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Ioannes Paulus PP. II
Evangelium vitae

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»Sie sind dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben« (vgl. Röm 8, 29): die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen

34. Das Leben ist immer ein Gut. Das ist eine intuitive Ahnung oder sogar eine Erfahrungstatsache, deren tiefen Grund zu erfassen der Mensch berufen ist.

Warum ist das Leben ein Gut? Die Frage durchzieht die ganze Bibel und findet bereits auf ihren ersten Seiten eine wirkungsvolle und wunderbare Antwort. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist anders und eigenständig gegenüber dem eines jeden anderen Lebewesens, weil der Mensch, auch wenn er mit dem Staub der Erde verwandt ist (vgl. Gen 2, 7; 3, 19; Ijob 34, 15; Ps 103 1, 14; 104 2, 29), in der Welt Offenbarung Gottes, Zeichen seiner Gegenwart, Spur seiner Herrlichkeit ist (vgl. Gen 1, 26-27; Ps 8, 6). Das wollte auch der hl. Irenäus von Lyon mit seiner berühmten Definition unterstreichen: »Der lebendige Mensch ist die Herrlichkeit Gottes«. Dem Menschen wird eine erhabene Würde geschenkt, die ihre Wurzeln in den innigen Banden hat, die ihn mit seinem Schöpfer verbinden: im Menschen erstrahlt ein Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst.

Das führt das erste Buch der Genesis im ersten Schöpfungsbericht aus, indem es den Menschen als Höhepunkt des Schöpfungswerkes Gottes, als seine Krönung, an das Ende eines Prozesses stellt, der vom unterschiedslosen Chaos zum vollkommensten Geschöpf führt. Alles in der Schöpfung ist auf den Menschen hingeordnet und alles ist ihm untergeordnet: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht... über alle Tiere, die sich auf dem Land regen« (1, 28), gebietet Gott dem Mann und der Frau. Eine ähnliche Botschaft stammt auch aus dem zweiten Schöpfungsbericht: »Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (Gen 2, 15). So wird die Vorrangstellung des Menschen über die Dinge bekräftigt: sie sind auf ihn hin ausgerichtet und seiner Verantwortung anvertraut, während er selbst unter keinen Umständen an seinesgleichen versklavt werden und gleichsam auf die Ebene einer Sache herabgestuft werden kann.

In der biblischen Erzählung wird die Unterscheidung des Menschen von den anderen Geschöpfen vor allem dadurch herausgestellt, daß nur seine Erschaffung als Frucht eines besonderen Entschlusses Gottes dargestellt wird, als Ergebnis einer Entscheidung, die in der Herstellung einer eigenen und besonderen Verbindung mit dem Schöpfer besteht: »Laß uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gen 1, 26). Das Leben, das Gott dem Menschen anbietet, ist ein Geschenk, durch das Gott sein Geschöpf an etwas von sich selbst teilhaben läßt.

Israel wird noch lange Fragen nach dem Sinn dieser eigenen und besonderen Bindung des Menschen an Gott stellen. Auch das Buch Jesus Sirach räumt ein, daß Gott die Menschen bei ihrer Erschaffung »ihm selbst ähnlich mit Kraft bekleidet und nach seinem Abbild erschaffen hat« (17, 3). Darauf führt der Verfasser nicht nur ihre Beherrschung der Welt zurück, sondern auch die wesentlichsten geistigen Fähigkeiten des Menschen, wie Vernunft, Erkenntnis von Gut und Böse, den freien Willen: »Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und Böses zu erkennen« (Sir 17, 7). Die Fähigkeit, Wahrheit und Freiheit zu erlangen, sind Vorrechte des Menschen, geschaffen nach dem Abbild seines Schöpfers, des wahren und gerechten Gottes (vgl. Dtn 32, 4). Unter allen sichtbaren Kreaturen ist nur der Mensch »fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben«. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist weit mehr als ein zeitlich-irdisches Dasein. Es ist ein Streben nach einer Lebensfülle; es ist Keim einer Existenz, die über die Grenzen der Zeit hinausgeht: »Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht« (Weish 2, 23).

35. Auch der jahwistische Schöpfungsbericht bringt dieselbe Überzeugung zum Ausdruck. Die ältere Erzählung spricht nämlich von einem göttlichen Hauch, der in den Menschen geblasen wird, damit er ins Leben trete: »Gott, der Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7).

Der göttliche Ursprung dieses Lebensgeistes erklärt das ständige Unbefriedigtsein, das den Menschen in seinen Erdentagen begleitet. Da er von Gott geschaffen wurde und eine unauslöschliche Spur Gottes in sich trägt, trachtet der Mensch natürlich nach ihm. Jeder Mensch muß, wenn er die tiefe Sehnsucht seines Herzens vernimmt, sich das Wort der vom hl. Augustinus ausgesprochenen Wahrheit zu eigen machen: »Du, o Herr, hast uns für Dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir«.

Äußerst vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des Menschen im Garten Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die natürliche Welt der Pflanzen und Tiere ist (vgl. Gen 2, 20). Erst das Auftreten der Frau, das heißt eines Wesens, das Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen 2, 23) und in dem ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt, vermag sein Verlangen nach interpersonalem Dialog, der für die menschliche Existenz so wichtig ist, zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt sich Gott selbst, endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen.

»Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?«, fragt der Psalmist (Ps 8, 5). Angesichts der Unermeßlichkeit des Universums ist er klein und unbedeutend; aber gerade dieser Gegensatz läßt seine Größe sichtbar werden: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott (man könnte auch übersetzen: als die Engel), hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Ps 8, 6). Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen. In ihm findet der Schöpfer seine Ruhe, wie der hl. Ambrosius voll Erstaunen und Ergriffenheit kommentiert: »Der sechste Tag ist zu Ende und die Schöpfung der Welt wird mit der Gestaltung des Hauptwerkes abgeschlossen, des Menschen, der die Herrschaft über alle Lebewesen ausübt und gleichsam der Gipfel des Universums und die höchste Schönheit jedes geschaffenen Wesens ist. Wir müßten wahrhaftig in verehrungsvollem Schweigen verharren, da sich der Herr von jedem Werk der Welt ausruhte. Er ruhte sich dann im Innern des Menschen aus, er ruhte sich aus in seinem Verstand und seinem Denken; denn er hatte den Menschen erschaffen, ihn mit Vernunft ausgestattet und ihn befähigt, ihn nachzuahmen, seinen Tugenden nachzueifern, nach den himmlischen Gnaden zu dürsten. In diesen seinen Gaben ruht Gott, der gesagt hat: 'Was wäre das für ein Ort, an dem ich ausruhen könnte?... Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten und auf den, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66, 1-2). Ich danke dem Herrn, unserem Gott, daß er ein so wunderbares Werk geschaffen hat, in dem er den Ort zum Ausruhen finden kann«.

36. Leider wird Gottes herrlicher Plan durch den Einbruch der Sünde in die Geschichte getrübt. Mit der Sünde lehnt sich der Mensch gegen den Schöpfer auf, bis er am Ende die Geschöpfe vergöttert: »Sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers« (Röm 1, 25). Auf diese Weise entstellt der Mensch nicht nur in sich selbst das Bild Gottes, sondern ist versucht, es auch in den anderen dadurch zu beleidigen, daß er die Beziehungen der Gemeinschaft durch Verhaltensweisen wie Mißtrauen, Gleichgültigkeit, Feindschaft bis hin zum mörderischen Haß ersetzt. Wenn man nicht Gott als Gott anerkennt, verrät man die tiefe Bedeutung des Menschen und beeinträchtigt die Gemeinschaft der Menschen untereinander.

Mit der Menschwerdung des Gottessohnes erstrahlt im Leben des Menschen wieder das Bild Gottes und offenbart sich in seiner ganzen Fülle: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1, 15), »der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens« (Hebr 1, 3), lebt das vollkommene Ebenbild des Vaters.

Der dem ersten Adam übertragene Lebensplan findet schließlich in Christus seine Vollendung. Während der Ungehorsam Adams Gottes Plan bezüglich des Lebens des Menschen zerstört und entstellt und den Tod in die Welt bringt, ist der erlösende Gehorsam Christi Quelle der Gnade, die sich über die Menschen ergießt, indem sie für alle die Tore zum Reich des Leßens aufreißt (vgl. Röm 5, 12-21). Der Apostel Paulus sagt: »Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist« (1 Kor 15, 45).

Allen, die sich zustimmend in die Nachfolge Christi stellen, wird die Fülle des Lebens geschenkt: in ihnen wird das göttliche Bild wiederhergestellt, erneuert und zur Vollendung geführt. Das ist der Plan Gottes mit den Menschen: daß sie »an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben« (Röm 8, 29). Nur so, im Glanz dieses Bildes, kann der Mensch von der Knechtschaft des Götzendienstes befreit werden, die zerbrochene Brüderlichkeit wiederherstellen und seine Identität wiederfinden.




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