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Ioannes Paulus PP. II
Veritatis splendor

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IV. Die sittliche Handlung

Teleologie und Teleologismus

71. Die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes, die ihren tiefsten und lebendigen Sitz im sittlichen Gewissen hat, äußert und verwirklicht sich in den menschlichen Handlungen. Gerade durch seine Handlungen vervollkommnet sich der Mensch als Mensch, als Mensch, der berufen ist, aus eigenem Entschluß seinen Schöpfer zu suchen und in Zugehörigkeit zu ihm frei zur vollen und seligen Vollendung zu gelangen.

Menschliche Handlungen sind sittliche Handlungen, weil sie das Gutsein oder die Schlechtigkeit des jene Handlungen vollziehenden Menschen selbst ausdrücken und über sie entscheiden. Sie rufen nicht nur Veränderungen in dem Menschen äußerlichen Sachverhalten hervor, sondern als freie Wahlakte qualifizieren sie in sittlicher Hinsicht die Person selbst, die sie vollzieht, und bestimmen ihr geistiges Tiefenprofil, wie der hl. Gregor von Nyssa eindrucksvoll feststellt: »Alle dem Werden unterworfenen Wesen bleiben niemals sich selbst identisch, sondern gehen durch eine dauernd wirkende Veränderung zum Guten oder zum Schlechten ständig von einem Zustand in einen anderen über... Der Veränderung unterworfen sein, heißt also unablässig geboren werden... Aber die Geburt erfolgt hier nicht durch einen äußeren Eingriff, wie es bei den leiblichen Wesen der Fall ist... Sie ist das Ergebnis freier Wahl, und so sind wir gewissermaßen unsere eigenen Erzeuger, indem wir uns so erschaffen, wie wir wollen, und uns mit unserer Wahl die Gestalt geben, die wir wollen«.

72. Die Sittlichkeit der Handlungen bestimmt sich aufgrund der Beziehung der Freiheit des Menschen zum wahrhaft Guten. Dieses Gute ist als ewiges Gesetz durch Gottes Weisheit begründet, die jedes Wesen auf sein Endziel hinordnet: Erkannt wird dieses ewige Gesetz sowohl durch die natürliche Vernunft des Menschen (so heißt es »Naturgesetz«) als auch - in vollumfänglicher und vollkommener Weise - durch die übernatürliche Offenbarung Gottes (dann nennt man es »göttliches Gesetz«). Das Handeln ist sittlich gut, wenn die der Freiheit entspringenden Wahlakte mit dem wahren Gut des Menschen übereinstimmen und damit Ausdruck der willentlichen Hinordnung der Person auf ihr letztes Ziel, also Gott selber, sind: Das höchste Gut, in dem der Mensch sein volles und vollkommenes Glück findet. Die Eingangsfrage in dem Gespräch des jungen Mannes mit Jesus: »Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« (Mt 19, 16), verdeutlicht in direkter Weise den wesenhaften Zusammenhang zwischen dem sittlichen Wert einer Handlung und dem letzten Ziel des Menschen. Jesus bestätigt in seiner Antwort die Überzeugung seines Gesprächspartners: Das Tun des Guten, wie es von dem geboten ist, der »Wein der Gute« ist, stellt die unerläßliche Voraussetzung und den Weg zur ewigen Seligkeit dar: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19, 17). Die Antwort Jesu und der Hinweis auf die Gebote machen auch offenkundig, daß der Weg zum Ziel von der Befolgung der göttlichen Gesetze, die das menschliche Wohl schützen, vorgezeichnet wird. Nur eine Handlung, die dem Guten entspricht, kann Weg zum Leben sein.

Die vernunftgeleitete Hinordnung der menschlichen Handlungen auf das wahrhaft Gute und das willentliche Streben nach diesem Gut machen die Sittlichkeit aus. Das menschliche Handeln kann also nicht allein deshalb als sittlich gut bewertet werden, weil es dazu dienlich ist, dieses oder jenes verfolgte Ziel zu erreichen, oder einfach weil die Absicht des Handelnden gut ist. Das menschliche Handeln ist dann sittlich gut, wenn es die willentliche Hinordnung der menschlichen Person auf das letzte Ziel und die Übereinstimmung der konkreten Handlung mit dem wahren menschlichen Gut, wie es von der Vernunft in seiner Wahrheit erkannt wird, bestätigt und zum Ausdruck bringt. Wenn der Gegenstand der konkreten Handlung nicht mit dem wahren Gut der Person in Einklang steht, macht die Wahl dieser Handlung unseren Willen und uns selber sittlich schlecht und setzt uns damit in Gegensatz zu unserem letzten Ziel, dem höchsten Gut, das heißt Gott selber.

73. Dank der Offenbarung Gottes und des Glaubens weiß der Christ um das »Neue«, von dem die Sittlichkeit seiner Taten gekennzeichnet ist; diesen kommt es zu, bestehender oder nicht bestehender konsequenter Übereinstimmung mit jener Würde und Berufung Ausdruck zu geben, die ihm durch Gnade geschenkt worden sind: In Jesus Christus und seinem Geist ist der Christ eine »neue Schöpfung«, Kind Gottes, und durch seine Handlungen bekundet er seine Übereinstimmung mit oder seine Abweichung von dem Bild des Sohnes, der der Erstgeborene unter vielen Brüdern ist (vgl. Röm 8, 29), lebt er seine Treue oder Untreue gegenüber dem Geschenk des Geistes und öffnet oder verschließt er sich dem ewigen Leben, der Gemeinschaft von Schau, Liebe und Seligkeit mit Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. Christus »gestaltet uns so nach seinem Bild - schreibt der hl. Kyrillos von Alexandrien -, daß durch die Heiligung und die Gerechtigkeit und das gute und tugendmäßige Leben die Züge seiner göttlichen Natur in uns zum Leuchten kommen... Die Schönheit dieses Bildes erstrahlt in uns, die wir in Christus sind, wenn wir uns in den Werken als gute Menschen erweisen«.

In diesem Sinne besitzt das sittliche Leben einen wesenhaft »teleologischen« Charakter, weil es in der freien und bewußten Hinordnung des menschlichen Handelns auf Gott, das höchste Gut und letzte Ziel (telos) des Menschen, besteht. Das bestätigt wiederum die Frage des jungen Mannes an Jesus: »Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« Aber diese Hinordnung auf das letzte Ziel bewegt sich nicht in einer bloß subjektivistischen Dimension, die nur von der Absicht abhinge. Sie setzt voraus, daß diesen Handlungsweisen von sich aus die Eigenschaft zukommt, auf dieses Ziel hingeordnet werden zu können, weil sie nämlich dem durch die Gebote geschützten wahren sittlichen Gut des Menschen entsprechen. Genau das spricht Jesus in der Antwort an den reichen Jüngling an: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19, 17).

Offensichtlich geht es um eine vernunftgeleitete und freie, bewußte und überlegte Hinordnung, kraft welcher der Mensch für seine Handlungen »verantwortlich« und dem Urteil Gottes unterworfen ist, des gerechten und guten Richters, der das Gute belohnt und das Böse bestraft, wie der Apostel Paulus ausführt: »Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat« (2 Kor 5, 10).

74. Aber wovon hängt die moralische Bewertung des freien Handelns des Menschen ab? Wodurch wird diese Hinordnung der menschlichen Handlungen auf Gott sichergestellt? Von der Intention des handelnden Subjektes, von den Umständen - und insbesondere von den Folgen - seines Handelns, vom Objekt seines Handelns selbt?

Das ist das, traditonellerweise sogenannte, Problem der »Quellen der Moralität«. Und gerade im Hinblick auf dieses Problem haben sich in den letzten Jahrzehnten neue - oder wieder erneuerte - kulturelle und theologische Strömungen offenbart, die eine sorgfältige Klärung von seiten des Lehramtes der Kirche erfordern.

Einige als »teleologisch« bezeichnete ethische Theorien richten ihre Aufmerksamkeit auf die Übereinstimmung der menschlichen Handlungen mit den vom Handelnden verfolgten Zielen und mit den von ihm zu realisieren beabsichtigten Werten. Die Kriterien zur moralischen Beurteilung einer Handlung werden aus der Abwägung der zu erlangenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Güter und der entsprechenden zu respektierenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Werte gewonnen. Für manche wäre das konkrete Verhalten richtig bzw. falsch je nachdem, ob es für alle betroffenen Personen einen besseren Zustand hervorzubringen vermag oder nicht: Richtig wäre das Verhalten, das imstande ist, die Güter zu »maximieren« und die Übel zu »minimieren«.

Viele der katholischen Moraltheologen, die dieser Auffassung folgen, möchten nichts mit Utilitarismus und Pragmatismus zu tun haben, bei denen die Sittlichkeit der menschlichen Handlungen ohne Bezugnahme auf das letzte wahre Ziel des Menschen beurteilt werde. Zu Recht sind sie sich der Notwendigkeit bewußt, für die Vernunft einsichtige, immer stichhaltigere Argumente zu finden, um die Anforderungen des sittlichen Lebens zu rechtfertigen und die entsprechenden sittlichen Normen zu begründen. Und dieses Forschen ist gerade insofern legitim und notwendig, als ja die im Naturgesetz festgelegte sittliche Ordnung menschlicher Vernunfterkenntnis grundsätzlich zugänglich ist. Dieses Suchen entspricht im übrigen den Erfordernissen des Dialogs und der Zusammenarbeit mit den Nicht-Katholiken und den Nicht-Glaubenden, besonders in pluralistischen Gesellschaften.

75. Aber im Rahmen des Bemühens um die Erarbeitung einer solchen vernunftgemäßen Moral - deshalb manchmal auch »autonome Moral« genannt - gibt es falsche Lösungen, die insbesondere mit einem unzulänglichen Verständnis dessen zusammenhängt, was man das »Objekt« des sittlichen Handelns nennt. Einige schenken der Tatsache nicht genügend Beachtung, daß der Wille in die konkreten Wahlakte, die er vollzieht, miteinbezogen ist: diese sind Voraussetzung für sein sittliches Gutsein und für seine Hinordnung auf das letzte Ziel der Person. Andere hingegen inspirieren sich an einer Konzeption der Freiheit, die von den tatsächlichen Bedingungen ihrer Ausübung, von ihrem objektiven Bezug zur Wahrheit des Guten, von ihrer Bestimmung durch die Wahl konkreter Verhaltensweisen absieht. Nach diesen Theorien wäre also der freie Wille weder bestimmten Verpflichtungen sittlich unterworfen, noch würde er durch seine Wahlakte geformt, auch wenn er für seine Handlungen und deren Folgen verantwortlich bleibt. Dieser »Teleologimus«, als Methode der Entdeckung der moralischen Norm, kann also - entsprechend den aus verschiedenen Denkströmungen entnommenen Terminologien und Geisteshaltungen - als »Konsequentialismus« oder »Proportionalismus« bezeichnet werden. Ersterer beansprucht die Kriterien für die Richtigkeit eines bestimmten Handelns, die lediglich aus den voraussehbaren Folgen einer getroffenen Wahl hervorgehen. Der zweite - unter Abwägen zwischen den Werten und den verfolgten Gütern - orientiert sich eher an der anerkannten Verhältnismäßigkeit bezüglich der guten und bösen Auswirkungen hinsichtlich des »höheren Gutes« oder des »kleineren Übels«, die in einer besonderen Situation wirklich möglich sind.

Die teleologischen Ethiken (Proportionalismus, Konsequentialismus) anerkennen zwar, daß die sittlichen Werte durch Vernunft und Offenbarung aufgezeigt werden; dennoch halten sie daran fest, daß sich bezüglich konkret bestimmbarer Verhaltensweisen, die unter allen Umständen und in allen Kulturen zu diesen sittlichen Werten in Widerspruch stünden, niemals eine absolute Verbotsnorm formulieren lasse. Das handelnde Subjekt wäre selbstverständlich für die Erlangung der verfolgten Werte verantwortlich, dies jedoch in zweifacher Hinsicht: Die durch eine menschliche Handlung betroffenen Werte oder Güter wären einerseits moralischer Art (bezogen auf eigentlich sittliche Werte wie Gottesliebe, Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen, Gerechtigkeit usw.) und, in anderer Hinsicht, vor-moralischer Art, eine Ebene, die auch nichtsittlich, physisch oder ontisch genannt wird (bezogen auf Nutzen und Schaden, die sowohl dem Handelnden als auch anderen, früher oder später involvierten Personen erwachsen, wie zum Beispiel: Gesundheit bzw. ihre Beeinträchtigung, physische Unversehrtheit, Leben, Tod, der Verlust materieller Güter usw.). In einer Welt, in der das Gute immer mit dem Übel vermischt und jede gute Wirkung mit anderen schlechten Auswirkungen verbunden wäre, müßte man die Sittlichkeit der Handlung in differenzierter Weise beurteilen: ihr sittliches »Gutsein« aufgrund der sich auf sittliche Güter beziehenden Absicht des Subjektes, ihre »Richtigkeit« aufgrund ihrer vorhersehbaren Wirkungen oder Folgen und deren Verhältnis zueinander. Konkrete Verhaltensweisen müßten daher als »richtig« bzw. »falsch« bewertet werden, ohne daß es deshalb schon möglich wäre, den Willen der Person, der sie wählt, als sittlich »gut« oder »schlecht« zu bezeichnen. Auf diese Weise könnte eine Handlung, die, im Widerspruch zu einer universellen Verbotsnorm, als vor-moralisch bezeichnete Güter direkt verletzt, als sittlich zulässig bewertet werden, falls sich die Absicht des Subjektes, gemäß »verantwortlicher« Abwägung der bei der konkreten Handlung auf dem Spiel stehenden Güter, auf den in der gegebenen Situation für entscheidend gehaltenen sittlichen Wert richtet.

Die Bewertung der Folgen der Handlung aufgrund der Verhältnismäßigkeit des Aktes bezüglich seiner Auswirkungen und der Auswirkungen untereinander würde lediglich die vor-moralische Ordnung betreffen. Über die sittliche Artbestimmtheit der Handlungen, d.h. über ihre Güte oder Schlechtigkeit, würde allein die Treue der Person zu den höchsten Werten der Liebe und Klugkeit entscheiden, ohne daß solche Treue notwendigerweise mit Entscheidungen unvereinbar wäre, die bestimmten sittlichen Einzelverboten widersprechen. Auch im Falle schwerwiegender Materie müßten diese letzteren als stets relative und Ausnahmen unterliegende Handlungsnormen angesehen werden.

Gemäß dieser Sichtweise würde dann die bewußte Einwilligung in bestimmte Verhaltensweisen, die in der traditionellen Moral als unerlaubt gelten, auch nichts objektiv sittlich Schlechtes einschließen.




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