Die Lieder der Mönche und Nonnen Gotamo Buddhos gehören
dem Pali-Kanon an. Sie sind der dritten, der sogenannten Kürzeren Sammlung,
Khuddakanikáyo, einverleibt worden, jenem Schriftenkomplex, der im Gegensatze
zu den anderen vier großen Sammlungen vorwiegend rein metrische Texte enthält.
Auch von den Liedern sind uns nur Bruchstücke überkommen, einzelne Strophen,
welche der Meister oder hervorragende Jünger einst, geeigneten Ortes, gesagt
haben. Diese Aussprüche, die schon bei Lebzeiten Gotamos gesammelt und
sorgfältig aufbewahrt und bald nach seinem Tode nüchtern fixiert wurden, sind
von den Ordnern der Texte nach einem beliebten äußeren Schema hier
zusammengestellt, nämlich als Einser-Bruchstück, Zweier-Bruchstück, Ekanipáto,
Dukanipáto, und so fort, nach Anzahl der jeweiligen Strophen. Wenn also zwar eine
kleinere oder größere Reihe von Strophen zusammenhängt und zusammengehört, so
haben die Lieder, die metrischen Texte überhaupt, im allgemeinen einen echt
rhapsodischen Charakter und sind weit davon entfernt abgerundete Darstellungen
zu liefern, welche den anderen Sammlungen, besonders dem Majjhimanikáyo,
vorzüglich eignen.
So treu die Überlieferung des Textes ist, bietet
sie doch, wie das bei einer anfangs nur mündlich gepflegten Tradition nicht
anders sein kann, gelegentlich Varianten. Freilich sind diese zumeist, als
Solöcismen und dergl., recht untergegordneter Art, obwohl nicht immer. Gerade
in den Liedern finden sich manche der schönsten Belege, des klassischen Páli
zerstreut in den verschiedenen Codices vor. Die neueren Redaktoren unseres
Textes wählten nun, sehr begreiflich, jene Lesarten, die ihnen am
verständlichsten schienen, wobei die Frage offensteht, ob es auch die
richtigeren, besseren, älteren gewesen: die abweichenden verzeichneten sie dann
im Kommentar; oder aber andere Diaskeuasten und Scholiasten nahmen sie in ihre
Handschriften auf. Nur eine, jetzt erst durchführbare, möglichst vollsständige
Vergleichung der Parallelen und Parathesen kann den Wert bedenklicher
Pleographien für uns bestimmen. Ihn habe ich bei der Textgestaltung, die meiner
Übersetzung zugrunde liegt, zu finden gesucht. Manche von Oldenberg und Pischel
in ihrer vortrefflichen Textausgabe von 1883 gemiedene Variante ist
aufgenommen, manche vice versa vertauscht, zuweilen kombiniert, je nach Maßgabe
der mir besser dünkenden Lesarten und der besten Zeugnisse. Natürlich wurde
hierbei auch der Kommentar Dhammapálos gebührend gewürdigt, jener letzte
Behelf, der, ein Jahrtausend jünger als der Text, nur mit äußerster Skepsis
benützt werden darf. Wichtigere kritische Ergebnisse sind in den Anmerkungen
kenntlich gemacht; Nebensächliches wird der Forscher leicht selbst bemerken.
Die Form der Lieder ist reich und mannigfaltig;
und zwar sind alle die ursprünglichen, aus dem Volke und seinen Barden
hervorgegangenen, nicht die künstlich geschaffenen, Versmaße vertreten. Ein
Merkmal ist ihnen samt und sonders eigen: der Anuprásas, d. i. der
Stabreim. Dieser Stabreim ist nicht weniger mächtig als bei den Griechen, oft
noch stärker und elementarer geartet. Er läßt sich auch wohl dem altnordischen
Bruder vergleichen ist aber, bei aller Wucht des Ausdrucks, wesentlich
bildsamer: er zeigt Kraft und Anmut in innigster Verbindung, ist beiden
entsprossen, als neues Produkt. So stellt er, um den Tropus beizubehalten, eine
völlig einzige Mischung herber Unbeugsamkeit und feiner Geschmeidigkeit dar;
was eben ganz den Anlagen des indischen Áryers entspricht. Dies alles wird
selbstverständlich durch eine Übersetzung - und wäre sie gleich eine identische
- vielmehr erraten als wirklich gesehn werden.
Bei der unverkennbaren Volkstümlichkeit im besten
Sinne, die dem Páli von Haus aus eigen ist und es über das Sanskrit stellt,
darf jedoch eins nicht übersehn werden: die Lieder, und die Texte überhaupt,
Sprüche wie Reden, müssen von einer künstlerisch hochbegabten Persönlichkeit
gestaltet worden sein, einem Manne, der dem Ganzen seinen Geistesstempel
aufgeprägt hat, so unauslöschlich, daß auch die Jünger, wo immer sie auftreten,
damit gezeichnet sind, und die einzelnen Individualitäten von jener alles überragenden
und umfassenden gleichsam eingerahmt erscheinen. Erst in verhältnismäßig
späteren Texten begegnen wir wieder einer selbständigen Weiterbildung, d. h.
Entartung, die bei unseren Liedern noch fehlt. Bereits im Suttanipáto, «Den
Bruchstücken der Reden», trifft man z. B. das Dogma von den zweiunddreißig lakkhanáni
des mahápuriso, und so noch anderes, das trotz des hohen Alters
dieser Anthologie, wofür kein Geringerer als Asoko einsteht, ohne Zweifel schon
einer jüngeren Periode zugehört.
Der Vortrag des Liedes ist heute noch wie in den
alten Zeiten, ja wie er es meist schon bei Entstehung der einzelnen Strophen
und Stanzen war, durchaus melischer Natur. Die Lieder wurden und werden
gesungen, aber nicht in unserem landläufigen Sinne, sondern ähnlich den a
capella Gesängen Palestrinas, also in langgezogenen, einförmigen Melodien. Der
musikalische Kanon der christlichen Kirche, den Palestrina vorfand und zur
höchsten Vollendung brachte, ist nun sicher östlichen Ursprungs; daher läßt
sich sogar ein gewisser historischer Zusammenhang der einerseits so
verschiedenen, anderseits aber so ähnlichen Weisen kaum unbedingt ableugnen.
Und ungewöhnlich wie die Melodie dieser Lieder ist der Inhalt. Wer etwa das
Buch zur Unterhaltung in die Hand genommen hat, wird es wohl nach wenigen
Minuten hübsch beiseite legen und besser tun das Canticum canticorum oder
andere aufzuschlagen. Asketische Poesie und asketische Musik kann billig nicht
jedermanns Sache sein. Wird doch selbst die asketische Ethik, trotz aller
inneren Wahrheit, immer ein Fremdling auf Erden, immer paradox bleiben. Stets
wird der Weltmann dem Weltüberwinder sehr vernünftig entgegenhalten: «Ach, dann
wäre ja diese ganze Welt, so gut und schlecht sie eben ist, mit ihren Millionen
tüchtiger Menschen, Armeen und Ameisen, mit all ihren Laboratorien, Kirchen und
Kuppeln, Museen und Theatern, Bahnen und Banken, nur eine kolossale
Mystifikation, der hie und da einmal ein Heiliger ein Ende machte» - und es
soll ihm, um des Friedens willen, nicht widersprochen werden. Er mag, nach dem
Rate der Weisen, jeden in seiner Art gelten lassen, da man ihn gelten läßt, und
bedenken, daß die asketische Einfalt wirklich eine menschliche Eigentümlichkeit
und unvertilgbar ist; wie die modernen Belege, die ich zu den Versen 919 und 1149
der Lieder der Mönche und zu Vers 218 der Lieder der Nonnen als einige jüngste
Tatsachen beigebracht habe, deutlich genug dartun. Ein anderes ist allerdings
brahmanische und christliche Askese, und ein anderes buddhistische Askese;
nicht dem Wesen nach, sondern sofern es sich darum handelt, die wahre
Motivation zu verstehn. Dort mythologische Verschwommenheit, hier wolkenlose
Klarheit. «Die der höchsten Erkenntnis entsprechendste Sprache», sagt Richard
Wagner, seiner Zeit weit vorauseilend, im 6. Briefe an Röckel, «hat jedenfalls
jener indische Buddha geredet.» Man kann die buddhistische Lehre Philosophie
der Heiligkeit nennen.
Wien, Mitte März 1898.
K. E. N.
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