Umfang und Charakter des Buches
Obwohl der Khuddaka-Pátho die kürzeste Schrift des Tipitakam ist, geniesst
er in der buddhistischen Welt gleichwohl ein hohes Ansehn. ,,Er wird in
Buddhaghosos Kommentaren zitiert, viele Beispiele im Sandhi-Kappo und anderen
grammatischen Werken sind aus ihm gewählt, und sieben von seinen neun Kapiteln
(nämlich I, II, III, IV, V, VI, IX) sind in die Texte aufgenommen worden, die
bei der buddhistischen Parittá-Zeremonie verlesen werden" (Childers).
Parittá (vergl. Anmerkung 58 und Anhang 1) bedeutet wörtlich Schutz, Abwehr
(sanskr. paritrá). Das Wort begegnet bereits in den Pitakas in dem Sinne von
Beschwörung, Beschwörungslied, Bannformel, Segen, Segensspruch. Mau kannte
schon im alten Buddhismus solche Beschwörungs-lieder zur Bannung böser Geister
oder sonstiger unheilbringender Einflüsse; Anhang 1 gibt, als ein klassisches
Beispiel alter Parittás, den ,Schlangensegen'. Die Parittá-Zeremonie scheint
nun im Lauf der Zeit einen immer grösseren Umfang angenommen zu haben,
wenigstens ist sie heute auf Ceylon allgemein verbreitet.1)
Heute versteht man in Ceylon unter Parittá (singhal. Pirit) die von Bhikkhus
vorgenommene Rezitation (resp. Verlesung) von einigen dreissig, dem Kanon
angehörenden Texten, um den Einfluss böser Mächte zu vertreiben. Die
Parittá-Zeremonie wird bei allen möglichen Anlässen ausgeübt, z. B. beim Bau
eines neuen Hauses, bei Todesfällen, Krankheiten und dergl.2)
Diese dreissig Parittá-Texte stammen meist aus dem Sutta-Pitakam. Ausserdem ist
Parittam der Titel jenes (nicht-kanonischen) Parittá-Textbuches, welches die
eben genannten Texte enthält, und dessen Inhalt bei dem Pirit-Dienst noch heute
verlesen wird.
Es ist nun sehr merkwürdig, dass der weitaus grösste Teil des
Khuddaka-Pátho dem Parittam einverleibt ist. Wir sind wohl auf Grund dieser
Tatsache berechtigt, in den Sutten V, VI und IX (Mangala-, Ratana- und
Metta-Suttam) alte Beschwörungslieder (nach Art der brahmanischen Mantren) zu
sehen, - eine Tatsache, durch welche natürlich die ethische Schönheit dieser
Partien an sich keinen Abbruch erleidet. Als Beschwörungslieder werden
dieselben schon durch die Wiederholung gewisser stereotyper Wendungen
gekennzeichnet. So im Mangala-Suttam das „etam mangalam uttamam" (zu
beachten ist, dass hier mangalam sehr wohl ,Omen' bedeuten kann), ferner im
Ratana-Suttam das ,sabb' evabhútá sumaná bhavantu', ,idam pi buddhe (dhamme,
sanghe) ratanam panitam, etena saccena suvatthi hotu,' sowie die drei letzten
Verse; und im Metta-Suttam das ,sabbe sattá bhavantu sukhitattá' etc. Nun ist,
seltsam genug, auch den beiden nicht in das Parittam aufgenommenen Sutten VII
und VIII dennoch der mantrische Charakter kaum abzusprechen. Das Tirokudda-Suttam
wird in dieses Gebiet schon durch seinen animistischen Inhalt verwiesen, der
darauf hinausläuft, direkt zu Totenopfern aufzufordern, und noch heute werden
in Ceylon und Siam einige seiner Verse bei Leichenverbrennungen rezitiert
(vergl. Anm. 51 und Anhang 2). Und das Nidhikanda-Suttam macht sich durch sein
sechsmal wiederholtes ,sabbam etena labbhati' als mantra-artiges Stück
verdächtig. Dennoch stehen diese Sutten in Anbetracht ihres hohen ethischen
Gehaltes turmhoch über den echt hinduistischen Mantren, wie sie uns etwa im
Atharva-Veda und Mantra-Brahmana entgegen treten.
Zu bemerken ist noch, dass die letzten fünf Kapitel des Khuddaka-Pátho (also
die Sutten) in metrischer Form gehalten sind.
|