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Ioannes Paulus PP. II
Veritatis splendor

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Die allgemeinen und unveränderlichen sittlichen Normen im Dienst der menschlichen Person und der Gesellschaft

95. Die Lehre der Kirche und insbesondere ihre Festigkeit in der Verteidigung der universalen und dauernden Geltung der sittlichen Gebote, die die in sich schlechten Handlungen verbieten, werden nicht selten als Zeichen einer unerträglichen Unnachgiebigkeit kritisiert, vor allem angesichts enorm komplexer und konfliktanfälliger Situationen des heutigen Lebens des einzelnen und der Gesellschaft: eine Unnachgiebigkeit, die zu einem mütterlichen Empfinden der Kirche im Widerspruch stünde. Diese lasse es, so sagt man, an Verständnis und Barmherzigkeit fehlen. Aber in Wahrheit kann die Mütterlichkeit der Kirche niemals von ihrem Sendungsauftrag als Lehrerin abgetrennt werden, den sie als treue Braut Christi, der die Wahrheit in Person ist, immer ausführen muß: »Als Lehrerin wird sie nicht müde, die sittliche Norm zu verkünden ... Diese Norm ist nicht von der Kirche geschaffen und nicht ihrem Gutdünken überlassen. In Gehorsam gegen die Wahrheit, die Christus ist, dessen Bild sich in der Natur und der Würde der menschlichen Person spiegelt, interpretiert die Kirche die sittliche Norm und legt sie allen Menschen guten Willens vor, ohne ihren Anspruch auf Radikalität und Vollkommenheit zu verbergen«.

Wahrhaftes Verständnis und echte Barmherzigkeit bedeuten in Wirklichkeit Liebe zur menschlichen Person, zu ihrem wahren Wohl, zu ihrer authentischen Freiheit. Und dies kommt gewiß nicht dadurch zustande, daß man die sittliche Wahrheit verbirgt oder abschwächt, sondern indem man sie in ihrer tiefen Bedeutung als Ausstrahlung der ewigen Weisheit Gottes, die uns in Christus erreicht, und als Dienst am Menschen, am Wachstum seiner Freiheit und an der Erreichung seiner Seligkeit darlegt.

Ebenso kann die klare und kraftvolle Darstellung der sittlichen Wahrheit niemals von einem tiefen und aufrichtigen, von geduldiger und vertrauensvoller Liebe geprägten Respekt absehen, dessen der Mensch auf seinem moralischen Weg bedarf, welcher sich oft wegen Schwierigkeiten, Schwäche und schmerzhafter Situationen als mühsam erweist. Die Kirche kann niemals von dem »Grundsatz der Wahrheit und der Folgerichtigkeit« absehen, aufgrund dessen sie »es nicht duldet, gut zu nennen, was böse ist, und böse, was gut ist«. Paul VI. hat geschrieben: »Es ist eine hervorragende Form der Liebe zu den unsterblichen Seelen, wenn man in keiner Weise Abstriche von der heilsamen Lehre Christi macht. Dies jedoch muß immer von Geduld und Liebe begleitet sein, für die der Herr selbst in seinem Umgang mit den Menschen ein Beispiel gegeben hat. Er ist gekommen, nicht um zu richten, sondern um zu retten (vgl. Joh 3, 17); ganz sicher war er unversöhnlich mit der Sünde, aber er war barmherzig mit dem Sünder«.

96. Die Festigkeit der Kirche bei der Verteidigung der universalen und unveränderlichen sittlichen Normen hat nichts Unterdrückendes an sich. Sie dient einzig und allein der wahren Freiheit des Menschen: Da es außerhalb der Wahrheit oder gegen sie keine Freiheit gibt, muß die kategorische, das heißt unnachgiebige und kompromißlose Verteidigung des absolut unverzichtbaren Erfordernisses der personalen Würde des Menschen Weg und sogar Existenzbedingung für die Freiheit genannt werden.

Dieser Dienst wendet sich an jeden Menschen, insofern er in der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit seines Seins und seiner Existenz gesehen wird. Nur im Gehorsam gegenüber den universalen sittlichen Normen findet der Mensch eine volle Bestätigung der Einzigartigkeit seiner Person und die Möglichkeit wirklichen sittlichen Wachstums. Und eben darum wendet sich dieser Dienst an alle Menschen: nicht nur an die einzelnen, sondern auch an die Gemeinschaft, an die Gesellschaft als solche. Diese Normen bilden in der Tat das unerschütterliche Fundament und die zuverlässige Gewähr für ein gerechtes und friedliches menschliches Zusammenleben und damit für eine echte Demokratie, die nur auf der Gleichheit aller ihrer, in den Rechten und Pflichten vereinten Mitglieder entstehen und wachsen kann. Im Hinblick auf die sittlichen Normen, die das in sich Schlechte verbieten, gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, »Elendeste« auf Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut gleich.

97. So erschließen die sittlichen Normen, und an erster Stelle jene negativen, die das Tun des Schlechten verbieten, ihre Bedeutung und ihre zugleich personale und soziale Kraft: indem sie die unverletzliche Personwürde jedes Menschen schützen, dienen sie der Erhaltung des menschlichen Sozialgefüges und seiner richtigen und fruchtbaren Entwicklung. Besonders die Gebote der zweiten Tafel des Dekalogs, an die auch Jesus den jungen Mann im Evangelium erinnert (vgl. Mt 19, 18), stellen die Grundregeln jedes gesellschaftlichen Lebens dar.

Diese Gebote werden in allgemeinen Worten formuliert. Aber die Tatsache, daß »Anfang, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen die menschliche Person ist und auch sein muß«, gestattet und ermöglicht ihre Präzisierung und Erläuterung in einem ausführlicheren Verhaltenskodex. In diesem Sinne sind die sittlichen Grundregeln des gesellschaftlichen Lebens mit bestimmten Forderungen verbunden, die sowohl die öffentlichen Gewalten wie die Bürger befolgen müssen. Ungeachtet der manchmal guten Absichten und der oft schwierigen Umstände sind die staatlichen Amtsträger und die einzelnen Individuen niemals befugt, die unveräußerlichen Grundrechte der menschlichen Person zu verletzen. Nur eine Moral, die Normen anerkennt, die immer und für alle ohne Ausnahme gelten, kann darum das ethische Fundament für das gesellschaftliche Zusammenleben sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene gewährleisten.




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