Der Bericht über die letzten Tage des Meisters ist das dritte Stück im
zweiten Bande der Längeren Sammlung der Reden Gotamo Buddhos. Durch
wohlerfahrene Jünger sorgsam überliefert führt er uns alsbald in jene große
klassische Zeit zurück. In schlichten Zügen erstehen die Orte, Personen,
Geschehnisse wieder vor unserem Blicke, so anschaulich und echt, wie sie nur
der Augen- und Ohrenzeuge darstellen konnte. Da empfängt man denn oft den
Eindruck, als ob man sich unmittelbar in einer gewaltigen Gegenwart fände, weil
unserem Sinn und Verstand doch noch gar manches Bedeutende und Schöne naheliegt,
uns menschlich verwandt sogleich anspricht, fremdartig, herb und seltsam auch
sonst die Umrisse der Orte, die Sitten der Zeiten, das Betragen der Personen,
der Verlauf der Ereignisse in der längst entschwundenen, uns sehr fernen
Vergangenheit vom Alltäglichgewohnten abweichen.
Der hohe Wert dieser Urkunde war in Indien verhältnismäßig früh erkannt. Es
müssen wohl die Begebenheiten der letzten Tage des Meisters auch den weiteren
Volkskreisen vertraut geworden sein. Denn es sind uns auf den noch vorhandenen
Resten der Bauten und Steindenkmale der folgenden Zeiten die einzelnen Szenen
des abschließenden Lebens in ungemein zahlreichen Bildern erhalten, auf den
unendlich vielen, freilich meist minderwertigen, zuweilen aber in
künstlerischer Vollendung ausgeführten Skulpturen jener verschütteten Ruinen,
mit denen von Afghanistan an nach Süden und nach Osten das indische Festland
weithin übersät ist, oft alsogleich sichtbar, öfter noch in geringerer oder
tieferer Erd- und Geröllschicht verborgen. Während diese Kunst nun auf
indischem Boden längst in Trümmer versunken und verschollen war, sind die
Anhänger und Verbreiter des Ordens über die Grenzen nach Hochasien und Tibet
bis nach China vorgedrungen. Überall dort ist dann das große Erbe freudig
angetreten und landestümlich verwertet und ausgestaltet worden. Schon die
äußeren, grob sichtbaren Umstände zeigen also an, wie weit die Wirkung unserer
alten Urkunde sich erstreckt hat.
Daraus ergibt sich schon hier, daß man bestrebt gewesen sein mußte, den Text
an sich richtig weiter zu überliefern: ein Unternehmen, das bei fremden zwar
recht kultivierten, doch nach indischem Maße barbarischen Völkern fast
unübersteiglichen Schwierigkeiten und Hindernissen begegnete. Ein beispielloser
Erfolg aber krönte das Wagnis. Csoma Körösi hat uns von dieser mächtigen
Wendung der Ereignisse, und wie die Erben des Sakyers nach und nach den halben
Erdkreis eroberten, einen sehr guten Bericht aus der Einleitung zur
hundertbändigen Ausgabe des Káh-gyur erstattet, der ebenso knapp als zutreffend
besagt: die Lehre sei von Indien allmählich überallhin in die Runde
ausgegangen, in das Sanskrit, Tibetische, Chinesische, weiter sodann in noch
manche gangbare 'Desi' oder dialektische Mundart und «allerhand Sprachen der
Mlecchás» übertragen und als Ganzes je einzeln bewahrt worden. Und so ist es
ohne Zweifel geschehen. Vorzüglich sind es die tibetischen und chinesischen
Forscher und Übersetzer gewesen, die da in Gemeinschaft mit den indischen
Sendboten in kurzer Zeit ihren Ländern einen buddhistischen Kanon geschaffen
und eine unermeßliche Fülle neuen geistigen Reichtums sich erworben haben. Dies
konnte, nördlich vom Ganges, nur insofern gelingen, als die Inder mit den
vollendeten Werkzeugen ihrer Sprache und Kultur das fremde, rotwelsche Wortgut
erst wie eine Glockenspeise einschmolzen, um es sodann in herrlich neu
funkelnden Gebilden wiedererstehen zu lassen. Bei diesen so zustande gebrachten
Schöpfungen mußte, ach, vieles wohl oder übel eine Färbung nach der Landesart
annehmen, mochten Gehalt und Gestalt auch ehrlich indisch bleiben; die
eigenartig glitzernden Griffe und Henkel der bodenständigen Kultur und ihrer
Sagen durften nicht fehlen, um dem Volke zunächst als Handhabe dienen zu
können.
Von solchen fremdartigen Stoffen und Zutaten ist nun unser im Süden, von
Magadhá her, gar treu überlieferte Text ziemlich frei. Die Geschichte seiner
Entstehung ist sehr einfach. Nach dem Tode des Meisters haben die Jünger auch
noch die letzten Reden und Ereignisse nach altbewährter vedischer Methode ihrem
Gedächtnisse fugenartig eingeprägt, wie sie ja schon vorher die Meisterreden
ganz ebenso von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr rein bewahrt und erhalten
hatten, indem bei den regelmäßigen Zusammenkünften vor und nach der Regenzeit,
und wo sich außerdem wandernde Jünger aus den vier Weltgegenden trafen, eben
immer ein jeder berichtete, was er selbst auf seiner mehr oder minder längeren
Wanderschaft mit dem Meister von Angesicht gehört, von Angesicht vernommen
hatte. Daher beginnt eine jede der uns also überlieferten Reden mit den Worten:
Das hab' ich gehört, wobei der Nachdruck auf dem Ich liegt: andere haben das
gehört, ich habe das gehört. Auf diese Weise ist die umfassende Sammlung der
Reden Gotamo Buddhos nach und nach zustande gekommen, unverkennbar echt
gezeichnet mit dem Stempel seines Geistes. Wesentlich erleichtert wurde diese
Art der Überlieferung durch das Mittel des damals eben kulminierenden Pali, der
beliebten Umgangssprache, die, den unerschöpflichen Gehalt, Reichtum und
Wohlklang des Sanskrit noch um neue jugendkräftige Ausdrucksmöglichkeiten
vermehrend, zu einer klaren lebendigen Quelle täglicher Mitteilung geworden
war: einer wunderbar reinen lingua franca, die sich an Feinheit der Form am
besten dem Toskaner Dialekt des Trecento im Verhältnis zum Latein vergleichen
läßt.
Nachdem Gotamo selbst, mit seinen Jüngern ein halbes Jahrhundert hindurch in
ganz Mittelindien immer von Ort zu Ort wandernd, nur während der drei Monate
der Regenzeit seßhaft und einsam zurückgezogen, allenthalben schon als der
beste Künder und Verkünder erschienen war, pflegten nun die Mönche nach dem
Verscheiden des Meisters bald noch in weitere Fernen hinauszuziehen. Sie waren
ja Bürger der vier Weltgegenden, wie der beschwingte Vogel nur mit der Last
seiner Federn dahin fliegt, hatten sie nur mit Gewand und Almosenschale
beschwert weiterzupilgern. So wirkten sie geistiges Werk durch Beispiel und
Wort. Aber nach Jahren und Jahrzehnten, nach einem Jahrhundert und darüber
begann die lebendig fließende Sprache allmählich zu vertrocknen, auch sie
natürlich wie alles dem Wandel und Verfall unterworfen. Da hatten denn die
Nachfolger von nun an Silbe um Silbe, Wort um Wort der Satzung in erstarrter
Gestalt, in der absterbenden und endlich toten Sprache weiterzuüberliefern. So
mußte freilich in Indien wie außerhalb Indiens der ursprünglich rein asketische
Orden mehr und mehr in gelehrte Schulen ausarten. Gerade diesem Umstande
verdanken wir aber den erstaunlich getreu erhaltenen alten Text, der alsbald
auf Stein, Metall, Holz, zumeist aber auf Palmblattkarton dauernd fixiert
wurde.
Während in den folgenden Jahrhunderten wilde Barbarenstürme über Indien
dahinfegten, die erst mit der englischen Herrschaft völlig beschwichtigt
wurden, Stürme, die fast die ganze alte Kultur wie Spreu durcheinanderwirbelten,
hatten jene alten Páli-Texte im Süden und Osten einen sicheren Hort gefunden.
Bei den fremden Völkerschaften in Zeilon, Burma und Siam herzlich willkommen
geheißen, haben die indischen, nunmehr hochgelehrten Sendboten einheimische Meister
herangebildet und Musterschulen philologischer Forschung geschaffen, unseren
Text von Generation zu Generation schlechthin automatisch übertragen: eine
Kunst und Arbeit, bei der jene Doktoren außerhalb Indiens peinlich saubere
Selbstzucht und Selbstverleugnung bewähren mußten, wenn das feinste
Filigrangewebe vergangener Jahrhunderte überhaupt noch Bestand haben konnte.
Um die Reden herum hatte sich im Laufe der Zeiten schon von Indien her ein
mythischer Rahmen, ein Sagenkreis gebildet, dessen Stäbe und Klammern aus der
vedischen Kultur herstammten. Waren auch die Reden selbst unverziert und
unausgeschmückt überliefert worden, der Rahmen mußte eine derbere Handhabe
bieten, mußte auf viele Generationen vorhalten. Diesem technisch-ökonomischen
Zwecke kamen nun die Anschauungen und Sagen der großen heroischen Vorzeit
trefflich zustatten. Schon Gotamo hatte ja gelegentlich auf die Ansichten und
Vorstellungen der vedischen Seher gern Bezug genommen, an sie angeknüpft, davon
ausgehend seine eigene Anschauung entwickelt. Die Ordner der Texte haben nun
den Kranz und Rahmen jeweilen entsprechend verwertet, meist mit glücklichem
Gelingen, dem Geiste der Darstellung angemessen. Selten nur kommt es vor, daß
ein Riß oder eine Schramme hemmt oder stört. Dieser äußeren Fassung darf
natürlich keine überragende Wichtigkeit zuerkannt werden. Die Botschaft und
Person Gotamos kann aus dem Kreise und Rahmen der Sagen wohl verklärt
angedeutet, aber nie richtig erschlossen werden. So nennt sich beiläufig einmal
Gotamo zum Sonnenstamme gehörig: und in der Tat hatte das fürstliche Geschlecht
der Sakyer unter manchen anderen Beinamen auch diesen, nämlich: sonnenverwandt,
ein Titel, der den Sakyern als gerühmten Abkommen der Okkákiden und Raghuiden
mit anderen Herrscherstämmen gemeinsam zukam und der in die vedische Urzeit
hinaufreicht. Einer solchen Angabe aber etwa entnehmen wollen, Gotamo selbst
habe nie gelebt, er sei ein Symbol der Sonne usw., ist genau so zutreffend wie
der Nachweis jenes witzigen Franzosen, daß Napoleon nie gelebt habe, ein
Anagramm oder Kryptogramm für Apollon sei, von Leto, das ist Letizia geboren,
zwölf Marschälle gehabt habe, das sind die zwölf Zeichen des Tierkreises, mit
dem Namen Buonaparte natürlich den guten Teil, das Reich des Lichts
personifizieren sollte usw. Wie das nun bei diesem Welteroberer alles
überraschend gut zutrifft, treffen auch bei unserem Welterleuchter ganz analoge
Angaben prächtig zu, bis herab zu dem von einem holländischen Astrophilologen
genau berechneten Horoskop, daß Gotamos Sohn Rahulo nicht etwa im Hinblick auf
den Ahnherrn Raghus so genannt wurde, vielmehr das Produkt von Sonne und Erde,
das ist eine Mondesfinsternis war: gleichwie Napoleons Sohn als Horos, das
Produkt von Isis und Osiris, ausgerechnet wurde. Es läßt sich in dergleichen
Dingen, wenn man will und sie nur etwas geistvoll behandelt, eine gewisse
prästabilierte Harmonie eines Gewaltigen mit der Natur entdecken: aber der
nüchterne Forscher, versteht sich, kann von solchen Zügen nicht irregeleitet
werden.
Nach Europa ist ein einigermaßen verläßlicher Bericht über die Grundgedanken
Gotamos zuerst durch Spence Hardy gedrungen. Dieser Mann war ein tüchtiger
wesleyanischer Missionar, seit 1825 auf Zeilon, der nach zwanzigjährigem
täglichem Umgang mit sinhalesischen Priestern uns die erste eigentliche
Bekanntschaft mit dem Buddhismus vermittelt hat. Ohne Kenntnis des Pali, nur
aus den volkstümlichen Quellen schöpfend, konnte er gleichwohl drei
vortrefflich unterrichtende Werke herausgeben, von denen das erste, der 1850 in
London erschienene Band Eastern Monachism mit einer lebendigen, unmittelbar
anschaulichen und zugleich tiefwurzelnden Darstellung bleibenden Wert hat.
Nebenbei sei hier bemerkt, daß Schopenhauer, wenige Jahre vor seinem Tode, die
Bedeutung solcher Quellen natürlich sofort erkannt hatte: es war ja das Beste
gewesen was er, schon am Ende seiner Laufbahn, von jenen Lehren je hatte
erfahren können. Denn was vor Spence Hardy bekannt geworden war, mochte
immerhin gar viel des Guten bieten, zumal in den Veröffentlichungen des
feinsinnigen Burnouf, und zwei Jahrzehnte früher in den Abhandlungen des
Petersburger Akademikers Isaak Jakob Schmidt, deren Forschungen vorwiegend der
späten nördlichen Tradion nachzuschürfen hatten: aber der antike Torso war vor
lauter groteskem Schutt und Geröll kaum wahrzunehmen. Tiefer schauende Geister
konnten freilich auch hier mit ihrem Scharfblicke durchdringen und die edlen
Umrisse schon deutlich sehn. Aus eben diesen letzteren Arbeiten und dem
verwandten Buche Köppens hatte sich um 1858 Richard Wagner eine bewundernswerte
Kenntnis erworben «Ja», sagte er, damals noch unverhutzelt, zur Wesendonk, «das
ist eine Weltansicht, gegen die wohl jedes andere Dogma klein und borniert
erscheinen muß! Der Philosoph mit seinem weitesten Denken, der Naturforscher
mit seinen ausgedehntesten Resultaten, der Künstler mit seinen
ausschweifendsten Phantasien, der Mensch - mit dem weitesten Herzen für alles
Atmende und Leidende, finden in ihm, diesem wunderbaren, ganz unvergleichlichen
Weltmythos alle die unbeengteste Statt.» Und zwar schrieb er dies, nachdem er
nicht lange vorher bekannt hatte, wie unerquicklich und widerwärtig es ihm
geworden war, sich durch den ganzen breiten Wust ungeschlachter Darstellungen
und Fratzen hindurchzuarbeiten: «Den Cakya-Sohn, den Buddha, mir rein zu
erhalten, ist mir, trotz der chinesischen Karikatur, aber doch gelungen»,
spricht er dann Schluß naiv aus. - Jene Zerrbilder zu bevorzugen ist neuerlich
gelehrte Mode geworden: aber das ist eine Welle, die bald vorüber sein wird.
In fremden Ländern, bei monogolischen Stämmen und bei den näher benachbarten
dravidischen und indonesischen Völkerschaften, den árischen Typus rein zu
bewahren war allerdings schwer, sehr schwer. Es ist eben auch nur der schier
übermenschlichen Mühe jener alten Gilde von Wortbehütern verdanken, daß die
sprechenden Urkunden, vornehmlich im Süden, heute noch unverkümmert bestehen.
Zeilon hat diesen Schatz emsig gehegt, emsiger noch Burma und Siam. Die Ausgabe
des buddhistischen Kanons, die unter der Regierung des kürzlich verstorbenen
Königs Culálankarn 1894 vollendet wurde, erweist sich bei kritischer
Vergleichung und Prüfung immer mehr und mehr als jene Urquelle der
Überlieferung, aus welcher der wohlausgerüstete europäische Philologe sein
Wissen und Verständnis zu schöpfen hat. Die Lesarten dieser siamesischen
Ausgabe bewähren sich nach Anlegung aller kritischen Sonden, nach Verwertung
des komplizierten archäologischen Apparats in der Regel durchgängig als der
besser bestätigte, ja zuweilen, durch epigraphisches Material gestützt, als der
sichere klassische Text, Silbe für Silbe, Satz um Satz. Jeder Vergleich, wo
immer man ansetzen mag, zeigt dies sehr bald; so insbesondere auch hier, bei
unserem Text, im Großen Verhör über die Erlöschung. So hoch verdienstvoll auch
seiner Zeit die erste europäische Textausgabe war, die der unvergeßliche
Childers auf Grundlage der sinhalesischen Handschriften vor etwa vierzig Jahren
musterhaft vorbereitet und zustande gebracht hat, kann man dieselbe, von
späteren zu geschweigen, heute ebensowenig mehr ernstlich benützen, als wie
etwa eine aldinische Homer-Ausgabe: ein so großes, ein so ungeheures Stück
Weges haben uns die Wortbewahrer und Wortbehüter am Gestade des Menam
vorwärtsgebracht.
An neueren Übersetzungen unseres Textes hat es bisher keineswegs gemangelt.
Bruchstücke davon gibt Oldenberg, «Buddha», 5. Auflage Stuttgart 1906, Pischel,
«Leben und Lehre des Buddha», Leipzig 1906, Windisch in der Studie «Mára und
Buddha», Leipzig 1895, Warren in der Sammlung «Buddhism in Translations»,
Cambridge, Mass., 1896, ferner hat Kern das ganze Stück im «Buddhismus»,
Leipzig 1882-1884, mehr oder weniger vollständig bearbeitet, viel genauer und
sorgfältiger für seine Zeit aber Turnour vor schon über siebzig Jahren im
Journal of the Asiatic Society of Bengal, Kalkutta 1838, und neuerdings hat
noch Fleet im Journal of the Royal Asiatic Society, London 1906-1909 das letzte
Kapitel ungemein eingehend untersucht, behandelt und zumeist übersetzt. Als
erster Versuch einer unverkürzten Wiedergabe ist die Arbeit von Rhys Davids zu
nennen, «The Book of the Great Decease», Sacred Books of the East vol. XI
Oxford 1881, jetzt im Verein mit Mrs. Rhys Davids wiederum erschienen in den
«Dialogues of the Buddha», Part II, London 1910. Endlich ist noch anzuführen
Dutoit, «Das Leben des Buddha», Leipzig 1906, und Samarasekera mit seiner
«Singhalese Translation», Buddhist Pali Texts, Kolombo 2448 (= 1905), zwei
Übersetzer, die ebenso wie die beiden Rhys Davids schon das Ganze befassen.
Alle diese sehr schätzenswerten Arbeiten haben freilich das wichtige, reiche
archäologische Material gar nicht benutzt, in keiner Weise zum philologischen
Verständnisse herangezogen, beruhen ausschließlich auf dem sinhalesischen Text
und auf seinen Kommentaren. Diese letzteren nun, statt das Verständnis zu
fördern, lenken weit davon ab, auf ödes versandetes Gebiet, wo nur mehr das
Unkraut des verkrüppelten Wortkrams üppig gedeiht. Nach längerem Studium der
Kommentare an Ort und Stelle in freundlichem Verkehr mit den gelehrten Mönchen
der Insel habe ich mich bereits vor Jahren von dieser betrübenden Tatsache
überzeugen lassen und mit ihr abfinden müssen. Aus solchen Kommentaren einer
tausend und mehr Jahre späteren Zeit ist gewiß allerhand Vortreffliches zu
lernen, nur kein Einblick in die alten Urkunden. Diese müssen in sich selbst
zur Sprache gebracht werden, und zwar durch eine vollkommen umfassende, Wort um
Vort abwägende und vergleichende Analyse, der die Synthese zu folgen hat;
zugleich aber müssen die Quellen der vereinigten indischen Philologie und
Altertumskunde unversieglich fließen, zur richtigen Wiederbelebung verwendet
werden, aus den Schachten und Vorräten der einzelnen Disziplinen: sonst bleibt
es bei dürrer verstaubter Scholastik. Unser Text ist ja ein organischer Teil
der Gesamtkultur Indiens: nach allen Richtungen laufen die Röhren, Adern,
Äderchen, Netzenden aus, die das Kleinste und Feinste wie auch das Grobe und
Große miteinander im Zusammenhange halten. Was wir brauchen ist also ein
verläßlicher Atlas, oder besser ein, so zu sagen, anatomischer und
physiologischer Kommentar. Und der kann gewiß nicht aus einem isolierten Text,
oder aus einer Textgruppe, nicht einmal aus dem ganzen Kanon und seinen
Kommentaren und Superkommentaren zusammengestellt werden; der kann nur mit
Geduld, Fleiß und Ausdauer, bei großer Muße und immer zunehmender Fach- und
Sachkenntnis auch jenseits der grünen Lampe, durch vereinte Kräfte vielleicht
einmal geschaffen werden.
Wien, 1. März 1911. K.E.N.
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