmerklich so fröhlich und leicht
zu Sinne geworden, daß er der von seiner Gegenwart nichts ahnenden Gesellschaft
ihren Toast erwidert und mit einer unhörbaren Rede gedankt haben würde, hätte
ihm der Geist Zeit dazu gelassen. Aber alles verschwand im Hauch vom letzten
Wort des Neffen, und Scrooge und der Geist waren schon wieder unterwegs. Sie
gingen weit und sahen viel und besuchten manchen Herd, aber immer spendeten sie
Glück. Der Geist stand neben Kranken, und sie wurden heiter und hoffend; neben
Wanderern in fernen Ländern, und sie träumten von der Heimat; neben solchen,
die mit dem Leben rangen, und sie harrten geduldig aus; neben Armen, und sie
wurden reich. Im Armenhaus und im Lazarett, im Kerker und in jedem Zufluchtsort
des Elends, wo der Mensch in seiner kurzen ärmlichen Herrschaft dem Geiste die
Tür verschlossen hatte, spendete er seinen Segen und lehrte Scrooge seine
Weise.
Es war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war;
aber Scrooge zweifelte daran, denn die Weihnachtsfeiertage schienen in die
Zeit, in der sie miteinander verrannen, zusammengedrängt zu sein. Es war auch
sonderbar, daß der Geist offenbar älter wurde, während Scrooge äußerlich ganz
unverändert blieb. Scrooge hatte diese Veränderung zwar bemerkt, sprach aber
nie davon, bis sie von einer Kinderweihnachtsgesellschaft weggingen, wo er
bemerkte, daß des Geistes Haar schnell grau geworden war.
»Ist das Leben der Geister so kurz?« fragte Scrooge.
»Mein Leben ist sehr kurz auf dieser Erde«, sagte der
Geist, »es endet noch in dieser Nacht.«
»In dieser Nacht noch!« rief Scrooge.
»Heute um Mitternacht. Horch, die Zeit nahet schon.«
Die Glocke schlug drei Viertel auf zwölf
»Vergib mir, wenn ich nicht recht tue, zu fragen«,
sagte jetzt Scrooge, scharf auf des Geistes Gewand blickend, »aber ich sehe
etwas Seltsames unter deinem Mantel hervorblicken, was nicht zu dir zu gehören
scheint. Ist es ein Fuß oder eine Klaue?«
»Nach dem wenigen Fleisch, was darauf sitzt, könnte
es schon eine Klaue sein«, gab der Geist traurig zur Antwort, und fuhr fort:
»Sieh hier!«
Aus den weiten Falten seines Gewandes hervor
erschienen jetzt zwei Kinder, elend, abgemagert, häßlich und mitleiderregend.
Sie knieten vor dem Geiste nieder und hielten sich festgeklammert an dem Saum
seines Gewandes.
»O Mensch, sieh hier«, rief der Geist. »Sieh hier,
sieh hier!«
Es war ein Knabe und ein Mädchen. Fahlen Gesichtes,
elend, zerlumpt und mit wildem, tückischem Blicke; aber doch auch ängstlich und
gedrückt in ihrer Demut. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte
durchleuchten und mit ihren frischesten Farben kleiden sollen, hatte sie eine
runzlige, abgelebte Hand, gleich der des Alters, berührt und versehrt. Wo Engel
hätten thronen können, lauerten Teufel mit grimmigem, drohendem Blick. Keine
Veränderung, keine Entwürdigung der Menschheit in allen Geheimnissen der
Schöpfung hat so schreckliche und grauenerregende Ungeheuer aufzuweisen.
Entsetzt fuhr Scrooge zurück. Da sie ihm der Geist
auf solche Weise gezeigt hatte, versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder,
aber die Worte erstickten ihm von selber, um nicht teilzuhaben an einer so
ungeheuren Lüge.
»Geist, sind das deine Kinder?« Weiter konnte Scrooge
nichts sagen.
»Es sind des Menschen Kinder«, erwiderte der Geist,
auf sie herabschauend. »Und sie hängen sich an mich, vor mir ihre Väter anklagend.
Dieses Mädchen ist die Unwissenheit. Dieser Knabe ist der Mangel. Schau sie
beide wohl an, und vor allem diesen Knaben; denn auf seiner Stirn seh' ich
geschrieben, was Verhängnis ist, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet
es«, rief der Geist, seine Hand nach der Stadt ausstreckend.
»Verleumdet alle, die es Euch sagen! Gebt es zu um
Eurer Parteizwecke willen und macht es noch schlimmer! Und erwartet das Ende!«
»Haben sie keine Stütze, keinen Zufluchtsort?« rief
Scrooge.
»Gibt es keine Gefängnisse?« sagte der Geist, das
letztemal die eigenen Worte von Scrooge gegen ihn gebrauchend. »Gibt es keine
Armenhäuser?«
Die Glocke schlug zwölf.
Scrooge sah sich um nach dem Geiste, aber er war
verschwunden. Als der letzte Schlag verklungen war, erinnerte er sich an die
Vorhersagung des alten Jacob Marley und sah, die Augen erhebend, ein
grauenerregendes, tief verhülltes Gespenst auf sich zukommen, wie ein Nebel auf
dem Boden dahinzurollen pflegt.
|