Der Mensch: erniedrigte und
erhöhte Würde
5. Denken wir darüber hinaus an die vielen Verletzungen,
denen der Mensch heute ausgesetzt ist. Immer dann, wenn er in seiner
Würde als lebendiges Abbild Gottes (vgl. Gen 1, 26) nicht
anerkannt und geliebt wird, ist der Mensch den verdemütigendsten und
absurdesten Formen des Mißbrauchs, die ihn erbarmungslos zum Sklaven des
Stärkeren machen, ausgeliefert. Dieses Stärkere kann verschiedene Namen tragen:
Ideologie, wirtschaftliche Macht, unmenschliche politische Systeme,
wissenschaftliche Technokratie, Überflutung durch die Massenmedien. Hier stehen
wir wieder vor Scharen unserer Brüder und Schwestern, deren Grundrechte auch
wegen einer übertriebenen Toleranz und sogar offenkundigen Ungerechtigkeit gewisser
bürgerlicher Gesetzgebungen verletzt werden: Das Recht auf Leben und dessen
Unantastbarkeit, das Recht auf Wohnung und Arbeit, das Recht auf die Gründung
einer Familie und auf verantwortliche Elternschaft, das Recht auf Teilnahme am
öffentlichen und politischen Leben, das Recht auf Gewissensfreiheit und freies
Bekenntnis des Glaubens.
Wer kann die Zahl der Kinder nennen, die nicht geboren
wurden, weil man sie im Schoß ihrer Mütter getötet hat, der von ihren Eltern
verlassenen und mißhandelten Kinder, der Kinder, die ohne Liebe und Erziehung
aufwachsen? In einigen Ländern müssen ganze Völker auf Wohnung und Arbeit
verzichten. Sie verfügen auch nicht über die erforderlichen Mittel, um ein
menschenwürdiges Leben führen zu können und nicht einmal das Unentbehrliche und
Lebensnotwendige wird ihnen zugestanden. In schrecklichen Ausmaßen haben
materielle und moralische Elends- und Armutserscheinungen in den
Stadtrandgebieten der großen Metropolen Hausrecht gewonnen und ganze
Menschengruppen werden tödlich von ihnen getroffen.
Mag die Sakralität der Person aber noch zu oft
verachtet und verletzt werden, vernichten kann man sie nicht. Ihr
unzerstörbares Fundament gründet in Gott, dem Schöpfer und Vater, darum wird
die Sakralität der Person sich immer wieder aufs neue behaupten.
Aus diesem Grund erfaßt eine größere Sensibilität für
die Personwürde eines jeden Menschen immer weitere Kreise. Wie ein
befreiender Strom durchzieht nunmehr das Bewußtsein der Würde der Menchen alle
Völker: Der Mensch ist keine »Sache« und kein »Objekt«, das benutzt werden
kann, sondern immer und allein »Subjekt«, dem Gewissen und Freiheit zu eigen
ist, der dazu berufen ist, in der Gesellschaft und in der Geschichte
verantwortlich zu leben und sich nach den geistigen und religiösen Werten auszurichten.
Es wurde behauptet, unsere Zeit sei eine Zeit der
»Humanismen«. Einige von ihnen, die atheistischer und säkularistischer Prägung
sind, führen letztlich zum Paradox der Verdemütigung und Vernichtung des
Menschen; andere Humanismen wiederum verherrlichen ihn bis hin zur wahren
Idolatrie; wieder andere erkennen schließlich der Wahrheit entsprechend die
Größe und das Elend des Menschen an, und sie bekennen, unterstützen und fördern
seine volle Würde.
Zeichen und Frucht dieser humanistischen Strömungen ist
das wachsende Bedürfnis nach Teilhabe. Dieses ist ohne Zweifel eines der
Kennzeichen der heutigen Menscheit, ein wahres »Zeichen der Zeit«, das auf
verschiedenen Gebieten und in verschiedene Richtungen reift: vorallem unter den
Frauen und Jugendlichen, und das nicht nur in Richtung des Familien- und
Schulwesens, sondern auch im kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und
politischen Bereich. Das Bedürfnis, Protagonisten und in gewissem Sinn Schöpfer
einer neuen humanistischen Kultur zu sein, wird sowohl auf individueller wie
auf universaler Basis beobachtet.(10)
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