Ehrfurcht vor dem unantastbaren
Recht auf das Leben
38. Die effektive Anerkennung der Personwürde eines jeden
Menschen erfordert die Verteidigung und die Förderung der Menschenrechte
sowie die Ehrfurcht vor ihnen. Diese sind Naturrechte, Universalrechte,
unantastbare Rechte: Niemand, nicht der einzelne, nicht die Gruppe, nicht die
Autorität und nicht der Staat kann sie verändern oder aufheben, weil sie von
Gott selbst kommen.
Die Unantastbarkeit der Person, die Widerschein der
absoluten Unantastbarkeit Gottes selbst ist, findet ihren ersten und
fundamentalsten Ausdruck in der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Wenn
das Recht auf das Leben nicht als erstes und fundamentales Recht mit
größter Entschiedenheit als Bedingung für alle anderen Rechte der Person
verteidigt wird, bleibt auch das berechtigte, wiederholte Hinweisen auf die
Menschenrechte - auf das Recht auf Gesundheit, Wohnung, Arbeit, Gründung einer
Familie, Kultur usw. - trügerisch und illusorisch.
Angesichts aller Verletzungen, die dem jedem Menschen
zustehenden Recht auf das Leben, seies durch einzelne oder durch die Autorität
selbst zugefügt werden, hat die Kirche nie resigniert. Jeder Mensch ist in
allen Phasen seiner Entwicklung, von der Empfängnis bis zum natürlichen
Tod, Träger dieses Rechtes; er bleibt es in jeder Situation: Gesundheit
oder Krankheit, Vollkommenheit oder Behinderung, Reichtum oder Armut. Das II.
Vatikanische Konzil erklärt ausdrücklich: »Was ferner zum Leben selbst in
Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch
der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen
Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der
Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift,
wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung,
Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch
unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel
und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und
andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung
der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als
jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchsten Maße ein Widerspruch gegen
die Ehre des Schöpfers«.(137)
Die Sendung und Verantwortung für die Anerkennung
der Personwürde jedes Menschen und für die Verteidigung des Rechtes auf das
Leben sind jedem übergeben. Einige Laien sind aber aufgrund ihrer spezifischen
Eigenschaft in besonderer Weise dazu berufen: Eltern, Erzieher, im Gesundheitswesen
Arbeitende und Träger der wirtschaftlichen und politischen Macht.
In der liebevollen und hochherzigen Annahme jeden
menschlichen Lebens, vor allem des schwachen oder kranken, erlebt die Kirche
heute ein besonders entscheidendes Moment ihrer Sendung, die um so notwendiger
ist, als eine »Kultur des Todes« mehr und mehr beherrschend wird. »Aber die
Kirche ist fest überzeugt, daß das menschliche Leben, auch das schwache und
leidende, immer ein herrliches Geschenk der göttlichen Güte ist. Gegen Pessimismus
und Egoismus, die die Welt verdunkeln, steht die Kirche auf der Seite des
Lebens; in jedem menschlichen Leben weiß sie den Glanz jenes »Ja«, jenes »Amen«
zu entdecken, das Christus selbst ist (vgl. 1 Kor 2, 19; Apk 3,
14). Dem »Nein«, das in die Welt einbricht und einwirkt, setzt sie dieses
lebendige »Ja« entgegen, und verteidigt so den Menschen und die Welt vor denen,
die das Leben bekämpfen und ersticken«.(138) Den Laien, die aufgrund ihrer
Berufung oder ihres Berufes unmittelbarer mit der Bejahung des Lebens
konfrontiert werden, kommt es zu, das »Ja« der Kirche zum menschlichen Leben
konkret und wirksam zu machen.
Neue Möglichkeiten und Verantwortungen, die bis an die
Grenzen des menschlichen Lebens gehen, haben sich heute durch die enorme
Entwicklung der biologischen und medizinischen Wissenschaften und der
überraschenden technologischen Möglichkeiten eröffnet: Der Mensch ist
heute in der Lage, das menschliche Leben in seinem Anfang und in den ersten
Stadien seiner Entwicklung nicht nur zu »beobachten«, sondern auch zu
»manipulieren«.
Das moralische Gewissen der Menschheit kann weder
indifferent noch unberührt bleiben von den riesigen Schritten einer technischen
Macht, die eine immer umfassendere und tiefergehende Herrschaft über die
Prozesse der Fortpflanzung und der ersten Phasen des menschlichen Lebens
gewinnt . Vielleicht erweist sich die Weisheit gerade auf diesem Gebiet
mehr den je als einziger rettender Anker, der den Menschen in der
wissenschaftlichen und in der experimentellen Forschung dazu veranlaßt, mit
Intelligenz und Liebe zu handeln, das heißt in der Ehrfurcht, besser noch in
der Verehrung der unantastbaren Personwürde eines jeden Menschen vom ersten
Augenblick seiner Existenz an. Das ist dann der Fall, wenn Wissenschaft und
Technik sich mit legitimen Mitteln für die Verteidigung des Lebens und die
Heilung der Krankheit vom ersten Augenblick an einsetzen und - aufgrund der
Würde der Forschung selbst - Eingriffe verweigern, die den genetischen Bestand
des einzelnen und des menschlichen Geschlechtes verändern.(139)
Die Laien, die in verschiedenen Eigenschaften und auf
verschiedenen Ebenen in der Wissenschaft und in der Technik sowie im
medizinischen, sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Bereich arbeiten, müssen
sich mutig den »Herausforderungen«, die sich aus den neuen Problemen der
Bioethik ergeben, stellen. Wie die Synodenväter sagten, »müssen die
Christen ihre Verantwortung als Herren der Wissenschaft und der Technologie und
nicht als ihre Sklaven ausüben ... In der Perspektive der moralischen
»Herausforderungen«, die sich aus der neuen und immensen technologischen Macht
ergeben werden, und die nicht nur die Grundrechte des Menschen, sondern auch
die biologische Existenz des Menschengeschlechtes selbst bedrohen, ist es
überaus wichtig, daß die christlichen Laien - mit Hilfe der gesamten Kirche -
sich dafür verantwortlich halten, die Kultur zurückzuführen auf die Prinzipien
eines wahren Humanismus, damit die Förderung und die Verteidigung der
Menschenrechte in ihrem eigenen Wesen einen sicheren und dynamischen Grund
finden, in dem Wesen, das die Verkündigung des Evangeliums den Menschen
geoffenbart hat«.(140)
Die Wachsamkeit aller angesichts der Zusammenballung der
Macht, inbesondere der technologischen Macht, ist heute dringend notwendig.
Denn diese tendiert dazu, nicht nur die biologische Natur, sondern auch die
Inhalte des menschlichen Gewissens selbst und die Lebensentwürfe der Menschen
zu manipulieren und so die Diskriminierung und Marginalisierung ganzer Völker
zu vergrößern.
|