Mit den vorausgegangenen Worten habe
ich die verschiedenen, bis zum Jahre 1976 erschienenen Ausgaben von Revolution
und Gegenrevolution abgeschlossen. Wer nun diese Worte in der neuen jetzt im
Jahre 1992 herausgekommenen Ausgabe liest, wird sich wohl oder übel fragen, was
denn nun aus dem revolutionären Prozeß geworden ist. Kann man noch von der III.
Revolution sprechen? Oder dürfen wir seit dem Fall des Sowjetreiches behaupten,
daß die IV. Revolution in den Tiefen der politischen Wirklichkeit Osteuropas
bereits den Ausbruch vorbereitet oder sogar schon siegreich ist?
Hier sind Unterscheidungen vonnöten.
In unseren Tagen haben sich die Vorkämpfer der IV. Revolution unter den
verschiedensten Formen über die ganze Welt ausgebreitet und zeigen fast überall
eine deutliche Wachstumstendenz.
In diesem Sinne entwickelt sich die
IV. Revolution zwar in einem vielversprechenden Crescendo für die, die sie
herbeiwünschen, denen aber, die gegen sie ankämpfen, muß dies bedrohlich
erscheinen. Es wäre natürlich übertrieben, wollte man behaupten, daß die Dinge
heute in der früheren UdSSR schon völlig nach dem Bilde der IV Revolution
geprägt seien und daß da keine Spur mehr von der III. Revolution übriggeblieben
sei.
Wenn die N. Revolution auch
politische Aspekte trägt, so handelt es sich doch um eine Revolution, die sich
selbst als „kulturell" begreift, d.h. grob gesagt alle Aspekte des
menschlichen Daseins umfaßt. Die politischen Konflikte, zu denen es eventuell
zwischen den Nationen, die einst UdSSR bildeten, kommt, können die IV.
Revolution stark beeinflussen. Sie werden jedoch kaum die Ereignisse, d.h.
alles menschliche Handeln, das die „Kulturrevolution" ausmacht, nachhaltig
beherrschen.
Und wie steht es um die öffentliche
Meinung in diesen Ländern, die bis gestern noch sowjetisch waren (und zu einem
guten Teil noch heute von früheren Kommunisten regiert werden)? Hat sie nichts
dazu zu sagen? Schließlich hat sie nach Revolution und Gegenrevolution bei den
vorausgegangenen Revolutionen eine entscheidende Rolle gespielt.
Die Antwort auf diese Frage ergibt
sich aus weiteren Fragen: Gibt es in diesen Ländern denn überhaupt eine
öffentliche Meinung? Kann die Öffentlichkeit für einen systematischen
revolutionären Prozeß eingesetzt werden? Sollte dies nicht der Fall sein, wie
sehen dann die Pläne der höchsten nationalen und internationalen
Kommunistenführer im Hinblick auf die Richtung aus, die dieser öffentlichen
Meinung zu geben ist?
Diese Fragen sind nicht leicht zu
beantworten, denn in diesem Moment erscheint die öffentliche Meinung in den
früheren Sowjetstaaten natürlich äußerst schlaff, amorph, wie gelähmt unter der
Last einer 70jährigen totalen Diktatur, wo sich der einzelne in vielen
Situationen fürchten mußte, seinen nächsten Verwandten oder seinem engsten
Freund die eigene religiöse oder politische Meinung mitzuteilen, denn eine
heimliche oder offene, wahrheitsgetreue oder verleumderische Anzeige war
wahrscheinlich und konnte zu endloser Zwangsarbeit in den eisigen Steppen
Sibiriens führen. Auf jeden Fall aber muß auf diese Fragen eine Antwort
gefunden werden, bevor wir zur Erstellung von Prognosen über den zukünftigen
Verlauf der Dinge im früheren Sowjetlager übergehen.
Hinzu kommt noch, wie ich bereits
erwähnt habe, daß die internationalen Medien weiterhin von einer möglichen
Zuwanderung hungriger, halbzivilisierter (was soviel heißt wie halb
barbarischer) Horden in die reichen europäischen Länder reden, in denen die
westliche Konsumgesellschaft vorherrschend ist.
Arme Menschen voller Hunger und ohne
Ideen würden demnach auf eine freie Welt stoßen, die sie nicht verstehen würden
- eine Welt, die man unter gewissen Gesichtspunkten als höchst zivilisiert
bezeichnen könnte, unter anderen aber als krank.
Welche Folgen würde aber dieser
Zusammenstoß sowohl für das überlaufene Europa selbst als auch reflektorisch
für die frühere sowjetische Welt mit sich bringen? Etwa eine
kooperativistische, struktural-tribalistische Revolution zur Selbstverwaltung
1, oder gleich eine Welt totaler Anarchie, des Chaos und des
Schreckens, die wir ohne weiteres als V. Revolution bezeichnen würden?
Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser
Ausgabe ist eine Antwort auf diese Fragen noch verfrüht. Die Zukunft zeigt sich
jedoch derart unvorhersehbar, daß es morgen vielleicht schon zu spät sein wird
für eine Antwort. Worin bestände denn in einer Stammeswelt, in der alle Orkane
ungezügelter menschlicher Leidenschaften und der Rausch
struktural-tribalistischer „Mystizismen" losgelassen wären, noch die
Nützlichkeit der Bücher, der Denker und der letzten Überreste unserer
Zivilisation? Es wäre eine tragische Situation, in der unter der Herrschaft des
„Nichts" keiner mehr etwas wäre ...
Gorbatschow befindet sich weiterhin
in Moskau. Und er wird dort wenigstens so lange bleiben, bis er beschließt,
eine jener äußerst werbewirksamen Einladungen anzunehmen, die ihm die Rektoren
so geachteter Hochschulen wie Harvard, Stanford und Boston nach seinem Sturz
übereilt zugehen ließen 2.
Wenn er diesen nicht die königliche
Gastfreundschaft vorzieht, die ihm Juan Carlos I. von Spanien in dem berühmten Palast
Lanzarote auf den Kanarischen Inseln angeboten hat 3, oder den Ruf an
einen Lehrstuhl des Collège de France 4.
Angesichts dieser Alternativen
scheint der im Osten unterlegene frühere Kommunistenführer nun die Qual der
Wahl zwischen den schmeichelhaftesten Einladungen des Westens zu haben. Bisher
hat er sich lediglich dazu durchgerungen, eine Artikelserie für eine Reihe von
Zeitungen der kapitalistischen Welt zu schreiben, in der er in den höheren
Sphären eine ebenso nachhaltige wie unerklärliche Unterstützung findet, und
eine mit viel Rummel umgebene Reise in die USA zu machen, um dort Gelder für
die sogenannte GorbatschowStiftung aufzutreiben.
Während also Gorbatschow in seinem
eigenen Land halb im Schatten steht und sogar im Westen seine Rolle ernsthaft
in Frage gestellt wird, bemühen sich westliche Magnaten auf vielerlei Weise
darum, die Scheinwerfer einer schmeichelhaften Publizität auf den Mann der
Perestroika gerichtet zu halten, der schließlich im Laufe seiner politischen
Laufbahn immer wieder hervorgehoben hat, daß die von ihm vorgeschlagene Reform
nicht im Widerspruch zum Kommunismus steht, sondern diesen erst verschärft 5.
Die lockere Sowjetföderation, die
bereits im Sterben lag, als Gorbatschow von der Macht gestürzt wurde, hat sich
letztlich in eine fast imaginäre „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten"
verwandelt, unter deren Mitgliedern es zu immer ernsthafteren Reibereien kommt,
die unsere Staatsmänner und politischen Kommentatoren mit Sorgen erfüllen.
Zumal mehrere dieser Republiken oder Zwergrepubliken über Atomwaffen verfügen,
die sie gegeneinander (oder gegen ihre islamischen Feinde, deren Einfluß im
früheren Sowjetreich von Tag zu Tag zunimmt) einsetzen können, sehr zum Leidwesen
all derer, die sich um das planetare Gleichgewicht sorgen.
Die Folgen derartiger atomarer
Angriffe können verschiedenster Natur sein. Es kann zum Beispiel zu einem
Exodus der hinter dem früheren Eisernen Vorhang zurückgehaltenen Bevölkerung
kommen; unter dem Druck strenger Winter und den Gefahren ungeheurer
Katastrophen können sie noch nachdrücklicher als bisher um Aufnahme in
Westeuropa wie auch in den Ländern des amerikanischen Kontinents „bitten".
In Brasilien hat denn auch der
Gouverneur von Rio de Janeiro, Leonel Brizola, unter dem Beifall des
brasilianischen Landwirtschaftsministeriums bereits vorgeschlagen, im Rahmen
der offiziellen Agrarreformprogramme Landarbeiter aus Osteuropa anzulocken
6.
Daraufhin hat sich auch der
argentinische Staatspräsident, Carlos Menem, der Europäischen Gemeinschaft
gegenüber bereit erklärt, Tausende dieser Aussiedler in seinem Land aufzunehmen
7.
Kurz darauf hat auch die
Außenministerin Kolumbiens, Nohemí Sanfn, bekannt gemacht, daß die Regierung
ihres Landes die Aufnahme von Technikern aus dem Osten erwägt 8.
So weit können die Invasionswellen
tragen!
Und der Kommunismus? Was ist aus ihm
geworden? Die Öffentlichkeit des Westens, begeistert von der Aussicht auf einen
Weltfrieden von unabsehbarer, vielleicht sogar ewiger Dauer, begrüßt
erleichtert das Verschwinden des schrecklichen Gespenstes einer
Nuklearhekatombe, die die ganze Welt bedrohte, und ist fest davon überzeugt,
daß er tot ist.
Diese „Flitterwochen" des
Westens mit seinem vermeintlichen Paradies der Aufheiterung und des Friedens
verlieren jedoch nach und nach ihren Glanz.
Weiter oben haben wir die Angriffe
jeder Art erwähnt, die wie ein Wetterleuchten den Himmel der früheren UdSSR
erhellen. Da müssen wir uns nun fragen, ob der Kommunismus denn wirklich tot
ist. Anfänglich hörte man nur selten vereinzelte Stimmen, die den Tod des
Kommunismus in Zweifel zogen, und ihre Begründungen schienen eher
fadenscheinig.
Langsam tauchten jedoch von allen
Seiten immer mehr Schatten am Horizont auf. Man sah, daß in Mitteleuropa, auf
dem Balkan und selbst in der früheren UdSSR die Macht weiterhin in den Händen
wichtiger Persönlichkeiten der lokalen Kommunistischen Parteien lag. Wenn wir
einmal von der früheren DDR absehen, werden die Privatisierungen in den meisten
Fällen ziellos im Schneckentempo eher vorgetäuscht als tatsächlich
durchgeführt.
Kann man da sagen, daß der
Kommunismus in diesen Ländern wirklich tot ist? Befindet er sich vielleicht
nicht einfach in einem komplizierten Prozeß der Metamorphose? So kommen immer
mehr Zweifel auf, während der letzte Widerhall universeller Freude über den
angeblichen Fall des Kommunismus unmerklich verklingt.
Was die Kommunistischen Parteien des
Westens angeht, sind sie mit den ersten Anzeichen der Niederlage in der UdSSR
zusehends geschrumpft. Einige von ihnen beginnen sich jedoch unter neuen
Bezeichnungen schon wieder zu reorganisieren. Bedeutet die Änderung des
Etiketts ein Wiedererstehen? Eine Metamorphose? Ich glaube eher an die zweite
Möglichkeit. Aber erst die Zukunft wird uns hier wirklich sichere Antworten
geben können.
Diese Aktualisierung der allgemeinen
Lage, der sich die ganze Welt heute stellen muß, schien mir notwendig im Sinne
eines Versuches, ein wenig Klarheit und Ordnung in ein Bild zu bringen, das
sich vor allem durch die fortschreitende Zunahme des Chaos auszeichnet. Das
Chaos aber tendiert spontan zur unvorhersehbaren Verschärfung seiner selbst.
* * *
In diesem Chaos wird nur eines
unverändert bleiben: Das weiter oben zitierte Gebet in meinem Herzen und auf
meinen Lippen, bei dem mich auch all die begleiten, die die Dinge wie ich sehen
und verstehen: „Ad te levavi oculos meos, qui habitas in Coelis. Ecce sicut oculi servorum in manibus dominorum
suorum, sicut oculi ancillae in manibus dominae suae; ita oculi nostri ad
Dominam Matrem nostram donec misereatur nostri" 9.
Es ist dies das beständige Vertrauen
der niederknienden katholischen Seele, die stark bleibt inmitten der ringsum
sich ereignenden Umwälzungen.
Es ist die Stärke jener, die mitten im
Sturm zeigen, daß ihre Seele mehr Kraft hat als dieser, und nicht aufhören, aus
tiefstem Herzen zu bekennen: „ Credo in Unam, Sanctam, Catholicam et
Apostolicam Ecclesiam ", das heißt, ich glaube an die Heilige,
Katholische, Apostolische, Römische Kirche, gegen die nach dem Versprechen, das
einst Petrus gemacht wurde, die Pforten der Hölle niemals siegen werden.
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