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Ioannes Paulus PP. II
Evangelium vitae

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»Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (Ps 127 1, 3): die Familie »Heiligtum des Lebens«

92. Innerhalb des »Volkes des Lebens und für das Leben« kommt es entscheidend auf die Verantwortlichkeit der Familie an: eine Verantwortlichkeit, die dem der Familie eigenen Wesennämlich auf die Ehe gegründete Lebens– und Liebesgemeinschaft zu sein — und ihrer Sendung, »die Liebe zu hüten, zu offenbaren und mitzuteilen« entspringt. Es geht um die Liebe Gottes selbst, dessen Mitwirkende und gleichsam Interpreten seiner Liebe die Eltern sind, wenn sie dem Plan des Vaters entsprechend das Leben weitergeben und erziehen. Die Liebe wird somit zu unentgeltlichem Dienst, zu Aufnahme, zum Geschenk: in der Familie wird ein jeder anerkannt, geachtet und geehrt, weil er Person ist, und wenn einer es nötig hat, wird ihm intensivere und aufmerksamere Fürsorge zuteil.

Die Familie wird in die gesamte Lebensspanne ihrer Mitglieder hineingezogen, von der Geburt bis zum Tod. Sie ist wahrlich »das Heiligtum des Lebens..., der Ort, an dem das Leben, Gabe Gottes, in angemessener Weise angenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen es ausgesetzt ist, geschützt wird und wo es sich entsprechend den Forderungen eines echten menschlichen Wachstums entfalten kann«. Darum ist die Rolle der Familie beim Aufbau der Kultur des Lebens entscheidend und unersetzlich.

Als Hauskirche ist die Familie aufgerufen, das Evangelium vom Leben zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen. Dies ist vor allem Aufgabe der Eheleute, die berufen sind, das Leben weiterzugeben auf der Grundlage eines immer wieder erneuerten Bewußtseins vom Sinn der Zeugung als bevorzugtem Ereignis, in dem offenbar wird, daß das menschliche Leben ein Geschenk ist, um seinerseits weitergeschenkt zu werden. Bei der Zeugung eines neuen Lebens werden die Eltern gewahr, daß ihr Kind, »wenn es Frucht ihrer gegenseitigen Schenkung aus Liebe ist, seinerseits ein Geschenk für beide ist: eine Gabe, die der Gabe entspringt«.

Vor allem durch die Erziehung der Kinder erfüllt die Familie ihre Sendung, das Evangelium vom Leben zu verkünden. Durch das Wort und das Beispiel in den täglichen Beziehungen und Entscheidungen und durch konkrete Gesten und Zeichen führen die Eltern ihre Kinder in die echte Freiheit ein, die sich in der aufrichtigen Selbsthingabe verwirklicht, und bilden in ihnen die Achtung vor dem anderen, den Gerechtigkeitssinn, die herzliche Aufnahme, den Dialog, den großzügigen Dienst, die Solidarität und jeden anderen Wert aus, der helfen soll, das Leben als ein Geschenk zu leben. Die Erziehungsarbeit der christlichen Eltern muß zum Dienst am Glauben der Kinder und zu ihnen angebotener Hilfe werden, damit sie die von Gott empfangene Berufung erfüllen können. Es gehört zum Erziehungsauftrag der Eltern, die Kinder durch Zeugnis den wahren Sinn des Leidens und Sterbens zu lehren: das wird ihnen gelingen, wenn sie jedes Leiden in ihrer Umgebung beachten und wenn sie noch vorher für die Entwicklung von Haltungen sorgen wie Nähe, Fürsorge, Anteilnahme gegenüber Kranken und Alten im Familienkreis.

93. Des weiteren feiert die Familie das Evangelium vom Leben durch das tägliche Gebet, das persönliche und das Gebet in der Familie: mit ihm lobt sie den Herrn und dankt Ihm für die Gabe des Lebens und fleht um Licht und Kraft, um mit schwierigen Situationen und Leiden fertigzuwerden, ohne die Hoffnung zu verlieren. Aber die Feier, die jeder anderen Gebets - und Kultform erst Sinn gibt, ist diejenige, die sich im alltäglichen Dasein der Familie ausdrückt, wenn es denn ein Dasein ist, das von Liebe und Sichverschenken bestimmt wird.

Die Feier wird so zu einem Dienst am Evangelium vom Leben, der sich durch die innerhalb und außerhalb der Familie als zuvorkommende, wachsame und herzliche Aufmerksamkeit in den kleinen und anspruchslosen Handlungen des Alltags erlebte Solidarität ausdrückt. Einen besonders bedeutsamen Ausdruck findet die Solidarität zwischen den Familien in der Bereitschaft, von ihren Eltern verlassene oder in schlimmen, elenden Verhältnissen lebende Kinder zu adoptieren oder sich ihrer anzunehmen. Die wahre Elternliebe kann über die Bande des Fleisches und Blutes hinausgehen und Kinder anderer Familien aufnehmen, indem ihnen geboten wird, was für ihr Leben und ihre Entfaltung nötig ist. Unter den Adoptionsmöglichkeiten verdient auch die Adoption aus der Ferne Beachtung; ihr ist in den Fällen der Vorzug zu geben, in denen die große Armut der Familie der einzige Grund dafür ist, daß ein Kind im Stich gelassen wird. Durch diesen Adoptionstyp werden den Eltern die nötigen Mittel bereitgestellt, damit sie ihre Kinder erhalten und erziehen können, ohne sie ihrer natürlichen Umgebung entwurzeln zu müssen.

Die Solidarität, die als »feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen« verstanden wird, muß auch durch Formen sozialer und politischer Beteiligung in die Tat umgesetzt werden. Infolgedessen ist der Dienst am Evangelium vom Leben damit verbunden, daß sich die Familien besonders durch aktive Mitgliedschaft in eigenen Familienverbänden darum bemühen, daß die Gesetze und Einrichtungen des Staates auf keinen Fall das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod verletzen, sondern es schützen und fördern.

94. Ein Sonderplatz muß den alten Menschen eingeräumt werden. Während in einigen Kulturen der Mensch vorgerückten Alters mit einer wichtigen aktiven Rolle in die Familie eingebunden bleibt, wird hingegen in anderen Kulturen der alte Mensch als eine unnütze Last empfunden und sich selbst überlassen: in einem solchen Umfeld kann leichter die Versuchung zum Rückgriff auf die Euthanasie auftauchen.

Die Abschiebung oder gar Ablehnung der alten Menschen ist unerträglich. Ihre Anwesenheit in der Familie oder wenigstens die Nähe der Familie zu ihnen, wenn es wegen beengter Wohnverhältnisse oder aus anderen Gründen keine realen Alternativen zum Krankenhaus oder Altenheim geben sollte, sind von grundlegender Bedeutung, um ein Klima gegenseitigen Austausches und bereichernder Kommunikation zwischen den verschiedenen Altersgruppen herzustellen. Es ist deshalb sehr wichtig, daß man eine Art »Vertrag« zwischen den Generationen beibehält bzw. dort, wo er verloren gegangen ist, wiederherstellt, so daß die alten Eltern, wenn sie am Ende ihres Weges angekommen sind, bei den Kindern die Aufnahme und die Solidarität finden können, die sie ihnen ihrerseits entgegengebracht haben, als diese dem Leben entgegengingen: das fordert der Gehorsam gegen das göttliche Gebot, Vater und Mutter zu ehren (vgl. Ex 20, 12; Lev 19, 3). Aber das ist nicht alles. Der alte Mensch ist nicht nur als Objekt der Aufmerksamkeit, der Nähe und des Dienstes zu betrachten. Auch er hat einen wertvollen Beitrag zum Evangelium vom Leben zu leisten. Dank des im Laufe der Jahre erworbenen reichen Erfahrungsschatzes kann und muß er einer sein, der Weisheit weitergibt sowie Zeugnis von Hoffnung und Liebe ablegt.

Auch wenn es stimmt, daß »die Zukunft der Menschheit über die Familie geht«, muß man zugeben, daß die heutigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen die Aufgabe der Familie, dem Leben zu dienen, oft erschweren und mühsam gestalten. Damit sie ihre Berufung als »Heiligtum des Lebens«, als Zelle einer Gesellschaft, die das Leben liebt und aufnimmt, verwirklichen kann, ist es dringend nötig, daß die Familie selbst Hilfe und Unterstützung erfährt. Die Gesellschaften und die Staaten müssen ihr alle jene, auch wirtschaftliche Hilfe sicherstellen, die die Familien brauchen, damit sie ihren Problemen auf humanere Weise nachkommen können. Die Kirche ihrerseits muß unermüdlich eine Familienpastoral fördern, die jede Familie anzuspornen vermag, mit Freude und Mut ihre Sendung gegenüber dem Evangelium vom Leben wiederzuentdecken und zu leben.




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