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Ioannes Paulus PP. II Fides et Ratio IntraText CT - Text |
KAPITEL I - DIE OFFENBARUNG DER WEISHEIT GOTTES
Jesus als Offenbarer des Vaters [7-12]
7. Jede von der Kirche angestellte Reflexion erfolgt auf der Grundlage des Bewußtseins, Verwahrerin einer Botschaft zu sein, die ihren Ursprung in Gott selbst hat (vgl. 2 Kor 4, 1-2). Die Erkenntnis, die sie dem Menschen anbietet, rührt nicht aus ihrem eigenen Nachdenken her, und wäre es noch so erhaben, sondern aus dem gläubigen Hören des Wortes Gottes (vgl. 1 Thess 2, 13). Am Anfang unseres Gläubigseins steht eine einzigartige Begegnung, die das Offenbarwerden eines seit ewigen Zeiten verborgenen, jetzt aber enthüllten Geheimnisses (vgl. 1 Kor 2, 7; Röm 16, 25-26) markiert: »Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1, 9): daß die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur«.5 Dabei handelt es sich um eine völlig ungeschuldete Initiative, die von Gott ausgeht, um die Menschheit zu erreichen und zu retten. Gott als Quelle der Liebe will sich zu erkennen geben, und die Erkenntnis, die der Mensch von Ihm hat, bringt jede andere wahre Erkenntnis über den Sinn seiner eigenen Existenz zur Vollendung, zu der sein Verstand zu gelangen vermag.
8. Unter beinahe wörtlicher Übernahme der von der dogmatischen Konstitution Dei Filius des I. Vatikanischen Konzils dargebotenen Lehre und unter Berücksichtigung der vom Konzil von Trient vorgelegten Grundsätze hat die Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanums den Gang der Glaubenseinsicht, intelligentia fidei, durch die Jahrhunderte fortgesetzt, indem sie über die Offenbarung im Lichte der biblischen Lehre und der gesamten Vätertradition nachdachte. Die Konzilsväter des I. Vatikanums hatten den übernatürlichen Charakter der Offenbarung Gottes hervorgehoben. Die rationalistische Kritik, die zu jener Zeit auf Grund weitverbreiteter falscher Thesen gegen den Glauben vorgebracht wurde, betraf die Leugnung jeder Erkenntnis, die nicht den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft entspränge. Dieser Umstand hatte das Konzil zu der nachdrücklichen Bekräftigung verpflichtet, daß es außer der Erkenntnis der menschlichen Vernunft, die auf Grund ihrer Natur den Schöpfer zu erreichen vermag, eine Erkenntnis gibt, die dem Glauben eigentümlich ist. Diese Erkenntnis ist Ausdruck einer Wahrheit, die sich auf die Tatsache des sich offenbarenden Gottes selbst gründet und Wahrheitsgewißheit ist, weil Gott weder täuscht noch täuschen will.6
9. Das I. Vatikanische Konzil lehrt also, daß die durch philosophisches Nachdenken erlangte Wahrheit und die Wahrheit der Offenbarung weder sich miteinander vermischen noch einander überflüssig machen. »Es gibt zwei Erkenntnisordnungen, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind: im Prinzip, weil wir in der einen [Ordnung] mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns außer der Wahrheit, zu der die natürliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten«.7 Der Glaube, der sich auf das Zeugnis Gottes gründet und der übernatürlichen Hilfe der Gnade bedient, ist in der Tat von einer anderen Ordnung als die philosophische Erkenntnis. Denn diese stützt sich auf die Sinneswahrnehmung, auf die Erfahrung und bewegt sich allein im Licht des Verstandes. Die Philosophie und die Wissenschaften schweifen im Bereich der natürlichen Vernunft umher, während der vom Geist erleuchtete und geleitete Glaube in der Heilsbotschaft die »Fülle von Gnade und Wahrheit« (vgl. Joh 1, 14) erkennt, die Gott in der Geschichte endgültig durch seinen Sohn Jesus Christus offenbart hat (vgl. 1 Joh 5, 9; Joh 5, 31-32).
10. Die Konzilsväter des II. Vatikanums haben den Blick fest auf den offenbarenden Jesus gerichtet und dabei den Heilscharakter der Offenbarung Gottes in der Geschichte dargelegt. Das Wesen der Offenbarung haben sie so formuliert: »In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1 Tim 1, 17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 11; Joh 15, 14-15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind: die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist«.8
11. So ist die Offenbarung Gottes eingebettet in Zeit und Geschichte. Ja, die Menschwerdung Jesu Christi geschieht in der »Fülle der Zeit« (Gal 4, 4). Zweitausend Jahre nach jenem Ereignis sehe ich es als meine Pflicht an, nachdrücklich hervorzuheben, daß »im Christentum der Zeit eine fundamentale Bedeutung« zukommt.9 Denn in ihr kommt das ganze Werk der Schöpfung und der Erlösung an den Tag; vor allem wird sichtbar, daß wir durch die Menschwerdung des Gottessohnes schon jetzt die zukünftige Vollendung der Zeit erleben und vorwegnehmen (vgl. Hebr 1, 2).
Die Wahrheit, die Gott dem Menschen über sich und über sein Leben übergeben hat, ist daher eingebettet in Zeit und Geschichte. Sie ist natürlich ein für allemal im Geheimnis des Jesus von Nazaret verkündet worden. Das sagt mit ausdrucksvollen Worten die Konstitution Dei Verbum: »Nachdem Gott viele Male und auf viele Weisen durch die Propheten gesprochen hatte, “hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns gesprochen im Sohn” (Hebr 1, 1-2). Er hat seinen Sohn, das ewige Wort, das Licht aller Menschen, gesandt, damit er unter den Menschen wohne und ihnen vom Innern Gottes Kunde bringe (vgl. Joh 1, 1-18). Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, als “Mensch zu den Menschen” gesandt, “redet die Worte Gottes” (Joh 3, 34) und vollendet das Heilswerk, dessen Durchführung der Vater ihm aufgetragen hat (vgl. Joh 5, 36; 17, 4). Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14, 9). Er ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt«.10
Die Geschichte stellt also für das Volk Gottes einen Weg dar, der ganz durchlaufen werden muß, so daß die geoffenbarte Wahrheit dank des unablässigen Wirkens des Heiligen Geistes ihre Inhalte voll zum Ausdruck bringen kann (vgl. Joh 16, 13). Das lehrt wiederum die Konstitution Dei Verbum, wenn sie feststellt: »Die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis sich an ihr Gottes Worte erfüllen«.11
12. Die Geschichte wird daher zu dem Ort, an dem wir Gottes Handeln für die Menschheit feststellen können. Er erreicht uns in dem, was für uns am vertrautesten und leicht zu überprüfen ist, weil es sich um unsere tägliche Umgebung handelt, ohne die wir uns nicht zu begreifen vermöchten.
Die Menschwerdung Gottes erlaubt es, die ewige und endgültige Synthese vollzogen zu sehen, die sich der menschliche Geist von sich aus nicht einmal hätte vorstellen können: das Ewige geht ein in die Zeit, das Ganze verbirgt sich im Bruchstück, Gott nimmt die Gestalt des Menschen an. Die in der Offenbarung Christi zum Ausdruck gekommene Wahrheit ist somit nicht mehr in einen engen territorialen und kulturellen Bereich eingeschlossen, sondern öffnet sich jedem Mann und jeder Frau, der die sie als ein für allemal gültiges Wort annehmen will, um dem Dasein Sinn zu geben. Nun haben alle Menschen in Christus Zugang zum Vater; durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er das göttliche Leben geschenkt, das der erste Adam ausgeschlagen hatte (vgl. Röm 5, 12-15). Mit dieser Offenbarung wird dem Menschen die letzte Wahrheit über sein Leben und über das Schicksal der Geschichte angeboten: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf«, stellt die Konstitution Gaudium et spes12 fest. Außerhalb dieser Sicht bleibt das Geheimnis der menschlichen Person ein unlösbares Rätsel. Wo sonst als in dem Licht, das vom Geheimnis der Passion, des Todes und der Auferstehung Christi ausstrahlt, könnte der Mensch die Antwort auf so dramatische Fragen suchen wie die des Schmerzes, des Leidens Unschuldiger und des Todes?