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Ioannes Paulus PP. II
Fides et Ratio

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Das Interesse der Kirche für die Philosophie [57-63]

57. Das Lehramt hat sich freilich nicht darauf beschränkt, nur die Irrtümer und Abweichungen der philosophischen Lehren aufzudecken. Mit derselben Aufmerksamkeit hat es die Grundprinzipien für eine echte Erneuerung des philosophischen Denkens unterstrichen und auch konkret einzuschlagende Wege aufgezeigt. In diesem Sinn vollzog Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika Æterni Patris einen Schritt von wahrhaft historischer Tragweite für das Leben der Kirche. Jener Text war bis zum heutigen Tag das einzige päpstliche Dokument auf solcher Ebene, das ausschließlich der Philosophie gewidmet war. Der große Papst griff die Lehre des I. Vatikanischen Konzils über das Verhältnis von Glaube und Vernunft auf und entwickelte sie weiter, indem er zeigte, daß das philosophische Denken ein grundlegender Beitrag zum Glauben und zur theologischen Wissenschaft ist.78 Nach über einem Jahrhundert haben viele in jenem Text enthaltene Hinweise sowohl unter praktischem wie unter pädagogischem Gesichtspunkt nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt; das gilt zuallererst für die Bedeutung in bezug auf den unvergleichlichen Wert der Philosophie des hl. Thomas. Das Denken des Doctor Angelicus neu vorzulegen, erschien Papst Leo XIII. als der beste Weg, mit der Philosophie wieder so umzugehen, daß sie mit den Ansprüchen des Glaubens übereinstimmt. Der Papst schrieb: »Im selben Augenblick, in dem er (der hl. Thomas), wie es sich gehört, den Glauben vollkommen von der Vernunft unterscheidet, vereint er die beiden durch Bande wechselseitiger Freundschaft: er sichert jeder von ihnen ihre Rechte zu und schützt ihre Würde«.79

58. Die glücklichen Folgen, die jene päpstliche Aufforderung nach sich zog, sind bekannt. Die Forschungen über das Denken des hl. Thomas und anderer scholastischer Autoren erfuhren einen neuen Aufschwung. Starken Auftrieb erhielt die historische Forschung mit der Wiederentdeckung der bis dahin weithin unbekannten Schätze des mittelalterlichen Denkens zur Folge; außerdem entstanden neue thomistische Schulen. Durch die Anwendung der historischen Methode machte die Kenntnis des Werkes des hl. Thomas große Fortschritte; zahlreiche Gelehrte brachten mutig die thomistische Überlieferung in die Diskussionen über die damaligen philosophischen und theologischen Probleme ein. Die einflußreichsten katholischen Theologen dieses Jahrhunderts, deren Denken und Forschen das II. Vatikanische Konzil viel zu verdanken hat, sind Kinder dieser Erneuerung der thomistischen Philosophie. So stand der Kirche im Laufe des 20. Jahrhunderts eine starke Gruppe von Denkern zur Verfügung, die in der Schule des Doctor Angelicus herangebildet worden waren.

59. Die thomistische und neothomistische Erneuerung war allerdings nicht das einzige Zeichen einer Wiederaufnahme des philosophischen Denkens in die christlich geprägte Kultur. Schon vor der Aufforderung Papst Leos und parallel zu ihr waren zahlreiche katholische Philosophen aufgetreten, die an jüngere Denkströmungen angeknüpft und dabei nach ihrer eigenen Methode philosophische Werke von großem Einfluß und bleibendem Wert hervorgebracht hatten. Darunter befanden sich einige, die Synthesen von solchem Profil entwickelten, daß sie den großen Systemen des Idealismus in nichts nachstanden; wieder andere legten die erkenntnistheoretischen Grundlagen für eine neue Behandlung des Glaubens im Lichte eines erneuerten Verständnisses des moralischen Gewissens; noch andere schufen eine Philosophie, die, ausgehend von der Analyse des Innerweltlichen, den Weg zum Transzendenten eröffnete; und schließlich gab es auch jene, welche die Forderungen des Glaubens im Horizont der phänomenologischen Methode anzuwenden versuchten. Von verschiedenen Perspektiven her hat man also fortwährend Formen philosophischer Spekulation hervorgebracht, die die großartige Tradition christlichen Denkens in der Einheit von Glaube und Vernunft lebendig erhalten wollten.

60. Das II. Vatikanische Konzil legt seinerseits eine sehr reiche und fruchtbare Lehre in bezug auf die Philosophie vor. Ich kann besonders im Rahmen dieser Enzyklika nicht vergessen, daß ein ganzes Kapitel der Konstitution Gaudium et spes gleichsam eine Zusammenfassung biblischer Anthropologie und damit auch Inspirationsquelle für die Philosophie darstellt. Auf jenen Seiten geht es um den Wert der nach dem Bild Gottes geschaffenen menschlichen Person, es werden ihre Würde und Überlegenheit über die übrige Schöpfung begründet und die transzendente Fähigkeit ihrer Vernunft aufgezeigt.80 Auch das Problem des Atheismus kommt in Gaudium et spes in den Blick; dabei werden die Irrtümer jener philosophischen Anschauung, vor allem gegenüber der unveräußerlichen Würde der Person und ihrer Freiheit, genau begründet.81 Tiefe philosophische Bedeutung besitzt gewiß auch die Formulierung, die den Höhepunkt jenes Abschnittes bildet. Ich habe sie in meiner Enzyklika Redemptor hominis aufgegriffen; sie gehört zu den festen Bezugspunkten meines Lehrens: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«.82

Das Konzil hat sich auch mit dem Studium der Philosophie befaßt, dem sich die Priesteramtskandidaten widmen sollen; es handelt sich um Empfehlungen, die sich allgemeiner auf das christliche Lehren in seiner Gesamtheit ausdehnen lassen. Das Konzil lehrt: »Die philosophischen Disziplinen sollen so dargeboten werden, daß die Alumnen vor allem zu einem gründlichen und zusammenhängenden Wissen über Mensch, Welt und Gott hingeführt werden. Sie sollen sich dabei auf das stets gültige philosophische Erbe stützen. Es sollen aber auch die philosophischen Forschungen der neueren Zeit berücksichtigt werden«.83

Diese Weisungen sind wiederholt in anderen lehramtlichen Dokumenten bekräftigt und genauerhin erläutert worden, um vor allem für jene, die sich auf das Theologiestudium vorbereiten, eine solide philosophische Bildung zu gewährleisten. Ich habe meinerseits mehrmals die Bedeutung dieser philosophischen Bildung für alle betont, die sich eines Tages in der Seelsorge mit den Forderungen der modernen Welt auseinandersetzen und die Ursachen mancher Haltungen werden begreifen müssen, um umgehend darauf antworten zu können.84

61. Wenn sich unter verschiedenen Umständen eine Intervention zu diesem Themawobei man auch den Wert der Einsichten des Doctor Angelicus bekräftigte und auf der Aneignung seines Denkens bestand — als notwendig erwies, so hatte das seinen Grund darin, daß die Weisungen des Lehramtes nicht immer mit der erwünschten Bereitschaft befolgt worden sind. In vielen katholischen Schulen war in den Jahren unmittelbar nach dem II. Vatikanischen Konzil diesbezüglich ein gewisser Verfall zu beobachten, der einer geringeren Wertschätzung nicht nur der scholastischen Philosophie, sondern allgemeiner des Studiums der Philosophie überhaupt zuzuschreiben ist. Mit Verwunderung und Bedauern muß ich feststellen, daß nicht wenige Theologen diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Studium der Philosophie teilen.

Es sind verschiedene Gründe, die dieser Abneigung zugrunde liegen. An erster Stelle ist das Mißtrauen gegen die Vernunft festzuhalten, das ein Großteil der zeitgenössischen Philosophie dadurch bekundet, daß auf die metaphysische Erforschung der letzten Fragen des Menschen weitgehend verzichtet wird, um die Aufmerksamkeit auf Teil-und Gebietsprobleme, mitunter auch reine Formprobleme zu konzentrieren. Außerdem kommt das Mißverständnis hinzu, das vor allem in bezug auf die »Humanwissenschaften« entstanden ist. Das II. Vatikanische Konzil hat mehrmals auf den positiven Wert der wissenschaftlichen Forschung für eine tiefere Erkenntnis des Geheimnisses des Menschen hingewiesen.85 Die Aufforderung an die Theologen, sich diese Wissenschaften anzueignen und sie, wenn nötig, in ihrer Forschung korrekt anzuwenden, darf jedoch nicht als unausgesprochene Ermächtigung dazu interpretiert werden, die Philosophie in der Pastoralausbildung und in der praeparatio fidei nur am Rande zu behandeln oder gar zu ersetzen. Endlich darf man das wiederentdeckte Interesse für die Inkulturation des Glaubens nicht vergessen. Besonders das Leben der jungen Kirchen bot Gelegenheit, neben gehobenen Denkformen das Vorhandensein vielfältiger Ausdrucksformen der Volksweisheit zu entdecken, die ein wirkliches Erbe an Kulturen und Traditionen darstellen. Die Untersuchung dieser überlieferten Bräuche muß jedoch im Gleichschritt mit der philosophischen Forschung einhergehen. Diese erst wird es ermöglichen, die positiven Züge der Volksweisheit hervortreten zu lassen, indem die notwendige Verbindung mit der Verkündigung des Evangeliums hergestellt wird.86

62. Ich möchte nachdrücklich betonen, daß das Studium der Philosophie ein grundlegendes und untilgbares Wesensmerkmal im Aufbau des Theologiestudiums und in der Ausbildung der Priesteramtskandidaten darstellt. Es ist kein Zufall, daß dem Curriculum der Theologie eine Periode vorausgeht, in der eine besondere Beschäftigung mit dem Studium der Philosophie vorgesehen ist. Diese vom V. Laterankonzil bestätigte Entscheidung87 hat ihre Wurzeln in der während des Mittelalters gereiften Erfahrung, als die Bedeutung einer konstruktiven Harmonie zwischen philosophischem und theologischem Wissen herausgestellt wurde. Diese Studienordnung hat, wenn auch auf indirekte Weise, zu einem guten Teil die Entwicklung der modernen Philosophie beeinflußt, erleichtert und gefördert. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist der von den Disputationes metaphysicae von Francisco Suárez ausgeübte Einfluß: sie fanden sogar in den deutschen lutherischen Universitäten Eingang. Der Verlust dieser Methode war hingegen Ursache schwerwiegender Mängel sowohl in der Priesterausbildung als auch in der theologischen Forschung. Man denke an die Gleichgültigkeit dem modernen Denken und der modernen Kultur gegenüber, die dazu geführt hat, sich jeder Form von Dialog zu verschließen oder aber jede Philosophie unterschiedslos anzunehmen.

Ich vertraue sehr darauf, daß diese Schwierigkeiten durch eine sinnvolle philosophische und theologische Ausbildung überwunden werden, die in der Kirche niemals verloren gehen darf.

63. Wegen der genannten Gründe schien es mir dringend geboten, mit dieser Enzyklika das starke Interesse zu betonen, das die Kirche der Philosophie entgegenbringt; ja, es geht um die engen Bande, welche die theologische Arbeit mit der philosophischen Suche nach der Wahrheit verbinden. Daraus erwächst für das Lehramt die Verpflichtung, genau zu unterscheiden und ein philosophisches Denken anzuregen, das sich nicht in Unstimmigkeit mit dem Glauben befindet. Meine Aufgabe ist es, einige Grundsätze und Bezugspunkte vorzulegen, die ich als notwendig erachte, um wieder eine harmonische und wirksame Beziehung zwischen Philosophie und Theologie aufbauen zu können. Im Lichte dieser Grundsätze wird es möglich sein, mit größerer Klarheit zu prüfen, ob und welches Verhältnis die Theologie zu den verschiedenen philosophischen Systemen oder Auffassungen, die die heutige Welt aufweist, unterhalten solle.




78 Vgl. Enzyklika Æterni Patris (4. August 1879): AAS 11 (1878-1879), 97-115.



79 Ebd., aaO., 109.



80 Vgl. II. Vat. Konzil, Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 14-15.



81 Vgl. ebd., 20-21.



82 Ebd., 22; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 8: AAS 71 (1979), 271-272.



83 II. Vat. Konzil, Dekret über die Priesterausbildung Optatam totius, 15.



84 Vgl. Johannes Paul II., Apostol. Konstitution Sapientia christiana (15. April 1979), Art. 79-80: AAS 71 (1979), 495-496; Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 52: AAS 84 (1992), 750-751. Vgl. auch einige Kommentare zur Philosophie des hl. Thomas: Ansprache an die Päpstliche Internationale Universität Angelicum (17. November 1979): Insegnamenti II, 2 (1979), 1177-1189; Ansprache an die Teilnehmer am VIII. Internationalen Thomistischen Kongreß (13. September 1980): Insegnamenti III, 2 (1980), 604-615; Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongreß der »Sankt Thomas«-Gesellschaft (4. Januar 1986): Insegnamenti IX, 1 (1986), 18-24. Ferner: Hl. Kongregation für die Katholische Erziehung, Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis (6. Januar 1970), 70-75: AAS 62 (1970), 366-368; Dekret Sacra Theologia (20. Januar 1972): AAS 64 (1972), 583-586.



85 Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 57; 62.



86 Vgl. ebd., 44.



87 Vgl. V. Laterankonzil, Bulle Apostolici regimini sollicitudo, sessio VIII: Conc. Oecum. Decreta, 1991, 605-606.






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