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Ioannes Paulus PP. II
Fides et Ratio

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Das Drama der Trennung zwischen Glaube und Vernunft [45-48]

45. Mit der Errichtung der ersten Universitäten sah sich die Theologie mit anderen Formen des Forschens und des wissenschaftlichen Wissens unmittelbarer konfrontiert. Der hl. Albertus Magnus und der hl. Thomas waren die ersten, die, obwohl sie an einer organischen Verbindung zwischen Theologie und Philosophie festhielten, der Philosophie und den Wissenschaften die nötige Autonomie zuerkannten, die diese brauchen, um sich den jeweiligen Forschungsgebieten erfolgreich widmen zu können. Vom späten Mittelalter an verwandelte sich jedoch die legitime Unterscheidung zwischen den beiden Wissensformen nach und nach in eine unselige Trennung. Infolge des Vorherrschens eines übertriebenen rationalistischen Geistes bei einigen Denkern wurden die Denkpositionen radikaler, bis man tatsächlich bei einer getrennten und gegenüber den Glaubensinhalten absolut autonomen Philosophie anlangte. Zu den Folgen dieser Trennung gehörte unter anderen auch ein wachsender Argwohn gegenüber der Vernunft. Einige begannen, sich zu einem allgemeinen, skeptischen und agnostischen Mißtrauen zu bekennen, entweder um dem Glauben mehr Raum vorzubehalten oder aber um jede nur mögliche seiner Beziehungen zur Vernunft in Mißkredit zu bringen.

Was das patristische und mittelalterliche Denken als tiefe Einheit, die eine zu den höchsten Formen spekulativen Denkens befähigende Erkenntnis hervorbrachte, ersonnen und verwirklicht hatte, wurde letztendlich von jenen Systemen zerstört, die für eine vom Glauben getrennte und zu ihm alternative Vernunfterkenntnis eintraten.

46. Die auffälligsten Radikalisierungen sind bekannt und vor allem in der Geschichte des Abendlandes deutlich sichtbar. Das moderne philosophische Denken hat sich, so kann man ohne Übertreibung sagen, zu einem gehörigen Teil in seiner allmählichen Abwendung von der christlichen Offenbarung entwickelt, bis es schließlich zu klaren Gegenpositionen gelangte. Im vorigen Jahrhundert hat diese Bewegung ihren Höhepunkt erreicht. Einige Vertreter des Idealismus haben auf verschiedenste Weise versucht, den Glauben und seine Inhalte, ja sogar das Geheimnis vom Tod und Auferstehung Jesu Christi, in rational faßbare dialektische Strukturen umzuwandeln. Diesem Denken stellten sich verschiedene, philosophisch aufbereitete Formen eines atheistischen Humanismus entgegen, die den Glauben als für die Entwicklung der vollen Vernünftigkeit schädlich und entfremdend darstellten. Sie scheuten sich nicht, sich als neue Religionen zu präsentieren; damit war die Ausgangsbasis für Zielsetzungen geschaffen, die sich auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene zu totalitären Systemen und damit zu einem Trauma für die Menschheit auswuchsen.

Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung setzte sich eine positivistische Denkweise durch, die sich nicht nur von jedem Bezug zur christlichen Weltanschauung entfernt, sondern auch und vor allem jeden Hinweis auf die metaphysische und moralische Sicht fallen gelassen hatte. Die Folge davon ist, daß bestimmte Wissenschaftler, die keinen sittlichen Anhaltspunkt haben, Gefahr laufen, daß nicht mehr der Mensch und die Ganzheit seines Lebens im Mittelpunkt ihres Interesses steht. Mehr noch: einige von ihnen scheinen in Kenntnis der dem technologischen Fortschritt innewohnenden Möglichkeiten außer der Logik des Marktes der Versuchung zu einer demiurgischen Macht über die Natur und über den Menschen selbst nachzugeben.

Als Folge der Krise des Rationalismus hat sich schließlich der Nihilismus herausgebildet. Er schafft es, als Philosophie vom Nichts auf unsere Zeitgenossen seinen Zauber auszuüben. Seine Anhänger stellen Theorien darüber auf, daß die Suche in sich selbst ihr Ende hat, ohne irgendeine Hoffnung oder Möglichkeit, das Ziel der Wahrheit je zu erreichen. Nach nihilistischer Auslegung ist das Dasein nur eine Gelegenheit für Eindrücke und Erfahrungen, in denen das Flüchtige den Vorrang hat. Der Nihilismus steht am Anfang jener verbreiteten Geisteshaltung, wonach man keine endgültige Verpflichtung mehr übernehmen muß, weil ohnehin alles vergänglich und vorläufig ist.

47. Andererseits darf man nicht vergessen, daß sich in der modernen Kultur die Rolle der Philosophie selbst verändert hat. Von Weisheit und universalem Wissen ist sie allmählich auf eines unter vielen Gebieten menschlichen Wissens zusammengeschrumpft; sie ist sogar in gewisser Hinsicht in eine völlige Nebenrolle abgedrängt worden. Inzwischen haben sich andere Formen von Vernünftigkeit mit immer größerem Gewicht durchgesetzt und dabei die Nebensächlichkeit des philosophischen Wissens hervorgehoben. Statt auf die Anschauung der Wahrheit und die Suche nach dem letzten Ziel und dem Sinn des Lebens sind diese Formen der Vernünftigkeit als »instrumentale Vernunft« darauf ausgerichtet, utilitaristischen Zielen, dem Genuß oder der Macht zu dienen. Zumindest können diese Formen darauf ausgerichtet werden.

Wie gefährlich es ist, diesen Weg zu verabsolutieren, darauf habe ich bereits in meiner ersten Enzyklika hingewiesen, wo ich schrieb: »Der Mensch von heute scheint immer wieder von dem bedroht zu sein, was er selbst produziert, das heißt vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Die Früchte dieser vielgestaltigen Aktivität des Menschen sind nicht nur Gegenstand von 'Entfremdung', weil sie demjenigen, der sie hervorgebracht hat, einfachhin genommen werden; allzu oft und nicht selten unvorhersehbar wenden sich diese Früchte, wenigstens teilweise, in einer konsequenten Folge von Wirkungen indirekt gegen den Menschen selbst. So sind sie tatsächlich gegen ihn gerichtet oder können es jederzeit sein. Hieraus scheint das wichtigste Kapitel des Dramas der heutigen menschlichen Existenz in seiner breitesten und universellen Dimension zu bestehen. Der Mensch lebt darum immer mehr in Angst. Er befürchtet, daß seine Produkte, natürlich nicht alle und auch nicht die Mehrzahl, aber doch einige und gerade jene, die ein beträchtliches Maß an Genialität und schöpferischer Kraft enthalten, sich in radikaler Weise gegen ihn selbst kehren könnten«.53

Im Gefolge dieser kulturellen Veränderungen haben es einige Philosophen aufgegeben, die Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen, und als ihr einziges Ziel die Erreichung der subjektiven Gewißheit oder der praktischen Nützlichkeit übernommen. Als Konsequenz davon kam es zur Trübung der wahren Würde der Vernunft, der nicht mehr die Möglichkeit gegeben wurde, das Wahre zu erkennen und nach dem Absoluten zu forschen.

48. Aus diesem letzten Abschnitt der Philosophiegeschichte ergibt sich also die Feststellung einer fortschreitenden Trennung zwischen Glaube und philosophischer Vernunft. Es stimmt zwar, daß sich bei aufmerksamer Beobachtung auch in der philosophischen Reflexion derer, die zur Vergrößerung des Abstandes zwischen Glaube und Vernunft beigetragen haben, mitunter wertvolle Denkansätze erkennen lassen, die, wenn sie mit redlichem Geist und Herzen vertieft und entwickelt werden, helfen können, den Weg der Wahrheit zu entdecken. Zu finden sind diese Denkansätze zum Beispiel in den gründlichen Analysen über Wahrnehmung und Erfahrung, über die Imagination und das Unbewußte, über Persönlichkeit und Intersubjektivität, über Freiheit und Werte, über Zeit und Geschichte; auch das Thema Tod kann für jeden Denker eine ernste Aufforderung sein, in sich den echten Sinn seines Daseins zu suchen. Das hindert jedoch nicht, daß das derzeitige Verhältnis von Glaube und Vernunft ein sorgfältiges Bemühen um Unterscheidung erfordert, weil sowohl die Vernunft als auch der Glaube verarmt und beide gegenüber dem je anderen schwach geworden sind. Nachdem die Vernunft ohne den Beitrag der Offenbarung geblieben war, hat sie Seitenwege eingeschlagen, die die Gefahr mit sich bringen, daß sie ihr letztes Ziel aus dem Blick verliert. Der Glaube, dem die Vernunft fehlt, hat Empfindung und Erfahrung betont und steht damit in Gefahr, kein universales Angebot mehr zu sein. Es ist illusorisch zu meinen, angesichts einer schwachen Vernunft besitze der Glaube größere Überzeugungskraft; im Gegenteil, er gerät in die ernsthafte Gefahr, auf Mythos bzw. Aberglauben verkürzt zu werden. In demselben Maß wird sich eine Vernunft, die keinen reifen Glauben vor sich hat, niemals veranlaßt sehen, den Blick auf die Neuheit und Radikalität des Seins zu richten.

Nicht unangebracht mag deshalb mein entschlossener und eindringlicher Aufruf erscheinen, daß Glaube und Philosophie die tiefe Einheit wiedererlangen sollen, die sie dazu befähigt, unter gegenseitiger Achtung der Autonomie des anderen ihrem eigenen Wesen treu zu sein. Der parresia (Freimütigkeit) des Glaubens muß die Kühnheit der Vernunft entsprechen.




53 Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 15: AAS 71 (1979), 286.






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