DIE GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG
4. Die Gesellschaft befindet sich in ständiger
Entwicklung, und die Ordensleute, die nicht von der Welt sind, aber dennoch in
ihr leben, werden davon beeinflußt.
Wir erinnern hier lediglich an einige Aspekte, die einen unmittelbareren
Einfluß auf das Ordensleben ganz allgemein, in besonderer Weise jedoch auf die
Ordensgemeinschaften ausgeübt haben.
a) Die politischen und sozialen Emanzipationsbewegungen in der
Dritten Welt und das Anwachsen der Industrialisierung führten in den letzten
Jahrzehnten zu großen sozialen Veränderungen, zu einer besonderen
Sensibilisierung für die "Entwicklung der Völker" und für die
Situationen der Armut und des Elends. Angesichts dieser Entwicklung haben die
Ortskirchen mit großer Lebhaftigkeit reagiert.
Besonders in Lateinamerika wurde durch die Generalversammlungen der
dortigen Bischöfe in Medellin, Puebla und Santo Domingo, die
"evangeliumsgemäßen und vorrangigen Option für die Armen"(18)
in den Vordergrund gerrückt, mit einer nachträglichen Verschiebung des Akzentes
auf den sozialen Einsatz.
Die Ordensgemeinschaften wurden davon sehr stark betroffen, und viele
von ihnen begannen, die Bedingungen für ihre Präsenz in der Gesellschaft in
Richtung auf einen unmittelbareren Dienst an den Armen neu zu überdenken, bis
hin zur Eingliederung (inserimento) unter ihnen.
Das beeindruckende Anwachsen des Elends am Rande der Großstädte und die
Verarmung der Landbevölkerung beschleunigten in nicht wenigen
Ordensgesellschaften den Prozeß des "Umzugs" in solche Gebiete des
armen Volkes.
Überall stellt sich das Problem der Inkulturation. Die Kulturen, die
Traditionen, die Mentalität eines Landes, sie alle prägen die Gestalt des
brüderlichen Lebens in den Ordensgemeinschaften.
Dazu kommt, daß die jüngsten, weiträumigen Wanderungsbewegungen das Problem
des Zusammenlebens verschiedener Kulturen stellen, sowie jenes der
rassenfeindlichen Reaktionen. Dies alles ist auch in den immer zahlreicher
werdenden, kulturell und rassisch gemischten Ordensgemeinschaften spürbar.
b) Die Forderung nach persönlicher Freiheit und nach den
Menschenrechten stand am Anfang eines umfassenden
Demokratisierungsprozesses, der die wirtschaftliche Entwicklung und das
Wachstum der zivilen Gesellschaft gefördert hat.
Unmittelbar nach dem Konzil hat dieser Prozeß - vor allem im Westen -
eine Beschleunigung erfahren, die zuweilen von Versammlungssucht und von
antiautoritären Verhaltensmustern geprägt war.
Vor der Infragestellung der Autorität blieben auch die Kirche und das
Ordensleben nicht verschont, was deutliche Auswirkungen auch auf das gemeinsame
Leben hatte.
Die einseitige und überzogene Betonung der Freiheit hat im Westen zur
Verbreitung einer Kultur des Individualismus beigetragen und die Ideale des
Gemeinschaftslebens und des Einsatzes für gemeinschaftliche Vorhaben geschwächt.
Auch andere, ebenso einseitige Reaktionen sind hier zu nennen, wie z.B.
die auf blindes Vertrauen in eine beruhigende Führung gründende Flucht in
sichere Autoritäts-Strukturen.
c) Die Stärkung der Rolle der Frau - nach Papst Johannes XXIII.
eines der Zeichen der Zeit - hat im Leben der christlichen Gemeinschaften in
verschiedenen Ländern kein geringes Echo gefunden.(19) Selbst wenn in
einigen Gegenden der Einfluß extremistischer Strömungen des Feminismus das
Ordensleben tief berührt, so sind die weiblichen Ordensgemeinschaften doch fast
überall auf der positiven Suche nach Formen des Gemeinschaftslebens, von denen
man annimmt, daß sie einem erneuerten Bewußtsein von der Identität, der Würde
und der Rolle der Frau in Gesellschaft, Kirche und Ordensleben mehr
entsprechen.
d) Die Explosion der Kommunikationsmittel hat seit den
60er-Jahren beachtlich, zuweilen geradezu dramatisch, den allgemeinen
Informationsstand, das soziale und apostolische Verantwortungsbewußtsein, die
apostolische Beweglichkeit und die Qualität der Beziehungen innerhalb der
Gemeinschaft beeinflußt, ganz zu schweigen vom konkreten Lebensstil und vom
Klima der Sammlung, die eine Ordensgemeinschaft kennzeichnen sollten.
e) Der Konsumismus und Hedonismus, verbunden mit einer Schwächung
des Glaubens, die dem Säkularismus eigen ist, blieb in vielen Gegenden nicht
ohne Einfluß auf die Ordensgemeinschaften und hat bei einzelnen von ihnen die
Fähigkeit, "dem Bösen zu widerstehen", auf eine harte Probe gestellt,
andererseits aber doch auch zu neuen, persönlichen und gemeinschaftlichen
Lebensstilen geführt, die ein unverfälschtes evangelisches Zeugnis für unsere
Welt darstellen.
Dies alles ist eine Herausforderung und ein Anruf, mit verstärkter
Willenskraft die evangelischen Räte zu leben, und dies auch, um die gesamte
christliche Gemeinschaft in ihrem Zeugnis zu bestärken.
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