Die Stunde fordert eine neue
Evangelisierung
34. Ganze Länder und Nationen, in denen früher Religion
und christliches Leben blühten und lebendige, glaubende Gemeinschaften zu
schaffen vermochten, machen nun harte Proben durch und werden zuweilen durch
die fortschreitende Verbreitung des Indifferentismus, Säkularismus und
Atheismus entscheidend geprägt. Es geht dabei vor allem um die Länder und
Nationen der sogenannten Ersten Welt, in der der Wohlstand und der Konsumismus,
wenn auch von Situationen furchtbarer Armut und Not begleitet, dazu inspirieren
und veranlassen, so zu leben, »als wenn es Gott nicht gäbe«. Die religiöse
Indifferenz und die fast inexistente religiöse Praxis, auch angesichts schwerer
Probleme der menschlichen Existenz, sind nicht weniger besorgniserregend und
zersetzend als der ausdrückliche Atheismus. Auch wenn der christliche Glaube in
einigen seiner traditionellen und ritualistischen Ausdrucksformen noch erhalten
ist, wird er mehr und mehr aus den bedeutsamsten Momenten des Lebens wie
Geburt, Leid und Tod ausgeschlossen. Daraus ergeben sich gewaltige Rätsel und
Fragestellungen, die unbeantwortet bleiben und den modernen Menschen vor
trostlose Enttäuschungen stellen oder in die Versuchung führen, das menschliche
Leben, das sie aufgibt, zu zerstören.
In anderen Gebieten und Ländern dagegen sind bis heute
die traditionelle christliche Volksfrömmigkeit und -religiosität lebendig
erhalten; dieses moralische und geistliche Erbe droht aber in der Konfrontation
mit komplexen Prozessen vor allem der Säkularisierung und der Verbreitung der
Sekten verlorenzugehen. Nur eine neue Evangelisierung kann die Vertiefung eines
reinen und festen Glaubens gewährleisten, der diese Traditionen zu einer Kraft
wahrer Befreiung zu machen vermag.
Es ist mit Sicherheit notwendig, überall die christliche
Substanz der menschlichen Gesellschaft zu erneuern. Voraussetzung dafür ist
aber die Erneuerung der christlichen Substanz der Gemeinden, die in
diesen Ländern und Nationen leben.
Aufgrund ihrer Teilhabe am prophetischen Amt Christi
werden die Laien ganz in diese Aufgabe der Kirche einbezogen. Ihnen kommt es in
besonderer Weise zu, Zeugnis zu geben vom christlichen Glauben als einzige und
wahre Antwort - die alle mehr oder weniger bewußt erkennen und nennen - auf die
Probleme und Hoffnungen, die das Leben heute für jeden Menschen und für jede
Gesellschaft einschließt. Dieses Zeugnis wird möglich, wenn es den Laien
gelingt, den Gegensatz zwischen dem Evangelium und dem eigenen Leben zu
überwinden und in ihrem täglichen Tun, in Familie, Arbeit und Gesellschaft eine
Lebenseinheit zu erreichen, die im Evangelium ihre Inspiration und die Kraft
zur vollen Verwirklichung findet.
Ich möchte heute erneut den leidenschaftlichen Anruf, mit
dem ich mein Hirtenamt begonnen habe, allen modernen Menschen entgegenrufen: »Habt
keine Angst! Öffnet, ja öffnet Christus weit die Türen! Öffnet die Grenzen
der Staaten, die Wirtschaftssysteme und die politischen Systeme, die Bereiche
der Kultur, der Zivilisation, der Entwicklung seiner heilbringenden Macht. Habt
keine Angst. Christus weiß, "was im Menschen ist". Er allein weiß es!
Der Mensch weiß heute oft nicht, was er in sich trägt im Tiefsten seiner Seele
und seines Herzens. Darum fühlt er sich oft unsicher über den Sinn seines
Lebens auf dieser Erde. Er wird von Zweifel erfüllt, die zur Verzweiflung
werden. Laßt darum Christus - ich bitte und flehe euch demütig und
vertrauensvoll an -, laßt ihn zu den Menschen sprechen.
Er allein hat Worte des Lebens, ja, des ewigen
Lebens«.(124)
Christus weit die Türen zu öffnen, ihn im Raum der eigenen
Menschlichkeit aufzunehmen, ist für den Menschen keine Bedrohung, sondern der
einzige Weg, der zur Erkenntnis des Menschen in seiner ganzen Wahrheit und zur
Anerkennung seiner Werte führt.
Den Laien ist es aufgegeben, eine lebensmäßige Synthese
zwischen dem Evangelium und den täglichen Pflichten ihres Lebens zu schaffen.
Diese wird zum leuchtendsten und überzeugendsten Zeugnis dafür, daß nicht die
Angst, sondern die Suche nach Christus und der Anschluß an ihn entscheidend
sind für das Leben und Wachsen des Menschen sowie für das Entstehen neuer
Lebensmodelle, die seiner Würde entsprechen.
Gott liebt den Menschen! Diese einfache und erschütternde Verkündigung ist die Kirche dem Menschen
schuldig. Das Wort und das Leben eines jeden Christen kann und muß diese
Botschaft zum Klingen bringen: Gott liebt dich, Christus ist für dich gekommen,
Christus ist für dich »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6)!
Diese neue Evangelisierung, die sich nicht nur an die
einzelnen, sondern an ganze Teile der Bevölkerung in ihren jeweiligen
Situationen, Milieus und Kulturen richtet, hat das Werden von reifen
Gemeinden zum Ziel. In ihnen kann der Glaube seine volle ursprüngliche
Bedeutung als persönliche Selbstübereignung an Christus und sein Evangelium,
als sakramentale Begegnung und Gemeinschaft mit ihm, als in der Liebe und im
Dienst verwirklichte Existenz zum Ausdruck bringen und verwirklichen.
Die Laien müssen beim Entstehen solcher Gemeinden ihren
Beitrag einbringen. Sie tun es nicht nur durch ihre aktive und verantwortliche
Teilnahme am Leben der Gemeinde und somit durch ihr unersetzliches Zeugnis,
sondern auch mit ihrem missionarischen Eifer und Engagement denen gegenüber,
die noch nicht glauben, oder die den Glauben, den sie in der Taufe empfangen
haben, nicht mehr leben.
Den jüngeren Generationen sollen die Laien eine
systematische Katechese als wertvolle und immer notwendigere Hilfe
schenken. Die Synodenväter haben mit großer Dankbarkeit auf die Arbeit der
Katecheten geschaut und anerkannt, daß ihnen »eine sehr bedeutende Aufgabe bei
der Leitung der Gemeinden« zukommt.(125) Gewiß sind die christlichen Eltern,
weil das Ehesakrament sie dazu befähigt, die ersten und unersetzlichen
Katecheten ihrer Kinder. Wir müssen uns aber bewußt sein, daß jeder Getaufte
das »Recht« hat, im christlichen Glauben und im christlichen Leben
unterrichtet, erzogen und geführt zu werden.
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